Überraschende Erkenntnisse über unsere längste Lebensphase

Kösel-Verlag, München, 2017, ISBN 978-3-466-34637-0, 224 Seiten, 12 Abbildungen und Tabellen,
Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 22 x14,2 cm, € 19,99 (D) / € 20,60 (A) / CHF 26,90

Nach Hans-Werner Wahl werden die neuesten psychologischen Befunde unser Verständnis vom Altern in
Zukunft gravierend verändern. „Die heutigen Älteren haben nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun mit
jenen der 1970er-Jahre. Da ist etwas völlig Neues […] entstanden […]. Altern ist nicht mehr etwa
»Besonderes« […], sondern eine von mehreren Lebensphasen, die alle ihre Sonnen- und Schattenseiten, ihre
Gewinn- und Verlustaspekte besitzen“ (Hans-Werner Wahl S. 47). Und es ist die längste. Der 1954 geborene
renommierte Alternsforscher und Träger des M. Powell Lawton Awards der Amerikanischen
Gerontologischen Gesellschaft begründet seine These unter anderem mit Langzeitstudien, die
unterstreichen, wie wichtig unsere eigenen Bewertungen des Älterwerdens für den Verlauf des Alterns und
sogar die Länge des Lebens sind, und bestätigen, dass sich der Satz „Ich bin so alt, wie ich mich fühle“ als
wissenschaftlich hoch evident erweist. Das „junge Alter“ zwischen dem 60. und dem 80. Lebensjahr muss
als qualitativ völlig neue Lebensphase gedeutet werden und das „hohe Alter“ jenseits des 80. Lebensjahrs
verlangt neue Bewältigungskompetenzen. Es wird in seinen Herausforderungen besser verstanden, wenn
man es nicht mehr wie bisher von den schon gelebten Jahren her zu deuten versucht, sondern von der
verbleibenden Distanz zum Tod.

Wir werden immer älter und gewinnen immer mehr an Lebensjahren; wir werden im Vorfeld des weiter nach
hinten geschobenen Todes aber auch körperlich und psychisch immer fragiler. Die alternsbezogenen
Veränderungen und Stabilitäten von Verhalten, Leistungen, Kompetenzen und Erleben im höheren
Lebensalter sind Gegenstand der neuen Alternspsychologie. Sie orientiert sich an gleichwertig gewichteten
Lebensphasen und einem Entwicklungsbegriff, der in allen Phasen mit Verlusten und Gewinnen rechnet,
weiter an einem Verständnis des Alterns, das bis ins höchste Alter nicht gleichförmig verläuft und an der
Unterscheidung von normalem, krankhaftem und erfolgreichem Altern. 60 bis 70 Prozent der über 65-
Jährigen können heute mit einem normalen Altern rechnen. „Normales Altern […] meint das Erreichen der
durchschnittlichen Lebensspanne […] und die Erfahrung von Beeinträchtigungen lediglich durch
»alterstypische« Einbußen im organisch-somatischen und psychischen Bereich. Das bedeutet nicht, dass
normales Altern gleichzusetzen wäre mit Gesundheit. Altern geht natürlich mit Funktionseinbußen unserer
Sinne, unserer Bewegungsfähigkeit, unseres Denkens und unseres Gedächtnisses einher […]. Aber die
meisten Älteren können mit diesen Einbußen ziemlich gut umgehen. Normales Altern heißt: vieles sehr gut
hinbekommen, sehr einschneidende Einbußen der eigenen Lebensqualität nicht erfahren, dennoch spüren und
anerkennen, dass man älter geworden ist […]. Krankhaftes Altern hingegen beginnt, wenn spezifische
Krankheitssymptome (z. B. massive Herzbeschwerden, eine Krebserkrankung, eine Demenzerkrankung)
einschließlich der damit verbundenen Leistungseinbußen und Funktionseinschränkungen immer mehr ins
Zentrum des alltäglichen Lebens und der alltäglichen Lebensqualität treten. Damit ist in der Regel eine
Verkürzung der durchschnittlich zu erwartenden Lebensdauer bei gleichzeitig eingeschränkter Lebensqualität
verknüpft. Wiederum ganz grob lassen sich etwa 20 Prozent der Älteren dem »Krank-Modus« in einem solch
umfassenden Sinn zuordnen“ (Hans-Werner Wahl S. 36 ff.)
.
10–20 Prozent altern dagegen so „erfolgreich“, „dass die erreichte Lebenszeit, die physische
Funktionstüchtigkeit, aber auch die subjektive Lebensqualität gegenüber dem Durchschnitt einer
vergleichbaren Population deutlich erhöht sind“ (Hans-Werner Wahl S. 37). Dieses „erfolgreiche Altern“
kann man in aller Regel zumindest im jungen oder „Dritten Alter“ und zum Teil auch noch im höheren oder
„Vierten Alter“ mitgestalten. Ältere Menschen verfügen, so die neue Alternspsychologie, über einen
mächtigen psychischen Mechanismus, der es ihnen erlaubt, nicht mehr erreichbare Ziele so um- und neu zu
bewerten, dass sie sich mit dem nicht mehr Erreichbaren arrangieren können. Sie können Aktivitäten und vor
allem Menschen, die ihnen guttun, auswählen und alles andere links liegen lassen. Sie sind Weltmeister im
Kompensieren und behalten dabei das Gefühl und die Einschätzung, noch handlungsfähig zu sein und alles
unter Kontrolle zu haben. Und: Wer sich in früheren Lebensphasen körperlich aktiv betätigt hat, kann im
Alter mit „höherer kardio-vaskulärer Fitness, besserer kognitiver Leistungsfähigkeit und kürzeren, weniger
schwerwiegenden Phasen von Pflegebedürftigkeit spät im Leben“ rechnen (Hans-Werner Wahl S. 39).

