Böhlau Verlag, Köln 2020, ISBN 978-3—412-51855-4, 301 Seiten, 25 Abbildungen, Zeittafel, Hardcover, Format 23.5 x 16,5 cm, € 35,00
Wer versucht, sich auf 300 Seiten der Person und dem Werk des vermutlich letzten Universalgelehrten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts anzunähern und dabei auch noch die Grundlinien seines Denkens herausarbeiten will, braucht einen stupenden Überblick über das bis heute kaum ausgeschöpfte Werk des Ökonomen, Juristen, Historikers, Politikwissenschaftlers und Soziologen. Max Webers weit gespannte Interessen richteten sich auf wirtschaftliche, rechtliche, historische und sozialgeschichtliche Studien von Antike, Mittelalter und Moderne. Nach seiner eigenen Aussage stand seine wissenschaftliche Arbeit unter den Herausforderungen, die von den Arbeiten von Karl Marx und Friedrich Nietzsche ausgegangen sind. „Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten … kann man daran messen, wie er sich zu Nietzsche und Marx stellt. Wer nicht zugibt, daß er gewaltigste Teile seiner eigenen Arbeit nicht leisten könnte, ohne die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere. Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt“ (Max Weber, 1920).
Dass der bis zum Wintersemester 2019/2020 an der Humboldt-Universität Allgemeine Soziologie lehrende Hans-Peter Müller diese Herausforderung glänzend bewältigt, zeigt sich unter anderem auch daran, dass seine 2007 in erster Auflage als Übersicht für Studierende aller Fachrichtungen konzipierte Publikation dreizehn Jahre später nahezu unverändert erscheinen kann: Ergänzt sind nur zwei Kapitel zu Webers Wirtschaftssoziologie. Das rundet das Weber-Bild insofern entscheidend ab, als nunmehr Wirtschaft, Politik/Herrschaft und Kultur/Religion halbwegs gleichberechtigt nebeneinander stehen.
Webers Interesse lässt sich auf die Frage zuspitzen, welche Verkettung von Umständen dazu geführt haben, dass auf dem Boden des Okzidents und nur dort Kulturerscheinungen auftraten, die sich in Richtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit weiterentwickelt haben. „Die okzidentale Konstellation … umfasst in rationaler Form Kapitalismus, Wissenschaft, Kunst, Recht, Staat, Bürokratie und Fachbeamtentum sowie freie Lohnarbeit … Spezifisch fragt er danach, welche Folgen die gesellschaftliche Rationalisierung für die individuelle Lebensführung zeitigt. Um diese Frage beantworten zu können, benötigt man eine Vorstellung von der modernen Gesellschaft. Weber lehnt den Begriff der Gesellschaft ab und spricht lieber von ›Vergesellschaftung‹, aber das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse fasst er mit einer Theorie der institutionellen Differenzierung. Die ausdifferenzierten Bereiche einer modernen Gesellschaft begreift er als Wertsphären und Lebensordnungen. Die Rede von Wertsphären spielt auf die Deutungs- und Sinnkomponente an, die Vorstellung von Lebensordnungen verweist auf die institutionelle Eigenart“ (Hans-Peter Müller S. 244).
Der okzidentale Rationalismus ruht 1. auf „dem Kapitalismus, ›der schicksalsvollsten Macht unseres modernen Lebens‹, und 2. der Religion. Beide, Kapitalismus und Religion sind die zentralen Mächte, welche die Lebensführung der Menschen prägen … Am Anfang umfasst und regelt die Religion fast alles, und heute scheint sie nur noch ein Glaubenssystem auf privater Grundlage zu sein. Der Kapitalismus im Verein mit Wissenschaft und Technik, bürokratischer Organisation und dem Berufsmenschentum drückt seinen Stempel vor allem den modernen Gesellschaften der Gegenwart auf und trägt maßgeblich dazu bei, die Säkularisierung und Entzauberung der Welt voranzutreiben, indem das gesellschaftliche Leben in wachsendem Maße seiner technisch-instrumentellen Rationalität unterworfen wird“ (Hans-Peter Müller S. 244 f.). Heraus kommt die Ausdifferenzierung der Sphären, die Einbindung in ein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ und „der Berufsmensch ohne Geist und der Genussmensch ohne Herz“ (Max Weber).
„Wer sich der ökonomischen Sphäre (›der Kapitalist‹), der politischen Sphäre (›der charismatische Führer‹), der religiösen Sphäre (›der Priester, Prophet, Zauberer‹), der intellektuellen Sphäre (›der Wissenschaftler‹) oder der ästhetischen Sphäre (›der Künstler‹) voll und ganz verschrieben hat, der bekommt die Eigengesetzlichkeiten des Dämons, der die Fäden seines Lebens in den Händen hält, mit aller Macht zu spüren und wird jedenfalls bei konsequent methodischer Lebensführung fast zwangsläufig mit den Anforderungen der anderen Lebensordnungen in Konflikt geraten … Wo der erotische Maßstab der reinen Liebe angelegt wird, ist die rationale Kalkulation von Gewinnerwartung und Rentabilität einfach fehl am Platze. Wer das doch tut, verwechselt Liebe mit Prostitution. Wo der religiöse Glaube … gefordert wird …, [muss] das ›Opfer des Intellekts‹ … erbracht werden. Viele Ketzer … haben ihre intellektuelle Redlichkeit und Ehrlichkeit mit dem Tod bezahlt. In Webers Augen sind diese Wertkonflikte die unausweichliche Folge der Entstehung von unterschiedlichen Wertmaßstäben, Beurteilungskriterien und ›letzten Wertungen‹ im Zug der Ausdifferenzierung von spezifischen Lebensbereichen, die nur um den Preis einer fadenscheinigen Harmonisierung rückgängig gemacht und in einer einheitlichen Werteordnung synthetisiert werden können. Die Heterogenität der Werte ist … das spezifische Kennzeichen der Moderne … Es existiert also nicht so etwas wie eine Art gemeinsamer ›Überwährung‹ … Das, was einst die Religion zu stiften versprochen hatte, Versöhnung, Einheit, Harmonie und eine allgemeine Brüderlichkeitsethik, ist unter modernen Bedingungen nicht mehr zu haben“ (Hans-Peter Müller S. 247 f.).
In der Folge bleibt offen, ob und inwieweit eine moralisch inspirierte, sinnvolle Lebensführung überhaupt noch möglich ist. „Die letzten Werte verbindlich zu setzen, ist gerade nicht Aufgabe der modernen Wissenschaft, sondern obliegt der freien Wahl eines jeden Menschen – eine schicksalhafte Entscheidung, in der ›jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält‹“ (Max Weber nach Hans-Peter Müller S. 250).
ham, 12. Mai 2022