C.H.Beck Paperback, Verlag C.H.Beck, 1., durchgesehene Auflage in C.H.Beck Paperback 2020, ISBN 978-3-406-75497-5, 734 Seiten, 89 Abbildungen, davon 25 in Farbe, Format 21,5 x 14 cm, € 18,00

Jörg Lausters 2014 in gebundener Form erstmals, 2017 in 5. Auflage und 2020 in 6. Auflage und als Paperback erschienene groß angelegte ›Kulturgeschichte des Christentums‹ ist von den ersten Rezensenten völlig zurecht als ›meisterhaft‹ (Frankfurter Neue Presse, 6. Dezember 2014), ›intellektuelles Vergnügen‹ (Bernhard Lang, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. November 2014) und als ›grandiose Erzählung der immer neuen Wandlungskraft einer Religion‹ (Friedrich Wilhelm Graf, Neue Zürcher Zeitung, 4. Oktober 2014) gewürdigt worden. Dem ist wenig hinzuzufügen. Man hätte sich zwar gewünscht, dass der Absatz über die ›Misere des kurzen 20. Jahrhunderts‹ in der jetzigen Auflage eine vergleichbare Ausgewogenheit gehabt hätte wie das Kapitel über die Bedeutung des Christentums für die Aufklärung. Aber man muss dem Autor zugestehen, dass der Abstand zum 20. Jahrhundert für ein gültiges Urteil noch zu kurz ist und einrechnen, dass die aktuellen Debatten um das Christentum der Gegenwart und der Zukunft noch unübersichtlich und meist auch überhitzt sind. Dass der Inhaber des renommierten Lehrstuhls für Dogmatik, Religionsphilosophie und Ökumene an der Ludwig-Maximilians-Universität München (vergleiche dazu https://www.st.evtheol.uni-muenchen.de/personen/personen-dogmatik/lauster/index.html und https://de.wikipedia.org/wiki/Jörg_Lauster) trotzdem einen Ausblick versucht, ehrt ihn. Sein Ausblick steht unter der Überschrift ›Nothing ist ever lost‹: 

„Von einem Vormarsch des Fundamentalismus bis zur völligen Entchristianisierung werden alle Szenarien an die Wand gemalt. Tatsächlich lassen sich Tendenzen in beide Richtungen beobachten, weltweit wachsen fundamentalistische Bewegungen rasant, während Europa offensichtlich einem einschneidenden Bedeutungsverlust des Christentums entgegensieht. Ein kulturgeschichtlicher Blick auf das Christentum bietet die Chance, zwischen diesen beiden unerfreulichen Aussichten wenigstens in der Beurteilung der Lage der Gegenwart höhere Differenzierungsmöglichkeiten auszuloten“ (Jörg Lauster S. 615). Demnach ist die Vervielfältigung des Christentums nach der Aufklärung ein Grundzug seiner Geschichte. Neben der innerchristlichen Vielfalt steht eine zunehmende Pluralität im Umgang mit Religion. „Wenn die jüngsten Debatten über die Wiederkehr der Götter und die Rückkehr der Religionen etwas gelehrt haben, dann doch dies: Neben den streng säkularen und atheistischen Weltdeutungen gibt es wie schon im 19. Jahrhundert eine Reihe von Versuchen, die großen Themen der Religion in eine verwandelte, neue Gestalt des Christentums und christlicher Weltorientierung zu überführen.

Zweitens bietet die kulturgeschichtliche Perspektive Möglichkeiten, die Transformationen des Christentums in der Moderne besser zu begreifen. Ein Blick in die Geschichte des Christentums räumt mit dem Mythos auf, die Epoche seit 1800 sei die Geschichte eines unaufhaltsamen Verfalls. Der Erfolg der Antisklavereibewegung im 19. Jahrhundert und die Bedeutung des Papsttums im 20. Jahrhundert sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass das Christentum in der Moderne wahr machen konnte, woran es zuvor Jahrhunderte vergeblich gearbeitet hatte.

Drittens ist das Christentum seit seinen Anfängen stets mehr als seine konkreten Erscheinungsformen. Es gilt genauer hinzusehen, was die Transformationen der Moderne bedeuten. Der Aufstieg der Kulturmedien hängt zusammen mit der Aufwertung der individuellen religiösen Erfahrung. Eine Kulturgeschichte des Christentums ist die notwendige Folge der Einsicht in die Bedeutung der religiösen Erfahrung. In der Moderne haben Künstler die Kraft der Bilder, der Musik und der Literatur genutzt, um näher an das heranzukommen, was sie für das Herz des christlichen Welterlebens halten. Ein Bild von Caspar David Friedrich, eine Klaviersonate von Mozart, eine Hymne von Novalis oder ein Roman von Dostojewski bewegen sich nicht auf der Ebene traditioneller Ausdrucksformen wie das Dogma und die Liturgie, und doch bringen sie christliche Gestimmtheiten zum Ausdruck. Es ist ein großes Manko der gegenwärtigen Debatte …, Entdogmatisierung und Ent-institutionalisierung mit Entchristianisierung zu verwechseln …

Viertens schließlich ist die Kulturgeschichte des Christentums als eine fortwährende Anreicherung in dem Versuch zu begreifen, den Überschuss des christlichen Welterlebens kulturell zu artikulieren und als Verzauberung der Welt weiterzugeben. Robert Bella … stellt sein … Buch ›Religion in Human Evolution‹ unter das Motto: ›Nothing is ever lost‹ – nichts geht je verloren. Die Kulturgeschichte des Christentums ist kein Fortschrittsmodell, in dem die späteren Formen die früheren ablösen. Noch heute prägen die frühen Formen wie sein gottesdienstliches Leben, die Ausrichtung auf ein heiliges Buch und seine gemeinschaftliche Organisation die sichtbare Gestalt des Christentums. Es ist die Summe der Kulturformen und ihrer Wechselwirkungen, die das christliche Welt- und Sinnverstehen bestimmt. Ein gregorianischer Choral kann ebenso wie eine Kantate von Bach etwas von der Harmonie des Universums zum Klingen bringen, eine gotische Kathedrale göttliche Erhabenheit vermitteln, eine Skulptur von Michelangelo die Pracht der Welt als göttliche Schöpfung feiern, ein Gemälde von Caspar David Friedrich das unfassbare Geheimnis des Daseins versinnbildlichen und ein Roman von Leo Tolstoi die sittliche Kraft des Christentums erfahrbar machen. Nothing is ever lost.

Das Christentum ist die Fülle seiner Erscheinungsformen – und es ist noch viel mehr als das“ (Jörg Lauster, S. 615 ff.).

ham, 11. Januar 2023

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