Achtsamkeit –Bildung – Medien Band 2, herausgegeben von Reyk Albrecht und Mike Sandbote

transcript-Verlag, Bielefeld, 2020, ISBN 978-3-8376-5230-7, 396 Seiten, 2 Abbildungen, 4 Tabellen, Broschur, Format 22,5 x 14,8 cm, € 35,00

Ausgangspunkt der 2019 von der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommenen, mit dem Prädikat summa cum laude bewerteten und für die vorliegende Publikation geringfügig überarbeiteten Dissertation ist die Beobachtung, dass das mit dem Begriff Achtsamkeit verbundene Konzept in den letzten 20 Jahren verstärkt in den Medien diskutiert, in der Psychotherapie, der Medizin, den Neurowissenschaften erforscht und dort und in Selbsthilfe-Ratgebern- und Gruppen, der Erwachsenenbildung, der Schulpädagogik und der Wirtschaft fruchtbar gemacht worden ist. Unter Achtsamkeit wird eine ursprünglich im Buddhismus beheimatete meditative Praxis verstanden, „in der die kontinuierliche und nicht-wertende Beobachtung des Körpers, aber auch der Sinne, Gefühle und Gedanken im Mittelpunkt steht“ (Jacob Schmidt; vergleiche dazu und zum Folgenden http://modellromantik.uni-jena.de/beteiligte/erste_kohorte/jacob-schmidt/). Die Achtsamkeitsmeditation soll helfen, Stress abzubauen, das eigene kreative Potential zu erschließen und eine ganzheitliche, lebendige und verbundene Welterfahrung hervorzubringen und wird hier „als Alternative zur gegenwärtigen beschleunigten, rationalisierten und zerstückelten Gesellschaft in Stellung gebracht“ (Jacob Schmidt a. a. O.).

Jacob Schmidts Dissertation geht der Frage nach, wie es in der beschleunigten späten Moderne zu einer solchen Faszination und Popularität der achtsamen Verinnerlichung kommen konnte. „Wie also ist, so die zentrale Frage dieser Arbeit, die Achtsamkeitsströmung verflochten mit der Moderne und Spätmoderne? Nach dieser Verflechtung zu fragen, soll dabei zweierlei heißen: Wie lässt sich die Achtsamkeitsströmung einerseits als Produkt der (Spät-)Moderne verstehen und, andererseits, inwiefern produziert oder moduliert sie die (Spät-)Moderne ihrerseits? Gefragt wird also nicht nur danach, inwiefern Achtsamkeit geformt wurde und inwiefern sie modern ist, sondern auch danach, in welcher Hinsicht die Achtsamkeitsströmung die Kultur der (Spät-)Moderne formt und moduliert“ (Jacob Schmidt S. 14 f.).

Unter Moderne versteht Schmidt mit dem 1931 in Montreal geborenen kanadischen Politikwissenschaftler und Philosophen Charles Taylor (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Taylor_(Philosoph)) die Etablierung des Unglaubens neben dem Glauben als einer möglichen säkularen Option neben anderen und die Pluralisierung des christlich-theistischen Welt-Selbst-Konzepts ab dem 18. Jahrhundert, den Streit um das Weltdeutungspotential der den jeweiligen Optionen zugrunde liegenden Quellen und die sich daraus ergebende kulturelle Dynamisierung. „Die dynamis der modernen Kultur ist nicht in einem spezifischen Prozess zu finden, sondern vollzieht sich in der konflikthaften Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Sinnquellen, durch die selektive Zugriffnahme auf bereits hervorgebrachte Modellierungen und durch die jeweils dabei entstehenden neuen Kombinationen. Es ist […] diese schon in sich heterogene und dynamische moderne Kultur, mit der sich der Buddhismus im Verlauf des 19. Jahrhunderts und die Achtsamkeitsströmung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verflechten“ (Jacob Schmidt S. 153). 

