Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst, Band 19

Gebr. Mann Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-7861-2804-5, 272 Seiten, 15 Farb- und 26 schwarzweiße Abbildungen, Hardcover, Format 24,5 x 17,5 cm, € 59,00 (D)

In der Seelsorge und Psychotherapie sind eine ganzheitliche Selbst- und Fremdwahrnehmung für eine aufmerksame, offene und vorbehaltlos Begegnung mit dem Anderssein des Anderen unabdingbar. Zum aufmerksamen Hören und Sehen muss freilich auch das genaue Wahrnehmen dessen kommen, was man mehr spüren und erahnen als hören und sehen und mit Emmanuel Levinas als Spuren im Antlitz, in den Lebensumständen und in der Biografie des Anderen beschreiben kann. 1945 erfuhr Levinas, dass seine Eltern und Brüder in Litauen der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik zum Opfer gefallen waren. Danach hat er geschworen, den deutschen Boden nie wieder zu betreten. In seiner Ethik stellt er seither nicht mehr den vernunftbegabten Menschen ins Zentrum, sondern den Menschen als verwundbares Gefühlswesen (vergleiche dazu Heidemarie Bennet-Vahle, Ethik – Sich den Belangen des anderen öffnen. In: https://ethik-heute.org/ethik-sich-den-belangen-des-anderen-oeffnen/).

Von Levinas ausgehend hat Andreas-P. Alkofer 1997 eine ›Ethik als Optik und Angesichtssache‹ angedacht. Diese Ethik nimmt ihren Ausgang nicht mehr bei theoretischen Problemlösungen und wie auch immer begründeten Generationen und Länder übergreifenden Menschenbildern, sondern bei den „bedrängenden Implikationen der Alterität, der Andersheit des unverrechenbaren, nicht-idealisierten Anderen … Die dabei entstehende Suchbewegung mündet in Facetten einer vorsichtig angezeichneten ›Fundamentalkasuistik‹, die sich als advokatorisch-adjuvatorische Ethik des Ratens in der Krise präsentiert und ihre Ausrichtung und Quelle in der kommemorierten Begegnung mit dem asymmetrischen Anderen gewinnt, der jeder Systematisierung einen ›anthropologischen Vorbehalt‹ entgegenstellt. Damit wird die oftmals verdächtigte und verdächtige ›Kasuistik‹ rehabilitiert – und im Ansatz umgedreht: Sie nimmt ihren Ausgang nicht bei theoretisch eruierten Probemlösungen, sondern bei konkreten Problemanfängen, wie sie sich als ›Spuren‹ in ›Antlitz‹, Gesicht und Biographie des/der Anderen einzeichnen. Dieser gewendete Ansatz zeigt sich dabei gerade in seiner Inkompatibilität sowohl als theologiekompatibel als auch als theologiekritisch, nimmt man Maß … an Phil 2,3f. “ – und transponiert es (vergleiche dazu Andreas-P. Alkofer, Ethik als Optik und Angesichtssache: https://www.lit-verlag.de/isbn/978-3-8258-3240-6). 

Hana Gründler entwickelt knapp zwanzig Jahre später in ihrer mit dem ›Benvenuto-Cellini Preis für herausragende Dissertationen des Kunstgeschichtlichen Instituts der Goethe-Universität‹ Frankfurt ausgezeichnete Dissertation ›Die Dunkelheit der Episteme. Zur Kunst des aufmerksamen Sehens‹ eine Art visuelles Pendant zu Alkofers ethischer Levinas-Rezeption, eine Etho-Ästhetik des Visuellen. In ihr lotet sie das komplexe Verhältnis von Kunst und Philosophie und damit die Bestimmung dessen aus, was visuelle Erkenntnis bei ausgewählten Künstlern wie Leon Battista Alberti, Georgio Vasari und Leonardo da Vinci und Philosophen wie Ludwig Wittgenstein, Michel Foucault, Judith Butler ist und was sie im Levinas’schen Sinn sein könnte. Die von ihr angedachte Etho-Ästhetik des Visuellen zielt auf eine ästhetische und ethische Sensibilisieren ab, die es den Einzelnen ermöglicht, in einen besonderen Zustand der Reflexion und Achtsamkeit einzutreten.

