Rowohlt. Berlin Verlag, Berlin, 2025, ISBN 978-3-7371-0215-5, 431 Seiten, Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag, Format 22 x 15 cm, 30,00 €

Der 1951 in Friedberg geborene Politikwissenschaftler Herfried Münkler gilt als Vordenker der Geopolitik und als einer der scharfsinnigsten und gefragtesten Zeitdiagnostiker. In seinem neuesten Buch »Macht im Umbruch« zeichnet er die Folgen der Verlagerung von politischen zu ökonomischen Weltordnungsentwürfen nach, durch die politische Feinde in ökonomische Konkurrenten verwandelt wurden.

„Im Rückblick lässt sich feststellen, dass einige unerschütterlich an diese neue Ordnung einer generellen Verfriedlichung der Politik geglaubt und ihr Portfolio der Machtsorten daran ausgerichtet haben, während andere den Entwurf einer solchen Weltordnung nur als Deckmantel dafür benutzten, ihre Position in dem erwarteten Wiederaufleben eines »Wettstreits der großen Mächte« zu verbessern. Auf eine friedliche Weltordnung haben zumeist Demokratien gesetzt, während die Autokratien sich auf das Wiederaufflammen von Streit und Kampf vorbereitet haben“ (Herfried Münkler, S. 16 f.). Für Münkler ist es offen, wie dieser Streit zwischen Demokratien und Autokratien ausgeht, weil die Widerstands- und Erneuerungsfähigkeit der Demokratie zu stärken erheblich schwieriger und anspruchsvoller zu bewerkstelligen ist als die Widerstandsfähigkeit des Verfassungsstaates zu stärken. „Die Verwundbarkeiten des demokratischen Verfassungsstaats sind vielfältiger und größer als die autoritär-autokratischer Regime. Das ist die Folge dessen, dass Ersterer sich rechtliche Selbstbindungen auferlegt, während Letztere solche Selbstbindungen nicht kennen oder sie nach Belieben und Erfordernissen aufheben. Demgemäß liegt die entscheidende Verteidigungslinie der Demokratie in der Herausbildung und Schärfung der politischen Urteilskraft der Bürger. Es spricht vieles dafür, dass der Erfolg oder Misserfolg dieses Projekts einer Förderung von politischer Urteilskraft für die Selbstbehauptung einer Demokratie entscheidend ist“ (Herfried Münkler, S. 20).

In einer Welt des Tumults, in der die nach 1945 entwickelte Vorstellung von „Westen“ zerschossen, Putin mit Atomwaffen drohen, sich die Krim einverleiben, die Ukraine mit Krieg überziehen und Wolodymyr Selenskyj im Oval Office vor aller Welt vorgeführt werden kann, braucht es in der Bundesrepublik „sehr bald eine stabile Regierung, die sich ein Arbeitspensum von vier Jahren vornehmen kann und das dann in relativer Ruhe abarbeitet, also ohne sich in tägliche, narzissmusgetriebene Debatten zu versteigen. Und wenn wir die Aufgaben im Hinblick auf Europa ansehen, ist die zentrale Aufgabe, etwas flapsig formuliert, den Laden derzeit überhaupt zusammenzuhalten. Putin hat das ganz klare Interesse, die EU aufzulösen, Einzelne herauszubrechen. Ob Xi Jinping das auch will, da bin ich mir nicht so ganz sicher. Er hat im Rahmen der neuen Seidenstraßenstrategie im Südosten Europas schon rumgeknabbert, und er kann wegen der dadurch entstandenen Abhängigkeiten erwarten, dass diese Regierungen eine prochinesische Politik machen. Trump ist es derweil lieber, wenn er nur mit Deutschland oder Frankreich verhandelt und nicht mit der EU – denn da müsste er sich bei einem Verhältnis von 330 Millionen Amerikanern zu 440 Millionen Europäern auf Augenhöhe bewegen, was ihm bekanntermaßen nicht liegt“ (Herfried Münkler. Es regiert der reine Tumult. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 56 vom 8./9. März 2025, S. 11). 

In einer multipolar gewordenen Welt müssen sich die Europäer entscheiden, „ob sie einer der die globale Ordnung mitgestaltenden Akteure sein wollen – oder eine Ansammlung von Territorien, die einem der Pole (den USA oder aber Russland) zugehören und dessen Vorgaben und Erwartungen zu folgen haben. Oder vielleicht auch ein offener Raum, auf den die globalen Vormächte einwirken, um darin ihre eigenen Interessen zur Geltung zu bringen … Streben die Europäer Ersteres an, müssen sie ein politischer Akteur werden. Das heißt, dass der Prozess der politischen und wirtschaftlichen Vertiefung der EU weiter vorangetrieben werden muss – und Deutschland hat dabei als treibende Macht eine ausschlaggebende Rolle zu spielen. Schaffen die Deutschen das nicht, so wird zwangsläufig eine der beiden letztgenannten Alternativen eintreten, Europa also nicht nur in globaler Hinsicht irrelevant sein (was einigen in der EU durchaus recht wäre, weil sie hoffen, dann für die Verfolgung ihrer nationalpopulistischen Präferenzen größere Spielräume zu haben), sondern auch von anderen Regeln und Vorgaben auferlegt bekommen, die zumeist nicht in seinem Interesse sind – auf Dauer auch nicht in dem der Nationalpopulisten, die darauf setzen, die EU als politische Größe zu schwächen und dafür die Nationalstaaten an die erste Stelle zu setzen“ (Herfried Münkler, S. 311). 