In der Spätmoderne wird Zeit im Weiterdenken von Ansätzen wie Marianne Gronemeyers These vom Leben als letzter Gelegenheit (vergleiche dazu https://d-nb.info/94670211X/04 und https://www.wbg-wissenverbindet.de/5513/das-leben-als-letzte-gelegenheit), Hermann Lübbes These von der Schrumpfung der Gegenwart (vergleiche dazu https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/55121/1/GK_Schrumpfende_Gegenwart.pdf; https://www.kas.de/documents/252038/253252/7_dokument_dok_pdf_9802_1.pdf/a69b7d7a-97c7-f63d-230a-bfb763005235?version=1.0&t=1539664935371 und https://www.springer.com/de/book/9783540002024) und Hartmut Rosas These von der sozialen Beschleunigung als technischer Beschleunigung, als Bescheinigung des sozialen Wandels und als Beschleunigung des Lebenstempos (vergleiche dazu https://books.google.de/books?hl=de&lr=&id=QLY7CgAAQBAJ&oi=fnd&pg=PT4&dq=Rosa+soziale+Beschleunigung&ots=PUO06pUVRC&sig=yKxQQOr9evssfFMG2

N64R6nvTkY#v=onepage&q=Rosa%20soziale%20Beschleunigung&f=false) als Paradoxon von Zeitknappheit trotz Beschleunigung und Gegenwart als gefüllt-bedrängte Gegenwart und ›Präsentismus‹ gefasst. In der Gegenwart kommt es zu einem eigentümlichen Zusammenspiel der Sehnsucht nach intensiver Welterfahrung mit dem Wunsch nach Neuem und dem Hunger nach Welt: Die „Verheißung der Beschleunigung trifft auf eine strukturell, durch Beschleunigungsprozesse bedingte Gegenwart, die vor Möglichkeiten die Welt zu erfahren nur so [s]trotzt. Diese eigentümliche Situation oder Verschränkung möchte ich im Folgenden als Präsentismus bezeichnen. Ein solcher Präsentismus ist darüber definiert, dass das moderne Verlangen nach Welt auf eine Zeitlichkeit trifft, die im Jetzt alles zu ermöglichen scheint. In diesem Sinne ließe sich die Spätmoderne inhaltlich insofern bestimmen, als sie das moderne Versprechen, durch Beschleunigung alles erreichen zu können, radikalisiert und punktualisiert: Jetzt ist alles verfügbar“ (Jacob Schmidt S. 291). Aber weil sich alles auf das Jetzt konzentriert, kommt zur modernen Beschleunigung des Lebens die spätmoderne Beschleunigung der Zeit, zum Fortschrittsglauben das Empfinden von rasendem Stillstand (vergleiche dazu Jacob Schmidt S. 294 ff.) und zur Rede von Beschleunigungsgesellschaften die Rede von der Langeweile (vergleiche dazu Jacob Schmidt S. 302 ff.).

In der als widersprüchlich, bedrängt und krisenhaft erlebten Gegenwart scheinen die aus den im ausgehenden 19. Jahrhundert im Rahmen buddhistischer Reformbewegungen in Südostasien entwickelten hybriden Weiterentwicklungen der Meditationspraktiken Alternativen zur Alternativenlosigkeit im 20. Jahrhundert, Möglichkeiten der Selbstermächtigung im Hier und Jetzt und das Versprechen eines gelingenden und freien Lebens anzubieten, so die seit den 1950er-Jahren im Westen verbreiteten sezierend-distanzierenden‹ Meditationspraktiken des Theravāda, die seit den 1970er-Jahren in Frankreich durch den vietnamesischen Mönch Tich Nhath Hanh (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Th%C3%ADch_Nhất_Hạnh) bekannt gemachte ›Zen-Achtsamkeit‹, die durch den amerikanischen Molekularbiologen und Mediziner Jon Kabat-Zinn vorangetriebene wissenschaftliche Erforschung der Wirkungen von Mediation und ihre experimentelle Erprobung in Medizin und Psychotherapie (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Jon_Kabat-Zinn und https://www.7mind.de/magazin/jon-kabat-zinn) und schließlich die auf das verfügende Selbst setzende ›Mainstream-Achtsamkeit on demand‹ von Zindel Segal, John Teasdale und Mark Williams (vergleiche dazu http://www.mbct.com/people.html, https://www.arbor-verlag.de/bücher/mbct-mindfulness-based-cognitive-therapy-praxisbuch-mit-cd-jon-kabat-zinn-mbsr/der-achtsame und zum Ganzen Jacob Schmidt S. 144 f.).

