Wie die Generationen sich wechselseitig fördern
Psychosozial-Verlag, Gießen, 2015, ISBN 978-3-8379-2492-3, 282 Seiten, 22 Abbildungen, Broschur,
Format 21 x 14,9 cm, € 24,90
Sieben Generationen aus der eigenen Familie haben heute 60 bis 85-Jährige selten im Blick. Wenn es gut
geht, kennen sie noch die Gesichter der Großeltern aus alten Fotoalben und vielleicht auch noch die eine
oder andere Erzählung von den Urgroßeltern. Aber schon die Zuordnung ihrer Namen und Berufe zu den
Fotografien will nicht mehr so recht gelingen. Der Zweite Weltkrieg, die längeren Ausbildungszeiten und die
spätere Heirat tun ein Übriges. Wer sieben Generationen aus eigener Anschauung überblicken will, muss
schon sehr früh eigene Kinder, Enkel und Urenkel bekommen und Eltern, Großeltern und Urgroßeltern
gehabt haben, die überdurchschnittlich alt geworden sind. Günter Heisterkamp kann sich in seiner Studie
über Glück und Leid im transgenerationalen Familiengefüge auf immerhin sechs Generationen und sechs
Enkel beziehen. „Die multiplen Aspekte, dass ich selbst Enkel war und Enkel habe, Vater bin und einen Vater
hatte, Großvater bin und Großeltern hatte, stellen einen fundierten Zugang bereit, um die transgenerationalen
Wirkungszusammenhänge von Familien bzw. Familienzweigen oder -linien nachzuvollziehen. Ich gehe also
von meinen eigenen »positiven« Erfahrungen aus, die ich mit vielen anderen Großeltern teile, dass Enkel
mein Leben bereichern und erfüllen“ (Günter Heisterkamp S. 32) und, frei nach Victor Hugo, zur
„Morgenröte des Alters“ werden können.
Seine alltagspsychologische, salutogenetische und biografische Abhandlung dient der differenzierenden und
vertiefenden Erfassung der Ausgangserfahrung, „dass die Wirkungszusammenhänge zwischen Großeltern
und Enkelkindern die Quelle erhebender Glückserfahrungen (und natürlich auch quälender
Unglückserfahrungen darstellen) […]. Ausgangs- und Bezugspunkt bildet die Grundtatsache, dass sich
Enkelkinder und Großeltern in einer je spezifischen Entwicklung befinden und sich bei ihrem Kontakt darin
fördern und hindern können“ (Günter Heisterkamp S. 33). Seelisch gesehen befinden sich beide, Enkelkinder
und Großeltern im Wandel. „Die einzige Konstante im Seelischen […] ist der entwicklungsmäßige
Wandel“ (Günter Heisterkamp S. 41). Großeltern können die mit Ängsten verbundenen Entwicklungsschritte
ihrer Enkel vom Vertrauten ins Fremde relativ „angstfrei“ begleiten und ihnen bei ihren Schritten zum
eigenen Selbst eine Art beweglichen Halt anbieten. Sie sind ihren Enkeln so nah, dass diese sich ihnen
anvertrauen können. Und sie sind so weit entfernt von ihnen, dass die Enkel keine Trennungsängste
entwickeln müssen, wenn sie sich von ihnen emanzipieren, ihre eigenen Wege auskundschaften und
selbständig weitergehen.
Umgekehrt fördern Enkelkinder auch ihre Großeltern, die „mit zunehmendem Alter immer wieder einen
vertrauten Halt aufgeben und neue Formen ihrer Wirklichkeit herstellen“ müssen. „Eltern und Großeltern
fühlen sich beglückt, wenn sie von ihren Kindern wahrgenommen werden“ (Günter Heisterkamp S. 76). Die
Geburt seines ersten Enkelsohns hat Heisterkamp in eine wunderbare Glücksatmosphäre eintauchen und sie
mit seinem Schwiegersohn zünftig in einem Brauhaus feiern lassen. „Von den vielen Erinnerungen an die
Zeit danach erscheinen mir einige besonders bedeutsam zu sein“ In der folgenden Szene kontrastiert die
scheinbare Alltäglichkeit „mit der Tiefe meines Erlebens. Mein Enkel war etwa ein halbes Jahr alt, als ich
zum ersten Mal allein mit ihm durch die Felder am Niederrhein ging. Ich weiß noch, wie meine Tochter den
Kinderwagen liebevoll präparierte, mir noch einige Hinweise mit auf den Weg gab und ich mit ihm bei
strahlendem Frühlingswetter durch die Auen spazierte. Während wir anfangs noch miteinander »erzählten«,
also einen dieser wunderschönen gestischen und mimischen Dialoge führten, die allen Beteiligten so einen
Spaß machen, schlief er selig ein. Dadurch gewann mein eigenes Erleben noch mehr Raum, und ich war
beseelt von einem tiefen Gefühl der Freude, des Glücks und der Dankbarkeit über dieses Geschenk der
Schöpfung. Ich weiß, wie ich emotional ergriffen durch die Landschaft ging, mir Tränen des Glücks in die
Augen traten und ich diesen meditativen Zustand lange behielt, bis mich die Realität des Spaziergangs
allmählich wieder einholte. Bei den folgenden Geburten wurde dieses Erleben immer wieder belebt. Die
Intensität meines Erlebens um die Geburt meines ersten Enkels hatte etwas Fundamentales, so wie ich es
leider in dieser Tiefe bei der Geburt meiner eigenen Kinder nicht wiederfinden konnte. Retrospektiv vertiefte
es jedoch die Erinnerung daran.“ (Günter Heisterkamp S. 112 f.).
