Aus dem Englischen von Utku Mogultay

Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek Band 97

Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2024, ISBN 978-3-8031-5197-1, 144 Seiten, Klappenbroschur, 

Buch 20,- € / E-Book 17,99 €

Für den 1959 nicht lange nach dem Ende des Koreakriegs in Seoul geborenen späteren südkoreanischen Historiker, Schriftsteller, Erinnerungsaktivist, Professor für Transnationale Geschichte und Direktor des Critical Global Studies Institute an der Sogang-Universität in Seoul Jie-Hyun Lim war der Besuch eines Polizeiermittlers im Jahr 1977 in seinem Haus für seine spätere wissenschaftliche Beschäftigung mit Demokratie und Diktatur ausschlaggebend (vergleiche dazu und zum Folgenden Jie-Hyun Lim. In: Jie-Hyun Lim): Er war damals Geschichtsstudent und Mitglied des geheimen Anti-Autokratie-Kreises „Red Clay“ (황토 [hwang-t’o]) der Sogang-Universität.  Nach diesem Vorfall hat er sich näher mit der Vergangenheit seines verstorbenen Großvaters in der Führungsspitze des kommunistischen Partei Koreas und seinem Untergrundkämpferdasein während der japanischen Besatzung auseinandergesetzt. In seiner Autobiografie Doing History (역사를 어떻게 할 것인가: 어느 사학자의 에고 히스토리, 2016), gesteht er, dass er seine akademische Tätigkeit immer als Teil des „inneren Exils“ seines Großvaters betrachtet hat.

Nach dem Gwangju-Aufstand im Mai 1980 (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Gwangju-Aufstand) studierte Lim als Doktorand marxistische Geistesgeschichte und hatte vor, eine „südkoreanische Sozialwissenschaft“ oder eine „südkoreanische westliche Geschichte“ ins Leben zu rufen. 1989 schloss er seine Dissertation „Marx und Engels zur nationalen Frage“ (Marx-Engels와 민족문제) ab, in der er nationalistische Fragen im Lichte des marxistischen Denkens untersucht hatte. 1989 wurde Ji-Hyun Lim außerordentlicher Professor an der Hanyang-Universität in Seoul; von 1997 bis 1999 war er Vorsitzender der dortigen Geschichtsabteilung. In den 1990er Jahren nahm Lim eine Gastprofessur an der Pädagogischen Universität Krakau wahr und wurde im postkommunistischen Polen Zeuge des Übergangs vom realen Sozialismus zur Marktwirtschaft und Demokratie. Aufgrund seines an Rosa Luxemburg orientierten Marxismus galt er als „hartnäckiger Rechter“, während er im postkolonialen Südkorea als „wütender junger Linker“ betrachtet worden war. Diese konträren Zuschreibungen an den Rändern Ostasiens und Osteuropas  gaben ihm wichtige Anstöße für seine Erforschung postkolonialer Erinnerungsräume jenseits des mnemonischen Eurozentrismus und ermöglichten es ihm, der intellektuellen Selbstgefälligkeit der Politik des Kalten Krieges zu entkommen.

Rückblickend schätzt er sich glücklich, „den scheinbaren Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus unter der Entwicklungsdiktatur in Südkorea durchlebt und später den in umgekehrter Richtung verlaufenden Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus in Polen nach 1989 beobachtet zu haben. Für Südkorea war die ›verdichtete‹ Modernisierung und die Entwicklungsdiktatur der Siebziger- und Achtzigerjahre eine nutzbringende, aber auch leidvolle Erfahrung, weshalb sich das Land für Historiker als anregendes Soziallabor darstellte. Ebenso bot die radikale Transformation des postkommunistischen Polens nach 1989 ein so interessantes wie reiches Untersuchungsfeld für die sozialwissenschaftliche Forschung. Diese zwei gegenläufigen, zeitlich nah beieinanderliegenden Transformationsprozesse zu reflektieren und an ihnen teilzuhaben, sie zu erfahren und mitzuerleben, bewog mich dazu, die Dämonologie des Kalten Krieges in ihrer linken wie auch ihrer rechten Spielart infrage zu stellen. In Polen wurde der Kommunismus in die Nähe der politischen Rechten gerückt, während man das antikommunistische Lager als links bezeichnete … In Südkorea war es umgekehrt …

