Eine Kulturgeschichte von den neuassyrischen Königen bis zur Entstehung des Islams

Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung

Verlag C.H.Beck, München 2023, ISBN 978-3-406-79348-6, 480 Seiten, mit 30 Abbildungen und 5 Karten, Leinen, mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 22,2 x 14,5 cm, € 36,00

Unter einer Weltsprache versteh man heute die hohe Anzahl ihrer mutter- und fremdsprachlichen Sprecher, manchmal auch die geografische Verbreitung einer Sprache. Englisch wird von 1,5 Milliarden Menschen gesprochen, Mandarin von 1,1 Milliarden, Hindi von 602,2 Millionen und Spanische von 548,3 Millionen, Französisch von 274,1 Millionen und Arabisch von 274 Millionen (vergleiche dazu https://www.augsburger-allgemeine.de/panorama/meistgesprochene-sprachen-der-welt-im-jahr-2022-ranking-id64441086.html; die Angaben schwanken je nach Quelle und von Jahr zu Jahr). In den neutestamentlichen Seminaren der Universität Tübingen hat man in den 1968er und 1970er Jahren zwar gelernt, dass Jesus von Nazareth aramäisch gesprochen hat, aber nicht, dass sich das Aramäische zwischen dem ersten Jahrtausend vor Christus und dem vierten Jahrhundert nach Christus vom Norden des heutigen Syrien aus unter den Assyrern, Babyloniern, Persern und nach Alexander dem Großen zu einer der Weltsprache des Altertums entwickelt hat und vom Arabischen abgelöst worden ist. 

Als Medium des Rechts, der Verwaltung und der Literatur nahm das Aramäisch während der eintausendfünfhundert Jahre zwischen den neuassyrischen Königen und den ersten Kalifen im permanenten Wandel von Hoch- und Umgangssprache immer neue Gestalten an. Sie alle verbanden sich zu einer stabilen Überlieferung, die Räume, Zeiten und Milieus überstieg. Mit der jetzt von dem Münchener Alttestamentler und Semitisten Holger Gzella vorgelegte Studie wird erstmals der Versuch unternommen, „die aramäische Schrifttradition anhand ihrer Träger, Institutionen und Bildungsansprüche möglichst kohärent zu beschreiben […].  Das vorliegende Buch legt den Schwerpunkt auf die aramäischsprachigen Schrift- und Schreibertraditionen, ihre weiträumige Vernetzung und die bislang noch nirgends zusammenhängend analysierten historischen Grundlagen des aramäischen Schrifttums bis zum Ausgang der Antike“ (Holger Gzella S.14).

Nach Gzella verdankt die aramäische Sprachfamilie ihren Aufstieg zur Weltsprache ihrer Verwandlung von einem unüberschaubaren Bündel regionaler Dialekte zu einer universalen und außergewöhnlich langlebigen Verkehrssprache der dauerhaften Akzeptanz schreiberischer Kreise und der von ihnen betriebenen Institutionen. „Sie verliehen immer wieder einzelnen Erscheinungsformen des vielgestaltigen Phänomens ›Aramäisch‹, dessen Einheit nur als historisch-vergleichende Abstraktion bestimmt werden kann und abgekoppelt war von jeder übergreifenden nationalen Identität, jeweils die richtige Passung im Wirken der drei bestimmenden Prägekräfte des Alten Orient. Auf einen einfachen Nenner gebracht sind dies tiefverwurzelte Ortsgemeinschaften, multikulturelle Großreiche und grenzüberschreitende religiöse Traditionen“ (Holger Gzella S. 381). Die wechselnde imperiale Herrschaft musste sich in ihrem Rechts- und Verwaltungssystem auf die in Syrien und Mesopotamien verbreiteten Dialekte einlassen. „Bei der wachsenden Verstädterung erstarrten bald fluide regionale Mundarten zu den offiziellen Schriftsprachen kleiner Kanzleien und blieben unter wechselnden politischen Strukturen auf höherer Ebene als solche erhalten. Vom Streifen der phönizischen Küstenstädte ausgehend reifte ein schon älteres, für den Hausgebrauch entwickeltes alphabetisches Nota- tionssystem zu einer professionalisierten Schreiberkultur heran. Durch eine Vernetzung schreiberischer Kreise verbreiteten sich die gleichen Techniken und Textformate im Laufe zweier Jahrhunderte überall an der östlichen Mittelmeerküsten und ihrem Hinterland“ (Holger Gzella S. 382).

