Aufstieg und Niedergang antiker Städte
Klett-Cotta, Stuttgart 2022, ISBN: 978-3-608-98370-8, 607 Seiten, 34 Abbildungen, 8 Karten, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 23,3 x 16,2 cm, € 35,00 (D) / € 36,00 (A)
Man kann die Naturgeschichte wie Charles Darwin vom Werden der Arten her nacherzählen. Man kann sie aber auch befragen, wann der Homo sapiens sesshaft wird, wo und wann die ersten Stadtgesellschaften entstehen, wie spät Städte in der antiken Mittelmeerwelt auftauchen, wie klein die meisten waren und wie gefährlich das städtische Leben während der ganzen antiken Periode geblieben ist. Diesen Fragen geht der britische Althistoriker Greg Woolf nach. Er folgt in seiner Argumentation einer explizit evolutionären Agenda und bedient sich dabei der Einsichten der Humanbiologie, der Ökologie, der Wirtschaftswissenschaften und der Klimatologie.
Nach einem Streifzug durch erste Stadtgründungen ab 4000 v. Chr. im nördlichen und südlichen Mesopotamien (Tell Brak und Uruk), in Ägypten (Hierakonpolis), im Industal, im Tal des Gelben Flusses, auf Kreta und in Mittelamerika kommt er zu den Städten des Mittelmeerraums, den imperialen Urbanismen und den von den römischen Kaisern gebauten Megalopoleis. Aus der Langzeitperspektive „lassen sich ohne weiteres in den letzten Jahrhunderten v. Chr. Vorläufer für das Aufkommen von Riesenstädten ausmachen. Athen und Syrakus, Korinth und Karthago und eben Rom lagen im 4. Jahrhundert v. Chr. beträchtlich über der mediterranen Norm. Ihre Größe beruhte jeweils auf einer Mischung aus politischem Einfluss und wirtschaftlicher Macht. Unter wirtschaftlicher Macht verstehe ich nicht die Existenz riesiger zentralisierter Unternehmen in diesen Städten, auch nicht, dass in ihnen Firmen tätig waren, welche mit den Aktiengesellschaften vergleichbar gewesen wären, die seit dem 17. Jahrhundert die europäische Handelsexpansion dominierten. Große Städte in Küstennähe wurden von allein zu Drehscheiben, die sowohl einheimischen Produzenten als auch ausländischen Kaufleuten Chancen boten; und auch militärische Macht bot Chancen. Athenische Kleruchen, die in verbündeten Städten angesiedelt wurden, die Ausbeutung der Minen von Cartagena durch Karthago, die römische Verwendung öffentlicher Aufträge, um Truppen im Einsatz zu versorgen und die durch Beute und Kriegsentschädigungen finanzierten Bauprogramme zu organisieren – all das sind Beispiele für die Verknüpfung von Krieg, Handel und Urbanisierung in der Antike.
Die Reichsbildung ermöglichte noch größere Städte. Die Eroberung des Perserreichs durch Alexander erhöhte schlagartig die Obergrenze des Bevölkerungsumfangs, den selbst Hegemonialstädte wie Athen und Syrakus hatten aufrechterhalten können und der vielleicht bei rund 50 000 Einwohnern gelegen haben dürfte. Die Fähigkeit der Könige, global Steuern einzuziehen und sie lokal auszugeben, um damit an einem bestimmten Ort der Erde Reichtum zu akkumulieren, war noch nie da gewesen. Den Tribut der Mitglieder des attischen Seebundes nach Athen abzuzweigen, um dort ein paar Tempel bauen zu lassen, war im Vergleich damit völlig unbedeutend. Messene, Megalopolis und die erzwungenen Synoikismen Siziliens blieben, was ihre Größe betraf, weit abgeschlagen zurück. Ein Ptolemaios oder ein Antiochos konnte in nur wenigen Jahren eine riesige Stadt aus dem Boden stampfen. Imperien konnten Hauptstädte ernähren, die aus ihrem Hinterland niemals hätten versorgt werden können, und das veränderte das urbane Netzwerk vollständig. Was zuvor lose und überwiegend regionale Netzwerke von Städten gewesen waren, häufig eingefasst durch eine Region wie Mittelitalien oder die Ägäis, wurde nun in sehr viel größerem Maßstab koordiniert. Im Zentrum lagen jeweils die neuen Riesenstädte, die Megalopolen.