Im Feld der Erinnerungskultur gestaltete sich die transnationale Umwälzung der politischen und ideologischen Links-Rechts-Konstellation noch unübersichtlicher. Fanatische Antikommunisten aus Südkorea und eiserne Kommunisten aus Polen näherten sich einander an, als sie die populäre Nostalgie für die Entwicklungsdiktatur beziehungsweise das kommunistische Regime instrumentalisierten und für sich ausnutzten … Was beide … gemeinsam haben, ist die Besessenheit von einem vereinfachenden Dualismus, der eine kleine Gruppe böswilliger Täter und eine Vielzahl unschuldiger Opfer einander gegenüberstellt. Sobald man diesen historischen Dualismus … abstreift, tritt ein vielschichtiges Feld von Erinnerungen – an Krieg und Kolonialgräuel, Holocaust und Gulag, Diktatur und Demokratie, Opfer- und Täterschaft, Zeugenschaft und Kollaboration – in den Vordergrund einer nationalen und transnationalen Konfliktszenerie.

Nachdem ich mich enttäuscht vom Realsozialismus in der Volksrepublik Polen abgewandt hatte, schwand mein anfängliches Interesse an der Ideengeschichte des polnischen Marxismus. Zu Beginn der Nullerjahre kehrte ich mit anderen Fragen nach Polen zurück. Der Historikerstreit po polska (polnische Historikerstreit) … weckte mein Interesse für das Bewusstsein von Opferschaft im globalen Erinnerungsraum. Inspiriert von Zygmunt Baumans Konzept des ›ererbten Opferstatus‹ entwickelte ich die These von ›Opfernationalismus‹, um die verflochtenen Erinnerungen an Krieg und Genozid in Polen, Deutschland, Israel, Japan und Korea begrifflich zu fassen. Ich verstehe den Opfernationalismus als eine Erzählschablone, die Nationen mit ›ererbtem Opferstatus‹ – der eine Gruppe in der Gegenwart und die Opfer der Vergangenheit postum aneinander bindet –moralische Gerechtigkeit verschaffen und zu historischer Legitimation verhelfen kann. Indem sie das Vermächtnis der Opferschaft der Vorfahren weiterführt, erscheint die Nation mit ererbtem Opferstatus als moralisch rein. Im Zuge der Globalisierung der Erinnerungen der Entstehung von globaler Empathie mit Opfergruppen hat sich der Schwerpunkt in nationalistischen Erinnerungsdiskursen verschoben: Vom Heldentum verlagert er sich zum Opferstatus“ (Jie-Hyun Lim S. 9 f.).

Von dieser These ausgehend fragt Lim, ob und gegebenenfalls wie sich Holocaust, Stalinismus und Kolonialismus miteinander vergleichen lassen und wie in einer globalisierten Welt ohne Opferkonkurrenz erinnert werden kann: „Wenn wir auf bestehende Ansätze des Vergleichens und der Relativierung blicken, erkennen wir, dass sich vielfältige lokale Erinnerungen bereits in Beziehung setzen mit dem Gedenken an den Holocaust, der inzwischen metonymisch für jegliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit steht und zu mnemonischen Prüfstein für das Böse geworden ist. Diese Entwicklung lässt sich innerhalb der globalen Entwicklungsformation nicht mehr rückgängig machen. Doch wenn man den Holocaust als eine ethische Schablone heranzieht, um über andere Genozide und Verbrechen weltweit nachzudenken, erscheint er nicht mehr nur als eine ausschließlich deutsch-jüdische Erfahrung, vielmehr wird er zum Ausgangspunkt für eine transnationale Ziviltugend in der globalen Erinnerungsformation. Ich verwende … daher die Begriffe ›kritische Relativierung‹ und ›radikale Gegenüberstellung‹ als konzeptuelle Werkzeuge, mit denen sich sowohl das relativierende Abwälzen von deutscher Verantwortung als auch die schematische Annahme kritisch hinterfragen lassen, der Holocaust sei mit dem Kolonialgenozid des Westens nicht zu vergleichen. Beide begrifflichen Werkzeuge können der selbstentlastenden Relativierung des Holocausts wie auch den mnemonischen Eurozentrismen entgegenwirken, die sich hinter der Vorstellung des Holocaust als etwas Einzigartigem und Unvergleichlichem verbergen. Mein regionaler Fokus liegt dabei auf dem ›Globalen Osten‹, vor allem auf Osteuropa und Ostasien, weil ich insbesondere die pluralen Formen der kritischen Relativierung und radikalen Gegenüberstellung im globalen Erinnerungsraum beleuchten will. Dieses Vorgehen kann hoffentlich dazu beitragen, eine ›multidirektionale Erinnerungskultur‹ zwischen dem Westen und dem ›Globalen Osten‹ zu fördern“ (Jie-Hyun Lim S. 14 f.).

