Ausgewählt und zusammengestellt vom Künstler
Mit einem Text von Helmut Friedel
Schirmer/Mosel, München , 2024, ISBN 978-3-8296-1019-3, 144 Seiten, 53 Abbildungen in Farbe, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 24,2 x 18 cm, € 34,00 (D)/€ 35,19 (Ö) CHF 39,10
Wenn der 92-jährige Gerhard Richter eine Auswahl von 50 Gemälden für eine Publikation trifft, die ausschließlich Personen zeigen, muss es sich um Personen handeln, die ihm besonders wichtig sind. Die zwischen 1963 und 2009 entstandenen Gemälde zeigen seinen Familienkreis und Verwandte, so seine erste Frau Marianne „Ema“ Eufinger als Mädchen (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/women-27/girl-in-the-garden-5570), die Bildhauerin Isa Genzken, seine Meisterschülerin und zweite Frau (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/nudes-16/small-bather-8086), die Malerein Sabine Moritz mit Kind, seine dritte Frau (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/mother-and-child-15/s-with-child-8128), den Bruder seiner Mutter Rudolf Schönfelder Onkel Rudi (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/death-9/uncle-rudi-5595), seine im KZ umgebrachte Tante Marianne (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/death-9/aunt-marianne-5597) und seine Kinder Babette, genannt Betty, Moritz und Ella (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/children-52/?p=1&sp=32).
Dazu kommen die Hofkirche Dresden, vor der Gerhard Richter zusammen mit dem Kunsthistoriker Benjamin Buchloh steht (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/portraits-people-20/court-chapel-dresden-8320), die befreundete Familie Schmidt ( vergleiche dazu https://online-sammlung.hamburger-kunsthalle.de/de/objekt/300248/familie-schmidt?term=Gerhard Richter&context=default&position=2), Persönlichkeiten aus der Kunstszene wie der Gründer und dreimalige Leiter der Documenta Arnold Bode (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/portraits-people-20/arnold-bode-5502), die Maler Gilbert & George (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/portraits-people-20/gilbert-4787 und https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/portraits-people-20/george-4992), Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie die Königin Elisabeth (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/portraits-people-20/queen-elizabeth-5886), eine Turmspringerin (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/women-27/high-diver-ii-5519), ein Liebespaar im Wald (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/everyday-life-18/lovers-in-the-forest-5758) und diverse andere mehr.
Nach Helmut Friedel greift Richter für diese Werke auf Fotovorlagen aus Magazinen, Büchern, Familienalben und eigene Fotos als Motive seiner Malerei zurück. Die unterschiedlichen Bearbeitungsprozesse der Fotografien für den Druck in Lexika oder Zeitungen scheinen Richter anders als die Pop Art-Künstler Andy Warhol und Roy Lichtenstein kaum zu interessieren, dafür aber die Wahl der Bildausschnitte, mit denen er das Format bestimmen kann, die unterschiedlichen Varianten von Tönungen „unfarbiger“ Abbilder durch die Beimischung von Farbe, die Platzierung der gewählten Ausschnitte auf der Bildfläche, das Vergrößern und Verkleinern von Körperteilen wie den Händen und die Verwischung der noch feuchten Malschichten mit dem etwas breiteren Pinsel, mit der das Bild der dargestellten Person an individueller Präsenz verliert. Friedel steigt bei seiner Besprechung der Porträts mit Lee Harvey Oswald (vergleiche dazuhttps://online-sammlung.hamburger-kunsthalle.de/de/objekt/HK-5170) und der trauernden Jacky Kennedy von 1964 ein (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/women-27/woman-with-umbrella-5499) und geht dann zu den Familienbildern über:
„Beim Gemälde Oswald […] handelt es sich um etwa die Hälfte eines im Januar 1964 im stern veröffentlichten Photos (Atlas 13). Dieses halbe Photo bedeckt im Gemälde den rechten Teil der Malfläche, während eine Hand mit einem Zettel in die ‚leer‘ gelassene Malfläche greift. Dort wird der Flyer von einem stacheligen Strahlenkranz umrandet […]. Was vom Ausgangsphoto zu sehen bleibt, ist ein eher schmächtiger Mann, der eine schwarze Mappe unter den Arm geklemmt hat, eine schwarze Hose und ein weißes Hemd trägt […]. Es handelt sich um Lee Harvey Oswald, der Flugblätter verteilt, auf denen er gegen die US-Präsenz auf Kuba und pro Fidel Castro demonstriert und der dann im November 1963 den amerikanischen Präsidenten ermordet hat […]. Zusammen mit der Frau mit Schirm markiert Gerhard Richter eine bedeutende, damals unmittelbar und allgemein empfundene Zäsur. Seine Bildsuche in Alltagsphotographien weist verwandte Züge mit Michelangelo Antonionis Blow Up von 1966 auf, wo ein Modephotograph bei Aufnahmen im Park ‚Ungesehenes‘, Erschreckendes durch Vergrößerungen aus dem Photo herausholt. Eine Notiz von Richter von 1964/65 schildert diesen Vorgang des Unbewussten: ‚Wenn ich ein Photo abmale, ist das bewusste Denken ausgeschaltet. Ich weiß nicht, was ich tue. Meine Arbeit liegt viel näher beim Informellen als bei irgendeiner Art von Realismus. Das Photo hat eine eigene Art von Abstraktion, die gar nicht so leicht zu durchschauen ist. / Es ist das, woran heute jeder glaubt. Das Normale. Wenn es nachher ‚anders‘ wird, ist die Wirkung viel stärker als durch Deformation, wie bei den Figuren von Dalí oder Bacon. Man kann plötzlich vor solch einem Bild Angst bekommen’“ (Helmut Friedel, S. 12 f.).