Dieser neue Stadtgründungsstil war nur in der Mittelmeerwelt etwas Neues. Assyrische, babylonische und persische Könige hatten bereits zuvor Riesenstädte gebaut: Chorsabad und Ninive, Babylon und Persepolis, um nur die spektakulärsten zu nennen. Städte wie das ägyptische Alexandria, Antiochia am Orontes, das römische Karthago und Rom selbst, alle mit Bevölkerungs- zahlen über 100 000, waren die ersten wirklichen riesigen Städte im Mittelmeerraum. Antinoopolis, Athen, Korinth, Kyrene, Ephesos, Memphis, Milet, Ptolemïs, Smyrna, Syrakus und möglicherweise noch einige wenige andere lagen unmittelbar dahinter. Seleukeia am Tigris und Ktesiphon bildeten eine weitere riesige Stadtregierung in Babylonien, unmittelbar jenseits der römischen Grenze. Auch andere Imperien hatten ihre Riesenstädte. Die im Mittelmeerraum waren außerordentlich aufgrund ihrer ökologischen Dimension. Wenn die meisten Stadtbevölkerungen im Mittelmeerraum der Antike Höchstwerte im Tausenderbereich aufwiesen – wie war dann eine Stadt von mehreren hunderttausend Einwohnern möglich? …
Geographische Faktoren können erklären, warum einige Städte größer wurden als andere. Sie helfen auch zu erklären, warum einige von Ihnen in römischer Zeit etwas größer wurden. Die Städte, die als regionale Kommunikationszentren gut positioniert waren, wurden häufig in neuen Netzwerken wichtig, die sich über das gesamte Imperium erstreckten. Wenn sich dann erst Straßensysteme und Schifffahrtswege in einzelnen Städten verankert hatten, profitierten sie von jeglicher neuen Art von Verkehr, etwa den Wallfahrten seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. Die römische Praxis, Städte zu benutzen, um über das Imperium zu herrschen, verbunden mit der Pax Romana und dem römischen Steuersystem, beförderte das ökonomische Wachstum in den größten Städten des Reiches. Häufig ging das Wachstum eindeutig auf Kosten der Nachbarn in der unmittelbaren Umgebung. Die Situation war von Region zu Region unterschiedlich, im Allgemeinen jedoch waren die urbanen Netzwerke stärker hierarchisch geprägt als das, was vor ihnen gewesen war. Doch die Handvoll wirklich sehr großer Städte – die von mir so genannten Megalopoleis – brauchten mehr als das, mehr als nur ein allgemeines, das Wachstum urbaner Knotenpunkte begünstigendes Klima. Sie brauchten den imperialen Willen.
Das wohl spektakulärste Beispiel dafür ist … das neue Rom, das Konstantin, der erste christliche Kaiser, am Bosporus gründete. Die Stadt entstand am Ort der griechischen Polis Byzantion, einer Stadt, deren Ursprung im 7. Jahrhundert v. Chr. lag und die in den ersten tausend Jahren ihrer Geschichte eine vergleichsweise unbedeutende Rolle in den historischen Dramen der jeweiligen Epochen gespielt hatte. Sie wurde von den Persern beherrscht, war mit den Athenern verbündet und wurde von Philipp von Makedonien belagert. Während der frühen Kaiserzeit profitierte sie von ihrer Lage an der europäischen Seite der südlichen Mündung des Schwarzen Meers. Die Region hatte zwei bedeutende natürliche Reichtümer: den Marmor, von dem das Marmara-Meer seinen Namen hatte, und die jährliche Fischwanderung vom Schwarzen Meer in das Mittelmeer. Mehrere Sorten großer Fische laichten, gefüttert von den Nährstoffen, welche die russischen Flüsse beförderten, in den nördlichen Teilen des Schwarzen Meers und wanderten jedes Jahr in die Gewässer des Mittelmeers, in dem sie der starken Oberflächenströmung folgten, die von einem Meer ins andere führt. Wie die phönizischen und spanischen Siedlungen dies- und jenseits der Straße von Gibraltar, der Mündung am anderen Ausgang des Mittelmeers, erwarben die griechischen Städte am Marmara-Meer ihren Reichtum durch Fischfang und durch den Verkauf und Export haltbar gemachter Fischprodukte. Byzantion war außerdem berühmt für seine Stadtmauern, die aus der dreieckigen Landzunge, auf der die Insel lag, eine Festung machten. Diese strategische Position und die vielen Häfen der Stadt hatten zur Folge, dass sie auch durch Zolleinnahmen reich wurde. Sie entschied sich in einem römischen Bürgerkrieg für die falsche Seite und wurde Ende des 2. Jahrhunderts vom Sieger Septimius Severus geplündert, jedoch umgehend in noch größerem Umfang wieder aufgebaut. Ein Jahrhundert später wurde die Stadt von Konstantin zum Ort für seine neue Hauptstadt gewählt – unter dem Namen, Neues Rom, Konstantinopel und heute Istanbul“ (Greg Woolf, S. 486 ff.).