In seinem 2010 erstmals erschienen Essay ›Opfernationalismus. Nationale Trauer und globale Verantwortlichkeit“ bezieht sich Lim auf Deutschland, Israel, Japan und Korea, weil er den transnationalen Charakter des Opfernationalismus herausstellen möchte. „Eine Verflechtungsgeschichte kann dabei helfen, die ineinandergreifenden Komplexitäten der historischen Wirklichkeit aufzuzeigen: die Hybridität pluraler und widersprüchlicher Erinnerungen auf lokaler, offizieller und persönlicher Ebene sowie die Meta-Erinnerungen zwischen Täter- und Opfergruppen; das fragile Spannungsfeld zwischen den Ansätzen der ›Transitional Justice‹ und der ›Liminal Justice‹; die Selbstwahrnehmung der Opfer auf der Täterseite; die Viktimisierung individueller Opfer durch einen eher abstrakten Opfernationalismus und die sich verschiebende Trennlinie zwischen Tätern und Opfern“ (Jie-Hyun Lim S.23).

In ›Postnationale Reflexionen über das mnemonische Zusammentreffen von Holocaust, stalinistischen Verbrechen und Kolonialismus‹ kommt Lim auch auf die unterschiedlichen und sich beinahe diametral gegenüberstehenden Ansätze der japanischen Kustoden Takeshi Nakatani und Yumie Hirano zur Frage der Verflechtungen des Erinnerns und der historischen Vergleichbarkeit von Auschwitz und Hiroshima zu sprechen. Während Nakatani in Auschwitz-Birkenau japanischen Besuchern helfen will, das Leid der Opfer und die Bedeutung der Fragilität des Friedens zu verstehen, ohne dabei auf mögliche Bezüge zu Japan, China und Korea zu sprechen zu kommen, erklärte die in Hiroshima führende Hirano vor ihrer Reise nach Polen im Jahr 2015: „›Viele Juden wurden aufgrund rassischer Diskriminierung getötet, und in Hiroshima wurden viele unschuldige Zivilisten getötet. Ich möchte einen Eindruck davon geben, wie man sich in Kriegszeiten an den Menschenrechten vergeht‹ … Während der Museumsführer in Auschwitz auf der Inkommensurabilität des Holocaust beharrt, hält die Gedächtnshüterin von Hiroshima den Vergleich für sinnvoll“ (Jie-Hyun Lim S. 73.).

In seinem Essay ›Kartierung der Massendiktatur. Ansätze zu einer transnationalen Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts‹ kommt Lim zu dem Schluss, dass die Aufarbeitung der Diktaturen der Vergangenheit danach verlangt, „die historischen Formen von Zustimmung und Zwang sowie die heutige Nostalgie eines Dafür und Dagegen im Rahmen einer ›dichten Beschreibung‹ (Clifford Gertz) zu untersuchen, die der Vielschichtigkeit der Erfahrungen im Alltagsleben Rechnung trägt. Akteure der Geschichte sollten, wenn sie nicht länger nur passive Objekte sind, als für ihre Handlungsmacht verantwortlich betrachtet werden … Der Gedanke, dass nicht ›Strukturen‹, sondern Menschen töten‹, verweist auf die Schuld historischer Akteure. Hinterfragt wird damit auch der moralische Dualismus, der zwischen böswilligen Tätern und unschuldigen Opfern unterscheidet … Auch Massenmörder waren gewöhnliche Menschen – ganz normale Leute“ (Jie-Hyun Lim S. 117).

ham, 28. März 2024

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