Penguin Verlag in der Penguin Rondom House Verlagsgruppe, München, 2021, 

ISBN 978-3-328-60152-4, 415 Seiten, 8 s/w Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag, 

Format 22 x 14,5 cm, € 22,00 (D) / € 22,70 (A) / CHF 30,90

Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde China in den Kreisen der europäischen Kolonialmächte und den USA zur „Gelben Gefahr“ stilisiert. Im Französischen geht das Pejorativum auf Jacques Novikow und seinen Aufsatz ›Le péril jaune‹ aus dem Jahr 1897 zurück, im Deutschen wohl auf den Schriftsteller Stefan von Kotze und sein Buch ›Die Gelbe Gefahr‹. Im Englischen wurde der Begriff durch eine Serie von Kurzgeschichten von Matthew Philipps Shiel geprägt, die 1898 unter dem Titel ›The Yellow Danger‹ erschienen und später den Titel ›The Yellow Peril‹ erhielten (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Gelbe_Gefahr). Im historischen Rückblick verwundern die hinter dem Pejorativum ›Gelbe Gefahr‹ steckenden Ängste, da China im 19. Jahrhundert durch den Opiumkrieg und die erzwungene Öffnung seiner Märkte für die europäischen Großmächte seine vormalige Überlegenheit verloren hatte: Der in China erfundene Buchdruck, das Papiergeld, der Kompass und das Schießpulver waren längstens in Europa angekommen und Europa war China inzwischen militärisch überlegen (vergleiche dazu https://www.zeit.de/zeit-geschichte/2012/01/China-Essay/seite-2). 

 Am Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich der Wind gedreht. China ist zur aufstrebenden Großmacht des 21. Jahrhunderts geworden. Nach dem 1967 in Saarbrücken geborenen China-Kenner Frank Sieren soll Napoleon einmal gesagt haben: ›China ist ein schlafender Löwe, lasst ihn schlafen! Wenn er aufwacht, erschüttert er die Welt‹. Der schlafende Löwe ist zwischenzeitlich aufgewacht. „Das riesige Reich ist seit Jahrzehnten im Umbruch: ein atemberaubender Aufschwung, boomende Megastädte, Rekord-Investitionen und eine beachtliche Steigerung des Wohlstands. China ist Exportweltmeister, zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde, holt bei den Zukunftstechnologien rasant auf. Entwicklungsprojekte wie die ›Neue Seidenstraße‹ verschaffen internationalen Einfluss und sichern Ressourcen“ (https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzeit/zdfzeit-supermaechte—angst-vor-china-100.html; abgerufen am 9.9.2021).

Für Frank Stieren steht das ehemalige Fischerdorf Shenzhen für das neue China (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Shenzhen und https://de.wikipedia.org/wiki/Shenzhen#/media/Datei:Shenzhen’s_city_hall.jpg). „In Shenzhen leben rund 20 Millionen Menschen, in Hongkong nur 8,5 Millionen. Die Stadt hat nach Shanghai und Peking die drittgrößte Wirtschaftskraft in China. Noch vor Hongkong. Die Shenzhener Börse ist wertvoller als die Londoner. Der Hafen vier Mal so groß wie der von Hamburg. Zwei der vier wertvollsten Firmen Chinas haben ihren Sitz in Shenzhen: Tencent, der Social Media- und Gaming-Spezialist (WeChat; Fortnite), sowie die Versicherung Ping An, weltweit die zweitgrößte, aber die am stärksten digitalisierte. Das international erfolgreichste, wahrscheinlich innovativste, aber zugleich auch umstrittenste Unternehmen Chinas sitzt ebenfalls in der Boomtown: Huawei. Noch nie in der langen Geschichte Chinas war ein chinesisches Unternehmen weltweit erfolgreicher und einflussreicher – so einflussreich, dass es auf Platz 1 der Sanktionsliste Washingtons steht. Nirgends sonst wird der Machtkampf zwischen der aufsteigenden Weltmacht China und der absteigenden Weltmacht USA so plastisch wie im Fall Huawei. Und keine andere Stadt symbolisiert das Ringen um die Spitze so sehr wie Shenzhen … Ein Machtkampf, der den Beginn des 21. Jahrhunderts durchaus prägt. Ausgetragen … anhand einer Metropole, die zum Inbegriff der Zukunft werden könnte“ (Frank Sieren S. 9 f.). In acht Kapiteln fächert Sieren auf, warum Shenzhen zur Herausforderung für Amerika und Europa geworden ist.