Unter den assyrischen, babylonischen und persischen Königen und ihrem jeweiligen Adel „schlug die große Stunde des lokalen Kanzleiwesens der syrischen Stadtstaaten. Schriftsystem, Beschreibstoffe und Bildungshintergrund der Beamten entsprachen genau den ganz analog strukturierten Verwaltungen des übrigen Syrien-Palästina auf der Grundlage ihrer jeweiligen Schriftsprachen, die dem Aramäischen nahe verwandt waren. Dank der einstweilen noch reaktiven Anerkennung des Aramäischen als aufstrebende Rechts- und Verwaltungssprache war ohne die Errichtung einer neuen Infrastruktur ein einfacher Zugang zu den lokalen Bürokratien der wirtschaftlich bedeutenden westlichen Provinzen mit ihrem fruchtbaren Land und ihrem Zugang zum Meer gewonnen. Aramäische Schreiber kannten sich mit den lokalen schrifthandwerklichen und bürokratischen Techniken aus und hielten als zentrale Wissensvermittler Einzug in die imperialen Institutionen. Dadurch war das Fundament für eine gemeinsame aramäische Schriftsprache gelegt, die dann zum Ende des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts unter der achämenidischen Dynastie kodifiziert und auch in den nicht-aramäischsprachigen Provinzen als verbindliches Kommunikationsmittel eingeführt wurde. Ihr Gebrauch in wechselbeständigen und für eine Zivilisation grundlegenden Bereichen wie dem Recht verlieh ihr Ansehen und Stabilität. In den Amtsstuben entstanden zum Zwecke der Ausbildung und zur Förderung einer geeigneten Haltung auch reflektierende Texte mit Idealen und Verhaltensregeln der Kanzleibeamten. Sie hinterließen der späteren literarischen Produktion ein Ferment von Themen und Metaphern aus der Welt der Schreiber“ (Holger Gzella S. 382 f.).

Die im Buch Daniel (vergleiche dazu https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/daniel-danielbuch/ch/79f24b5ce8c1276e2b92a2d218597e81/) überlieferten Geschichten aus dem babylonischen Königshof schöpfen aus der reichsaramäischen Schrifttradition und wurden auch gewiss deswegen in aramäischer Sprache verfasst. „Das schreiberische Kolorit der miniaturhaft ausgestalteten Episoden von Daniels Gedeihen und Gefährdung bei seiner Tätigkeit als Verwalter und Ratgeber am fremdländischen Hof erscheint zunächst im Vokabular. Verwaltungsbegriffe durchziehen die Titulatur mit ihren vielen Lehnwörtern, desgleichen die königlichen Erlasse […]. Was Daniel zu seiner ausgezeichneten Leistung befähigt, ist ein ›überragender Geist in ihm‹ (Daniel 6,4), und dieser Geist wird an anderer Stelle mit dem göttlichen Geist gleichgesetzt […]. Wie sich die Autoren des Buches die Verwandlung des Fachwissens zur göttlichen Erleuchtung vorgestellt haben, malt die durch Kunst, Musik und Literatur berühmt gewordenen Geschichte vom Menetekel aus, der unheilkündenden Flammenschrift an der Wand bei Belsazars Gastmahl. Auch sie ist ein religiös gefärbtes Schreiberlob, denn ihre Pointe betrifft das Lesen und Verstehen einer offenbarten Schrift“ (Holger Gzella S. 207 f.). 

Niemand, auch nicht die Gelehrten können die feurigen Buchstaben an der Wand ›Mene mene tequel u-parsin‹ deuten, bis auf Betreiben der Königsmutter Daniel, der vergessene Oberste der Zeichendeuter, in den Saal geführt wird (Daniel 5,10-16, vergleiche dazu Rembrandt van Rijn, Das Gastmahl Belsazars: https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Gastmahl_des_Belsazar#/media/Datei:Belshazzar’s_feast,_by_Rembrandt.jpg). Durch göttliche Eingebung und seine schreiberische Fähigkeit, doppelsinnige Formen dank der Kenntnis entlegenster Optionen korrekt zu bestimmen, kann Daniel das Orakel deuten: ›Mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt und beendet. Tekel, das ist, man hat dich auf der Waage gewogen und für zu leicht befunden. Peres, das ist, dein Reich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben“ (Daniel 5, 26 – 28). „Der Clou liegt darin, dass zur Zeit der Entstehung die Schrift keine Vokalzeichen kannte. Ein Leser musste die Wort mn’, tql und prs deshalb zwangsläufig zuerst mit den extrem häufigen aramäischen Nomina für die Gewichtsbezeichnung ›Mine‹, ›Schekel‹ und ›Halbmine‹ identifizieren. Das war offenbar so selbstverständlich, dass es im Text gar nicht eigens erwähnt wird. Weil diese Nomina aber isoliert keinen Sinn ergeben und die vermeintlichen Gewichtseinheiten überdies in keiner nachvollziehbaren auf- oder absteigenden Reihenfolge stehen, blieb die Bedeutung verschlossen. Allein Daniel erkannte, dass hier keine Nomina gemeint sind, sondern grammatisch ebenfalls mögliche, jedoch bei diesen Wurzeln äußerst seltene passive Partizipien, also ›gezählt‹, ›gewogen‹ und ›geteilt‹. Ohne Vokalmarkierung wurden diese Formen zwar anders ausgesprochen, aber gleich geschrieben. 

Hinter der Doppeldeutigkeit des Rätselspruchs steht die alltägliche Erfahrung der Alphabetschreiber, dass ein Wort in unvokalisierter Schrift prinzipiell nur mittels eines Ausschlussverfahrens durch kombinatorisches Abwägen unterschiedlicher, auch abwegiger Optionen ermittelt werden kann. Dabei fallen einem zuerst immer die häufigsten Lexeme und Formen ein, was aber bei schwierigen Texten wie Poesie schnell in die Irre führt. Das kann jeder bestätigen, der sich an rein konsonantisch geschriebenen hebräischen, aramäischen oder arabischen Texten versucht“ (Holger Gzella S. 209 f.).

ham, 5. Mai 2023

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