Der „Globalität der vermeintlich alternativlosen, anonymen und verselbständigten Systemlogiken [steht] das Versprechen einer Systemermächtigung im ›Hier und Jetzt‹ […] gegenüber. Wie also […] steht die Achtsamkeitströmung im wechselseitigen Verhältnis zur Kultur der Moderne und zur spätmodernen Gesellschaft? Der Achsamkeitsströmung geht es ihrem Selbstverständnis nach darum, mittels selbstreferenzieller Praktiken, wie der Sitzmeditation, das Selbst und sein Verhältnis zur Welt zu modellieren. Das Ausgeliefertsein – etwa an die beschleunigte Welt – soll dabei hin zu einem freien Selbst- und Weltverhältnis überwunden werden, weg von einer reaction hin zu einerresponse […]. Wie viel Alternative liegt nun tatsächlich in der Verheißung der Achtsamkeitsströmung […]?“ (Jacob Schmidt S. 344)

Schmidt antwortet mit sechs Thesen (vergleiche dazu S. 345 ff.):

  1. Die Achtsamkeitsströmung erweist sich als heterogen, indem sie drei verschiedene idealtypische Selbst-Welt-Modelle artikuliert, die an die meditative Einübung gebunden werden. 

Die sezierend-distanzierende Achtsamkeit basiert auf einer Logik der Differenz durch Substitution. Die drei Wurzeln des Bösen Gier, Hass, Verblendung sollen durch Gelassenheit, Mitgefühl und Einsicht ersetzt und damit überwunden werden. Die interessiert-sorgende Achtsamkeit gründet auf einer Logik der Einheit durch Entdeckung. Die kritisierten Nicht-Selbst-Anteile sollen in das wahre oder tiefere Selbst integriert werden. Damit wandelt sich das Gewöhnliche und Alltägliche zum Lebendigen, dem mit Empathie begegnet werden kann. Die Mainstream-Achtsamkeit on demand tendiert zu einer Logik der Adoption durch Verfügung. Sie verzichtet auf das Moralisieren spezifischer Selbstanteile und problematisiert das reaktive Selbst. Achtsamkeitspraktiken dienen demnach weniger der Transformation des Selbst als seinen Zwecken. Achtsamkeit wird zum Werkzeug des freien und über sich selbst verfügenden Selbst.

2. Die Achtsamkeitsmodelle aktualisieren selektiv die kulturellen Modelle der Ver-, Ent- und Wiederverzau-      berung. Die daraus resultierenden hybriden Selbst-Welt-Modelle ermöglichen die Popularisierung der Achtsamkeit.

Die Achtsamkeitsströmung kann als Fortsetzung einer im 19. Jahrhundert beginnenden Rezeption und Formung des buddhistischen Modernismus gelesen werden. Die erste idealtypische Version steht in der Tradition des Versuchs, den Buddhismus als rationale Religion und Meditation als Wissenschaft in den westlichen Ländern zu etablieren. Hintergrund ist das Modell der Entzauberung. Die dritte Version radikalisiert dieses Modell als Fortschreibung des naturalistisch-entzaubernden punktförmigen Selbst. Die zweite aktualisiert die komplementäre Tradition der romantischen Sinnsuche in der Tradition von Henry David Thoreaus Walden oder Hermann Hesses Siddhartha. Aus der Hybridität der Achtsamkeit entsteht eine produktive Deutungsoffenheit. Sie kann als eine effiziente Methode zur Erreichung spezifischer Ziele, aber auch als eine Form moderner Spiritualität angesehen werden, die eine instrumentelle Rationalität durch subjektive Ganzhheitserfahrungen zu überwinden versucht.