„Eine solche auf dem Sehen basierende Ethik der Aufmerksamkeit eröffnet, so die These, durch die Veränderung der eigenen Wahrnehmung einen anderen Zugang zur Alterität und hilft, das zu erfassen, was ›vor unseren Augen geschieht‹, wie es Michel Foucault so treffend formuliert hat. Der hier vorliegende methodisch wie systematisch breit angelegte Versuch, eine Etho-Ästhetik des Visuellen zu entwickeln, muss sich dabei stets der inneren Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des Phänomens bewusst sein. Hypostasierende und subjektivierende Vorstellungen des Bildes, die häufig mit einer Akzentuierung des Affektiven und Emphatischen einhergehen, müssen vor dem Hintergrund einer Ethik des Sehens ebenso problematisiert werden wie die … aufklärerische Annahme eines auf Vernunft basierenden, (sich selbst) transparenten Denkens und Sehens. Eine zentrale Aufgabe des Buches ist es somit, die subtilen, nicht immer wahrnehmbaren Übergänge zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Sehen und Gesehenwerden, Wissen und Nichtwissen zu untersuchen. Denn das kritische und disruptive Potential von Kunst und Theorie entwickelt sich häufig in diesen nicht genau bestimmbaren Randbereichen, in denen gängige Sichtweisen und epistemische Normen hinterfragt und transformiert werden. Nicht zuletzt muss im kritischen Sinne auch die Beziehung zwischen Sehen und Theorie genaue analysiert und verstärkt über die Verantwortung der Letzteren nachgedacht werden“ (Hana Gründler S. 13 f.).

„Die Vorstellung, dass die Ethik eine Optik zu sein habe, die zugleich die dem Sehen impliziten Momente der Macht und der Neutralisierung kritisch hinterfragt, steht im Zentrum der … Emmanuel Levinas gewidmeten Seiten. Vor dem Hintergrund eines an ihm orientierten Denkens soll darüber reflektiert werden, welcher Art unser Umgang mit dem Anderen und mit dem Bild des Anderen ist, insbesondere dann, wenn es sich um ein Bild des Schreckens und der Gewalt handelt“ (Hana Gründler S. 24). „Bilder der Gewalt, in denen die absolute Alterität des anderen zutage tritt, in denen zugleich die Verletzlichkeit und Erhabenheit des Antlitzes des anderen Menschen ersichtlich wird, brechen in den objektivierenden und kategorisierenden Umgang mit Bildern ein und stellen somit eine Irritation dar – eine Irritation, die ethisch ist, wenn man Levinas darin folgt, dass das Ethische stets Andersheit, Schmerz und Verunsicherung in sich trägt. Seine Idee der Ethik als Optik … reicht nun sicherlich nicht aus, um die vielfältigen Herausforderungen durch Bilder des Schreckens bewältigen zu können und noch weniger dafür, die hiermit zusammenhängenden ethischen Probleme zu lösen. Aber die Stärke von Levinas’ Position besteht darin, an die Natur der ethischen Anforderung zu erinnern, daran also, dass die alltägliche Erfahrung des Von-Angesicht-zu Angesicht der Ursprung jeglicher Ethik ist und der Umgang mit der Sichtbarkeit und ihren Grenzbereichen eine Herausforderung und zugleich eine Verantwortung darstellt“ (Hana Gründler S. 222 f.).

Der Umgang mit der Fremdheit des Anderen (und in der Kunstgeschichte mit der Fremdheit des Objekts, die niemals gänzlich überwunden werden kann), muss zumindest dann nicht in einen auf sich selbst bezogenen ›narzisstischen Zirkel‹ münden, „wenn man sich der eigenen (ethischen) Teil-blindheit gewahr ist, man also ein Bewusstsein für das eigene Nichtwissen, aber auch für die Grenzen des Gegenübers besitzt“ (Hana Gründler S. 227). Auf der anderen Seite kann aber auch die Verantwortung für das eigene Sehen nicht aufgeben werden. Die „Kritik an hypostasierenden und subjektivierenden Vorstellungen des Bildes bedeutet … nicht, zu glauben, dass Bilder nicht unsere Wahrnehmung und unser Denken beeinflussen würden – ganz im Gegenteil, die Überzeugung, dass wir durch die Betrachtung von Kunstwerken zu aufmerksamen Individuen werden, die ihre ethische Kompetenz erweitern, beruht gerade auf dem Vertrauen auf die Wirkkraft der Bilder …

Eine Kunstgeschichte, die die Herausforderung annimmt, das Verhältnis von Kunst, Ethik und Sehen in seiner Tiefendimension zu erschließen, muss sich also einerseits weiterhin dem Konflikt stellen, dass es keine Eins-zu -eins-Entsprechung zwischen ästhetischem Erleben, Sehen und Transformation in Sprache gibt, und zugleich muss sie das Bewusstsein für eine Verantwortung des Sehens schärfen, eines Sehens, das die Fremdheit des Gegenübers anerkennt. Denn gerade weil sie stets auch eine Geschichte des Sehens ist, kann Kunstgeschichte eine kritische Instanz für aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen darstellen, in denen das Nachdenken über Grenzbereiche des Sichtbaren dringlicher ist den je“ (Hana Gründler S. 227 f.).

ham, 8. Februar 2023

Kommentare sind geschlossen.

COPYRIGHT © 2023 Helmut A. Müller