Im Vierten Alter, in den Jahren 80 + stoßen die biologischen und psychischen Ressourcen zunehmend an ihre
Grenzen. Es „kommt, zum ersten Mal im Leben, zu intensiven Erfahrungen von Mehrfacherkrankungen
(Multimorbidität), die nur noch sehr begrenzt veränderbar sind. Die […] Kompensationen und
Selbstregulationsmechanismen greifen weniger gut, sind aber immer noch hilfreich“ (Hans-Werner Wahl S.
40). Gleichwohl bleibt das Wohlbefinden noch relativ stabil; man hat deshalb vom Wohlbefindens-Paradox
gesprochen. In der terminalen Phase des Fünften Alters bestimmt der Abstand vom Tod, was körperlich noch
möglich ist und wie man sich fühlt. In der Distanz-zum Tod-Forschung hatte man gefragt, ob es eine Art
»point of no return« gibt, bei dem der Tod gleichsam das Ruder übernimmt und das Wohlbefinden in den
Abgrund zieht. Aus einer Studie, die den Verlauf von Lebenszufriedenheit in Abhängigkeit zum Tod
untersucht, schließt man, dass die „Übergangszeit von einer wahrscheinlich präterminalen Phase zu einer
terminalen Phase der Entwicklung der Lebenszufriedenheit etwa bei drei bis fünf Jahre vor dem Tod“ liegt,
„unabhängig vom individuellen Sterbealter“ (Hans-Werner Wahl S. 180 f.). Vergleichbares gilt nach einer
anderen Studie für das emotionale Wohlbefinden. „Zudem wurde […] ein beschleunigter Anstieg des
negativen Affekts gefunden, der schon etwa zehn Jahre vor dem Tod begann und dann beschleunigt
fortschritt […]. Ganz wichtig dabei: Diese Befunde bedeuten keineswegs, dass alternde Menschen, wenn es
auf das Lebensende zugeht, todunglücklich oder depressiv werden. Es kann sogar sein, dass sie den stärkeren
Rückgang ihres Wohlbefindens in Abhängigkeit von der zeitlichen Distanz zum Tod gar nicht als Verlust
erleben, denn es geht hier ja um schleichende Phänomene […]. Andererseits besitzen Menschen eine hohe
Sensibilität für ihr kognitives und affektives Wohlbefinden und für dessen Veränderung über die Zeit hinweg.
Man kann deshalb davon ausgehen, dass viele Menschen ab einem gewissen Zeitpunkt in ihrem weit
fortgeschrittenen Leben kognitiv und emotional tatsächlich spüren, dass sie in die Endphase ihres Lebens
eingetreten sind“ (Hans-Werner Wahl S. 181 f.). „Es ist anzunehmen, dass die Annäherung an das jeweilige
individuelle Lebensende vielfach beschleunigte Veränderungen psychologischer Merkmale mit sich bringt,
und zwar als Folge derjenigen »basalen« körperlichen Abbauprozesse, die letztendlich zum Tod führen.
Nimmt man weiter an, dass dem Tod vorausgehende körperliche Abbauprozesse meist unumkehrbar sind und
somit exklusiv jeweils nur in der terminalen Phase der individuellen Lebensspanne auftreten, so hätten wir
hier ein Merkmal, das diese Phase von allen vorherigen grundlegend unterscheidet“ (Hans-Martin Wahl S.
183 f.).