3. Durch ihre Unendlichkeitsrhetorik erweisen sich die Achtsamkeitsmodelle II und III als teil-homolog zur spätmodernen kapitalistischen Wachstumslogik.

In der Spätmoderne verschwimmt die ehemalige Opposition zwischen Kapitalismus und dessen romantischer Künstlerkritik in der Schnittmenge von unendlich gedachter zentrifugaler Bewegung des Kapitals und unendlich gedachter zentripedaler Bewegung und Selbsterforschung. In der Homologie des Unendlichen steckt aber nur eine notwendige, nicht eine hinreichende Bedingung für die kapitalistische Verwertbarkeit und Reproduktion. Dazu muss auch noch das unendliche Streben zur verwertbaren Ware werden.

4. Die in der Achtsamkeitsströmung affirmierte Gelassenheit ermöglicht in der spätmodernen Beschleunigungsgesellschaft eine Selbstermächtigung durch das Hervorbringen einer situativen Identität.

Die Gelassenheit erweist sich als eine Struktur, die zwischen einer negativen Freiheit von Reaktivität und einer positiven Freiheit zur sittlichen, kreativen oder zweckhaften Handlung changiert. Sie beschleunigt den Wahrnehmungsvorgang, lässt eine höhere Reizverarbeitung ohne Überforderung zu, ermächtigt zu eigenen Handlungen und ermöglicht damit eine situative Identität in der spätmodernen gefüllt-bedrängten Gegenwart. Das gelassene Selbst der Achtsamkeit, das sich gegen eine als unkontrollierbar empfundene Welt in der Kontrollierbarkeit des eigenen Selbst-Welt-Verhältnisses übt, ist daher aus zeitsoziologischer Perspektive als adaptives Moment für die spätmoderne Beschleunigungsgesellschaft zu deuten.

5. Die Achtsamkeit I distanziert sich von den Verheißungen der Beschleunigung, während die Achtsamkeit II mit ihrer Toleranz für das Langweilige zwischen der modernen Dynamisierungsspannung von gefüllter und langweiliger Zeit eine Zeit intensiver Stile zu etablieren sucht.

Dem spätmodernen Pendeln zwischen der Utopie einer Stillung des Hungers nach Welt in der Gegenwart und der existentiellen Langeweile des immer Gleichen im Neuen begegnet die Achtsamkeit I anachronistisch. Sie sieht in der Verheißung, Erfüllung durch beschleunigten Konsum zu finden, Gier und damit eine Quelle des Leidens. Achtsamkeit I setzt dagegen auf Resonanzdiät (Andreas Reckwitz). Achtsamkeit II kritisiert die Gleichsetzung von Ruhe mit Stillstand, Passivität mit Faulheit, Erlebnis mit Erfahrung und guter Zeit mit gefüllter Zeit und propagiert stattdessen als dritte Möglichkeit eine lebendige oder intensive Stille, die ewige Wiederholung des Gewöhnlichen in der Routinen des Atmens ist und die Einsicht, dass alles ein Wunder ist.

6. Das in der Achtsamkeitsströmung artikulierte Unbehagen an der modernen Welt wird auf ein produktives Selbst reduziert und führt damit tendenziell zu einer politischen Sprachlosigkeit.

Die Achtsamkeitsströmung bestimmt letztlich den Einzelnen als Angelpunkt der Transformation von kritisierten Welten und vernachlässigt damit die soziale und politische Generierung der Verhältnisse. Dabei übersieht sie, dass sie auch selbst mit der Zeit und den Verhältnissen verwoben und dadurch politisch sprachlos geworden ist. So wird nicht ersichtlich, wie aus der Achtsamkeitsströmung ein politisches Programm erwachsen könnte, das mehr als die Arbeit am Selbst zu forcieren vermag und auch soziale Ursachen für das beklagte Leiden zur Verantwortung zieht.

ham, 20. Juli 2020

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