Deutschland hätte in Europa die Aufgabe eines servant leader, einer Führungsmacht, die führt, indem sie sich unter Zurückstellung ihres eigenen Interesses immer wieder in den Dienst des Ganzen stellt. Seine Aufgabe wäre es, Kompromisslinien zu ermitteln, Kompromissbereitschaft bei den beteiligten Ländern aus- zutesten und diese Länder zu überzeugen, in den Kompromiss auch einzuwilligen und ihn mitzutragen. Deutschland müsste im europäischen und im eigenen Interesse durch Dienen führen. Die entstehenden Aufgaben sind so groß, dass sie kein Mitgliedstaat der Europäischen Union auf sich allein gestellt übernehmen kann, aus Deutschland nicht. Also muss es sich Unterstützung und Helfer suchen, mit denen sie gemeinsam bewältigt werden können. Der erste Kandidat für eine Führungskooperation mit Deutschland in der EU wäre Frankreich. Der worst case wäre, dass Frankreich jede Kooperation mit Deutschland verweigern oder die EU in einer EU-internen Koalition mit anderen nationalkonservativen oder rechtspopulistischen Kräften lahmlegen könnte. Der best case bei einer rechtspopulistischen Regierung in Frankreich bestünde darin, dass die Aussicht auf einen entsprechenden Einfluss den Rassemblement  National dazu nötigen würde, sich auf eine Beteiligung an der europäischen Führung einzulassen und dabei zu riskieren, einen Teil der eigenen Wähler zu verlieren. Ob Großbritannien der EU dauerhaft fernbleiben wird, bleibt abzuwarten.

Als Zentral- und Zentripedalmacht muss Deutschland erstens für eine Erneuerung der wirtschaftlichen Dynamik sorgen und damit auch die derzeitige Niedergangs- und Abstiegsstimmung überwinden. Eine Erneuerung der Wirtschaftsdynamik wird nur möglich sein, „wenn einige Limitierungen zurückgenommen werden, in denen technologische Bremseffekte mit einer ausufernden Dokumentationspflicht für die Unternehmen verbunden sind. Angesichts der sozioökonomischen Folgen des Auslaufens des fordistischen Kondratieff-Zyklus ist und war die Politik einer zusätzlichen Unternehmensbelastung extrem kontraproduktiv. Das gilt ebenso für die (natur-)wissenschaftliche Forschung, wo eine Reihe von Wissenschaftlern Deutschland verlassen hat, um in Ländern mit einem niedrigeren Reglementierungsniveau zu arbeiten. Ein Land, das führen will beziehungsweise führen muss, kann nicht ständig den Fuß auf der juristischen Bremse haben. Dieser Wechsel zur Beschleunigung ist umso mehr vonnöten, je stärker sich die deutsche Regierung am Erwartungsprofil eines servant leader orientiert und die Aufgaben einer Macht übernimmt, die politisch führt, indem sie die Erfordernisse der Europäischen Union über die bedingungslose Verfolgung der kurzfristigen nationalen Interessen stellt.

Auf Dauer kann keine Regierung normative Forderungen über das wohlverstandene Eigeninteresse der Bevölkerung stellen. Sie muss entscheiden, wo sie ihre Schwerpunkte setzt und wofür beziehungsweise wie oft sie den Bürgern Lasten auferlegt und Verzicht abverlangt. Tut sie das in einem fort und in tendenziell allen Politikfeldern, wird sie politisch scheitern, weil die Bürger ihr dabei nicht zu folgen bereit sind. Es gibt nicht nur eine geopolitische, sondern auch eine moralpolitische Überdehnung. Der Hauptprofiteur eines moral overstretch ist der Populismus, dessen Einfluss begrenzt bleiben muss, wenn ein so großes und anforderungsreiches Projekt wie die sanfte und dienende Führung der EU erfolgreich sein soll. Konkret: die Regierung muss den auf sie einredenden Nichtregierungsorganisationen, die häufig die Verursacher eines moral overstretch sind, des Öfteren die kalte Schulter zeigen, um sich nicht in einem Gewirr moralpolitischer Anforderungen zu verheddern. Eine dynamische Wirtschaft ist die Basis des Wohlstands, und eigenes Wohlergehen ist die Voraussetzung dafür, dass Wohlstandstransfers, wie sie in der EU nun einmal an der Tagesordnung sind, von den Bürgern des bei weitem größten Nettozahlers politisch akzeptiert werden.

Des Weiteren müssen die Verteidigungsanstrengungen erheblich erhöht werden, um den russischen Drohungen sowie den US-amerikanischen Abzugsankündigungen standhalten zu können und sich nicht in vorauseilendem Gehorsam gegenüber einem der beiden gefügig zeigen zu müssen“ (Herfried Münkler, S. 378 f.).

Wenn Deutschland in den von ihr verlangten Aufgaben versagt, wird der Umbruch der Macht mit einem Kollaps der Europäischen Union enden. „Europa wird keine globale Rolle mehr spielen können, was dann auch heißt, dass die Werte Europas keine durchsetzungsfähige Stimme mehr haben. »Umbruch der Macht«, wie sich der Titel des Buches variieren lässt, ist ein für unterschiedliche Entwicklungen offener Begriff: Er kann für eine geordnete und von den politischen Akteuren mit sicherer Hand gesteuerte Umschichtung der Machtverhältnisse stehen, in deren Verlauf es zu einer veränderten Hierarchie der Staatenwelt kommt, bei der die Europäer eine beachtliche Rolle spielen sollten. Aber ebenso kann es auch zu deren Gegenteil kommen, einer Anarchie der Staatenwelt, bei der man abends nicht weiß, in welchem Bündnis oder in welcher politischen Feindschaft man sich am nächsten Tag befindet. Das sind Konstellationen, wie sie in den 1920er und 1930er Jahren in Europa vorherrschten. Kein politischer Akteur mit Verantwortungsbewusstsein wird solche Konstellationen anstreben“ (Herfried Münkler, S. 381).

ham, 26. März 2025

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