Kann man aber, wenn wir letztendlich auf den Tod zugehen, noch von „erfolgreichem Altern“ sprechen?
Kann man auch „erfolgreich“ sterben? Wahl entscheidet sich nach der Diskussion möglicher Alternativen für
die Beibehaltung des Konstrukts „erfolgreiches Altern“, weil es nach seiner Meinung pluralistische und
visionäre Sichtweisen der Alternsforschung zu Altern und Älterwerden fördert, „ganz gleich ❲,❳ ob in höchster
Kompetenz oder in hoher Fragilität und Behinderung“, und es „ist als Prozess grundlegend für die
Alternsforschung grundsätzlich gut“ (Hans-Werner Wahl S.193). Aber jeder Versuch, das Konzept nachhaltig
zu definieren, würde in unendliche Begründungsschleifen führen. Deshalb will er die Dimensionen
erfolgreichen Alterns offenhalten, pluralistische Sichtweisen und begriffliche Flexibilität ermöglichen und
das Konzept „in jedem Fall auch relational und kontextuell betrachten. Damit können wir auch krankes
Altern und Altern mit schwerwiegenden funktionalen Verlusten und Pflegebeziehungen stärker […]
einbinden […]. Damit verbunden ist auch die Überlegung, […] den Begriff der Autonomie und
»Agency« […] nicht zu überziehen. Ältere Menschen sind […] keine […] »einsamen« Inseln, die nichts
mehr wünschen, als Unabhängigkeit zu bewahren. Ja, ein gewisses Maß an Selbständigkeit ist von den
meisten Älteren hoch erwünscht, aber dies darf Abhängigkeiten doch nicht ausschließen “ (Hans-Werner
Wahl S. 194 f.). Schließlich ist die Arbeit an Altersutopien für Wahl schon an sich etwas Erfolgreiches.

„Sind wir also wirklich unseres Alterns Schmied? Die Antwort ist ein klares Jein“ (Hans-Werner Wahl S.
209). Nach Wahl sind die Menschen zwar Gestalter ihres eigenen Alterns, aber nur innerhalb der vorgegeben
biologischen Grenzen. Die natürlichen Selbstregulationskräfte sind erheblich. Und gute psychosoziale
Betreuung, Gero-Technologien wie Roboter, Exoskeletts, Sensortechnologien und die Nutzung des Internets
helfen heute schon und künftig noch vermehrt, einzelne Alternsdefizite zu kompensieren. Aber beim
Zusammentreffen verschiedener chronischer Krankheiten und Funktionseinbußen werden die Grenzen der
psychischen und physischen Widerstandsfähigkeit schließlich doch erreicht und man stirbt. Der Tod
markiert, wenigstens bisher, die Grenze, die die neue Alternspsychologie erforschen und erfolgreich
begleiten kann. Deshalb schweigt sie weitestgehend zum Sterben und enthält sich jedweder Aussage zum
Tod. Ob man aber mit diesem Schweigen leben und sterben kann und will, steht auf einem anderen Blatt.

ham, 2. Juni 2017

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