Mit Ema (Akt auf einer Treppe) (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/nudes-16/ema-nude-on-a-staircase-5778) nimmt Richters malerische Umsetzung von Fotographie durch den vollständigen Einsatz von Farbe eine signifikant neue Wendung. „Selbstverständlich schwingt bei diesem Thema auch Marcel Duchamps Akt, die Treppe herabsteigend von 1917 mit, ein Schlüsselwerk der Moderne. Zu diesem bildet das Gemälde von Gerhard Richter einen Gegenentwurf. Dynamische Bewegung übersetzt er in Lebendigkeit durch vibrierenden Farbeinsatz, der den Körper durchpulst und lebendig erscheinen lässt. Der Akt hat die Frontalität einer Standfigur, die trotz des Treppenschritts vollständig parallel in Schulter- und Hüftlinie bleibt. Mit hellen Hauttönen modelliert der Maler die Körperschatten in weichem, sanftem Konturverlauf vor der kühlen Farbigkeit des Hintergrunds. Leichte Monumentalität ist durch die Bildgröße angelegt. Ein überragendes Bild strahlenden Lebens und der Kontrapunkt zu Onkel Rudi, der wie ein ‚Schattenbild‘ der Erinnerung erscheint und ganz ähnlich als Andachtsphoto in sehr vielen Familien der Nachkriegszeiten zigtausendfach sein trauriges Nachleben in kleinen Rahmen gefristet hat. Ema (Marianne Eufinger) hingegen manifestiert eine stolze, schöne Offenbarung. Die Frau des Künstlers, sein Modell, war zu dem Zeitpunkt schwanger mit Babette (Betty) […] (Helmut Friedel, S. 21).
Richters Umgang mit den Motiven und die Herangehensweise an die Bildvorlagen variieren stark und weichen deutlich voneinander ab. Die meisten Vorlagen hat er, zum Teil mit Arbeitsspuren von Farbe, Zeichnung (Quadrieren) oder Zuschnitt, im Atlas versammelt. Jedes Gemälde und damit jede gemalte Person hat seine/ihre individuelle maltechnische Behandlung erfahren, mit der die Besonderheit jeder Person untermauert wird (vergleiche dazu Helmut Friedel, S. 10).
Nach Friedel besteht das Besondere dieser Gemäldegalerie darin, dass Richter nicht schlicht Porträts gemalt hat, sondern Haltungen und Posen erfasst, die auf die Geschichte des europäischen Gestus zurückgreifen. So erinnern der nach unten gerichtete Blick auf seinem Selbstporträt von 1996 (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/portraits-people-20/self-portrait-8185) und das Porträt von Ella von 2007 (vergleiche dazu https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-paintings/children-52/ella-13955) an Vermeers Träumendes Mädchen (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Schlafendes_Mädchen#/media/Datei:Vermeer_young_women_sleeping.jpg). In Ella wählt Gerhard Richter eine an den Niederländer des 17. Jahrhunderts erinnernde Farbstimmung und Malstruktur. Durch zartes Verwischen mit dem Pinsel entsteht ein Bild mit abgeschwächten Konturlinien. Diese zarte Verschleierung eröffnet es dem schauenden Menschen, tiefer zu sehen und noch mehr zu erahnen. Durch die Vibration der unscharf erscheinenden Darstellung denkt und vollendet sich das Bild erst im Schauen“ (Helmut Friedel, S. 31). Umwerfend ist der Blick des kleinen Moritz (vergleiche dazu https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/duesseldorf-versammelt-selten-gezeigte-bilder-gerhard-richters-19965608.html), „der unmittelbar mit dem betrachtenden Künstler, seinem Vater, beziehungsweise seiner Kamera interagiert und uns als störende Eindringlinge überrascht anschaut“ (Helmut Friedel, S. 32).
ham, 2. November 2024