Wenn die Enkel etwas älter geworden sind, kann sich das erlebte Glück auch in gemeinsamen Spielen wie
folgendem von Heisterkamp erinnerten Tanzspiel ausdrücken: Sein dreieinhalbjähriger jüngster Enkel hat bei
diesem Spiel der mittlerweile zu seinem Spielzeug gewordenen Gitarre seines Vaters Töne zu entlocken
versucht. „Wie »von selbst« übersetzte ich die von ihm angeschlagenen Töne in eigene Tanzbewegungen und
Lautmalerei. So ergab sich durch meine Antwort ein wunderbares gemeinsames Tanzspiel. Mein Enkel griff
meine Ausdrucksbewegungen gleich wieder auf und hatte sofort erfasst, dass er auch bei mir
unterschiedliche Bewegungen und Laute bewirken konnte. So formte ich seine mal leisen und mal lauteren,
seine mal schnelleren und mal verzögerten Anschläge in entsprechende Tanzbewegungen um. Er jauchzte vor
Vergnügen, und auch ich hatte meinen großen Spaß […]. Er zeigte ein Riesenvergnügen, mich in den
verschiedensten Varianten und Weisen tanzen zu lassen. Immer wieder lachte er laut und begeistert mit.
Schon ziemlich erschöpft – ich war es jedenfalls –sagte er schließlich: »Das ist lustig!« […]. Das
Beglückende dieser Erfahrung liegt sicherlich – psychoanalytisch gesprochen – in der gemeinsamen
Aufführung eines tiefen psychologischen Sinnes, der sich uns in präsentischer Weise erschlossen hat. Wir
haben uns wechselseitig eine freudige existentielle Resonanz beschert“ (Günter Heisterkamp S. 130).
Als bedeutsam erlebte Augenblicks- und Erfahrungsmomente wie die skizzierten tragen mit dazu bei, die
eigene Biografie in die Folge der Generationen einzuordnen und sich auf die Begrenztheit des eigenen
Lebens einzulassen. Heisterkamp notiert in seinem Schlusskapitel folgerichtig seine mit zunehmenden
Lebensalter fortschreitenden Einschränkungen und seine latente Angst vor dem Tod, aber auch den Wunsch,
alt zu werden und noch einige Jahre des Lebens vor sich zu haben. „Mein Ziel könnte ich mit der 93-jährigen
Margarete Mitscherlich so formulieren: »Meine Einstellung bis zum Lebensende ist – Körper hin oder her –
mir festliche Augenblicke zu verschaffen und nie zu vergessen, dass es solche Augenblicke immer wieder zu
geben vermag und es von mir abhängt, ob ich versuche, sie zu erkennen, zu erschaffen und zu
genießen«“ (Günter Heisterkamp / Margarete Mitscherlich S. 254). „Das Beruhigende und Tröstliche, das
die Großeltern mit dem Leben ihrer Enkelkinder verbinden und das sie ruhig sterben lässt, hängt mit einer
tiefen, im kollektiven Unbewussten fundierten Ahnung eines jeden Menschen zusammen, in einer quasi
ewigen Kontinuität des Lebendigen zu existieren oder existiert zu haben. Insofern bestimmt das
Archetypische den Lebensabend vieler Alter. Darüber fühlen sie sich mit den anderen Menschen verbunden,
eingetaucht in einen umfassenden Lebensstrom, und das gilt natürlich besonders für die unmittelbaren
leiblichen Abkömmlinge“ (Günter Heisterkamp S. 267). Als Heisterkamp seinen fünfeinhalbjährigen Enkel
vom Kindergarten abholt und sie am Friedhof vorbeikommen, erläutert ihm dieser, was es mit dem Friedhof
auf sich hat. „»Das ist ein Friedhof, da liegen alle Menschen, die tot sind.« Zusätzlich stellt er noch fest,
dass alle Menschen und auch er einmal sterben würden. Ich hob hervor, er sei ja noch sehr jung und das
würde noch eine längere Zeit dauern. In meinem fortgeschrittenen Alter sei das anders und es würde bei mir
nicht mehr so lange bis zu meinem Ende dauern. Aber dann könne er mich ja an meinem Grab besuchen
kommen. Er nickte zustimmend und stellte beruhigend fest: »Aber das dauert ja noch etwas«“ (Heisterkamp
S. 268).
Max Frisch hat in seinen Tagebüchern eine ähnliche Szene festgehalten. „Heute fragt Ursel, unsere
Sechsjährige, mitten aus dem Spiel heraus, ob ich gern sterbe. »Alle Leute müssen sterben«, sage ich hinter
meiner Zeitung. »Aber gern stirbt niemand«. Sie besinnt sich. »Ich sterbe gerne!« »Jetzt?« sage ich:
»Wirklich?« – »Jetzt nicht, nein, jetzt nicht.« Ich lasse die Zeitung etwas sinken, um sie zu sehen, sie sitzt am
Tisch, mischt Wasserfarben. »Aber später«, sagt sie und malt mit stiller Lust: »Später sterbe ich
gerne.«“ (Max Frisch, Tagebücher 1946–1949, Frankfurt 1950, S. 349 f.).
ham, 5.1.2017