In seinem Nachwort stellt Greg Woolf fest, dass ein erster Überblick über den Fortgang der Urbanisierung im Lauf der letzten achttausend Jahre die Geschichte des menschlichen Fortschritts zu bestätigen scheint. „Eine genauere Untersuchung zeigt hingegen, dass komplexe soziale Systeme häufig zusammengebrochen sind, und sie wurden mit Sicherheit häufig dezentralisiert und stärker fragmentiert. Es gibt keinerlei Garantie, dass unsere gegenwärtige Globalisierungsrate sich so lange fortsetzen wird, bis wir maximal vernetzt und alle gleichermaßen organisiert sind. Wenn die Erforschung antiker Städte uns irgendetwas lehrt, dann ist es schlicht der Umstand, dass es zwar viele urbane Phasen gegeben hat, aber nur wenige, die länger als ein paar wenige Jahrhunderte Bestand hatten.
Urbane Systeme verschwinden selten spurlos. Ihre Überreste sind eine Ressource für diejenigen, die nach ihnen kommen. Römische Stadtmauern im südlichen Britannien boten Schutzhüllen, in denen Angelsachsen wenige Jahrhunderte später unterschiedliche Arten von Nestern anlegten. Die frühen islamischen Herrscher des heutigen Tunesien trugen schlanke Säulen aus Tempeln der römischen Periode zusammen und schufen damit einen Säulenwald in der mächtigen Moschee von Kairouan. Die Paläste und Kathedralen des mittelalterlichen Europa waren unter anderem von römischen Überresten inspiriert sowie von jenen Römern, die nach wie vor am Bosporus in Konstantins Megalopolis lebten. Spuren urbanen Lebens blieben in Norditalien und in Syrien erhalten sowie an einigen wenigen anderen Orten, wo es nicht zu einem plötzlichen Bruch zwischen Antike und Mittelalter kam.
Zivilisation ist ein Wert, der häufig von den Mächtigen demjenigen zugeschrieben wird, was sie anderen vorenthalten. Selbst wenn sie sich selbst als Auserwählte verstehen, denen es obliegt, diesen Wert auszusäen, verschärft dieses Missionsbewusstsein die Ungleichheit doch nur noch mehr. Aber nicht alle urbanen Projekte entstanden aus dieser Geisteshaltung. Das Leben in der Stadt, so meine Argumentation, ist nicht dasselbe wie ein urbanes Schicksal. Gruppen von Menschen schufen in der Antike aus allen möglichen Gründen Städte, und dann fanden sie für sie neue Verwendungszwecke. Urbanisierung war weder ein Sündenfall noch ein erster Schritt zu einer höheren Form des Menschseins. Städte sind offensichtlich Lösungen für verschiedene Probleme, und sie sind weder an sich gut noch schlecht. Sie sind Ausdruck einer bestimmten Dimension des Menschseins, und gleichzeitig sind sie vollkommen natürlich – vergleichbar mit Termitenhügeln und Korallenriffen“ (Greg Woolf, S. 535 f.).
ham, 15. Juli 2025