Im Kapitel ›Wohnen‹ wird unter anderem deutlich, dass deutsche Stararchitekten wie Ole Schieren in Shenzhen bauen dürfen, weil die Firmen und der Staat beim Wettbewerb um die besten Talente ein gemeinsames Interesse daran haben, dass es sich in der Stadt möglichst gut leben, arbeiten und wohnen lässt (vergleiche dazu https://www.google.de/search?source=univ&tbm=isch&q=ole+scheeren+shenzhen&sa=X&ved=2ahUKEwjd9vqQr_HyAhVLgP0HHRFnB6gQjJkEegQIBhAC&biw=1324&bih=913). „Denn Shenzhen steht nicht nur mit anderen chinesischen Städten in Konkurrenz, sondern spürt zunehmend auch international den Druck, attraktiv für möglichst viele verschiedene Menschen zu sein. Geld allein reicht nicht mehr aus, um Spitzenleute zu Tencent, Hawaii oder DJI zu locken. Andere Parameter sind wichtiger geworden. Am Ende bestimmen also die Kreativen und ihre komplexen Servicenetzwerke, wie Shenzhen aussieht. Sie sind die Treiber einer neuen Lebensqualität … Aus diesem Grund darf, wie im Kapitel ›Chillen‹ deutlich wird, in Shenzhen auch eine Subkultur wachsen, bei deren Exzessen hier schon eher ein Auge zugedrückt wird als in Peking, auch wenn es einmal politisch wird“ (Frank Sieren S. 403; vergleiche dazu https://www.google.de/search?source=univ&tbm=isch&q=Chillen+in++shenzhen&sa=X&ved=2ahUKEwj22b2TsfHyAhVWhP0HHR4iCxIQjJkEegQIBxAC&biw=1324&bih=913).

Im Kapitel ›Bewegen‹ wird deutlich, dass die chinesische Autoindustrie durch die Kombination von 5G, autonomen Fahren und E-Autos unabhängig von der deutschen Automobilindustrie geworden sind. Die Spezialisten für autonomes Fahren erzählen gerne, dass Dong Mingzhu, die Gründerin von Gree Electric, dem größten Klimaanlagenhersteller der Welt, in Shenzhen verdächtigt worden ist, bei Rot über die Straße gegangen zu sein, obwohl sie gar nicht in der Stadt war. „Die Verkehrskameras konnten das Missverständnis schnell aufklären: Ein Bus mit ihrem Konterfei – eine Werbung für Gree Electric – hatte die Ampel passiert, während diese Rot für Fußgänger zeigte, und so das Gesichtserkennungssystem durcheinander gebracht. Das ›Verkehrsgehirn‹, wie die Shenzhener Polizei das System nennt, war von einem Bus mit seitlich aufgedruckter Werbung überlistet worden. Eine nette Anekdote für die Entwickler des autonomen Fahrens, die längst viel weiter denken. In der Welt des autonomen Fahrens soll es gar nicht mehr passieren, dass eine Straße leer ist und die Fußgängerampel trotzdem Rot zeigt. In ihrer Welt weiß die Ampel, wie weit entfernt ein herannahendes Auto ist; sie kann sofort und so lange auf Grün springen, bis es bei der Ampel angekommen ist“ (Frank Sieren S. 122 f.).

Im Kapitel ›Überwachen‹ wird unter anderem ein Überwachungshelm für die Polizei vorgestellt, der erkennen kann, ob jemand wie beim Lockdown während der Corona-Epidemie erhöhte Temperatur hat. „Hat jemand Fieber oder ist sonst irgendwie auffällig, wird die Gesichtserkennung automatisch aktiv. Sie scannt das Gesicht und jagt die Daten in Echtzeit über das neue 5G-Netz in eine Datenbank. Sekunden später liegen die Ergebnisse vor. Ist die Person schon als infiziert gemeldet? Hält sie sich illegal draußen auf? Ist sie eine Neuinfizierte, eine die womöglich noch gar nicht weiß, dass sie Corona hat. Oder hat die Person einfach Grippe? Klar ist: Sie wird nun isoliert und von der Polizei zu einem Testzentrum gebracht. Ob sie will oder nicht“ (Frank Sieren S. 126 f.). ›Big Brother‹ lässt grüßen und es fragt sich, was passiert, „wenn die Balance zwischen Innovation und Überwachungen in Richtung innovative Überwachung ausschlägt, weil rechtsstaatliche Kontrollmechanismen fehlen oder ausgehebelt werden“ (Frank Sieren S. 404).

Weitere Kapitel beschäftigen sich mit den Themen ›Vernetzen‹, ›Heilen‹, ›Assistieren‹ und ›Essen‹. Als Ergebnis hält Schieren fest, dass wir im Westen nicht mehr allein die globalen Spielregeln bestimmen und uns auf den Wettbewerb um technologische Innovationen einlassen müssen, wenn wir nicht als Verlierer der Systeme dastehen wollen. „Dass wir mit Technologien, die wir nach unseren Vorstellungen und unseren Konzepten des Zusammenlebens gestalten, in Zukunft wieder Erfolge erzielen und Maßstäbe setzen können, ist gar nicht so unwahrscheinlich. Denn wie wir gesehen haben, steckt die chinesische Regierung in einem Dilemma. Sie will Freiheit für die Kreativen ermöglichen, strebt aber gleichzeitig nach möglichst viel Überwachung. Ein schwieriger Balanceakt, denn mehr vom einen bedeutet eigentlich weniger vom anderen“ (Frank Sieren S. 411).

ham, 9. September 2021

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