Aus dem Englischen von Esther und Rainer Kober
Klett-Cotta, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-608-94772-4, 536 Seiten, 77 Schwarzweißabbildungen, Hardcover
gebunden, Format 23,3 x 16,4 cm, € 29,95 (D) / € 30,80 (A) / CHF 39,90
Wer die von der Lektüre von Raubdrucken unter anderem von Sigmund Freud, Wilhelm Reich, Alfred
Kinsey, Herbert Marcuse und nicht zuletzt von der Pille befeuerte sexuelle Befreiung der 1960er und 1970er
Jahre und die Studentenrevolution miterlebt hat, wird die heute als mehr oder weniger selbstverständlich
angesehenen sexuellen Freiheiten in aller Regel der eigenen Generation zuschreiben. Der in Oxford lehrende
englische Historiker Faramerz Dabhoiwala zeigt in seiner auf der Auswertung von Gerichtsurteilen,
Gesetzen, Polizeiberichten, Biographien, journalistischen, philosophischen und literarischen Texten
aufruhenden Studie Lust und Freiheit, dass die Wurzeln dieser Freiheiten ins 17. Jahrhundert und ins
Zeitalter der Aufklärung zurückreichen. „Ich möchte im vorliegenden Buch diesen zentralen Umbruch
beschreiben und ihn mit den großen politischen, geistigen und sozialen Tendenzen der Zeit verknüpfen.
Gewöhnlich wird die Geschichte der Sexualität als Teil der Geschichte des Privatlebens oder der
Körpererfahrung behandelt. Doch die sind ihrerseits eine Folge jener Aufklärung, die Sexualität als eine
weitgehend persönliche Angelegenheit begreift. Mir dagegen geht es nicht in erster Linie darum, in die
Schlafzimmer und unter die Bettdecke der Vergangenheit zu blicken. Ich möchte zeigen, dass die Sexualität
früher ein zentrales Anliegen der Öffentlichkeit war, und nachweisen, dass die Art und Weise, wie die
Menschen über sie dachten und mit ihr umgingen, von den maßgeblichen geistigen und gesellschaftlichen
Strömungen ihrer Zeit geprägt waren […] und […] die sexuelle Revolution ein entscheidender Aspekt der
europäischen und amerikanischen Aufklärung war: Dank ihrer konnte ein vollkommen neues Modell der
westlichen Zivilisation geschaffen werden, dessen Grundsätze der individuellen Privatheit, Gleichheit und
Freiheit bis auf den heutigen Tag gültig sind“ (Faramerz Dabhoiwala S.11 f.).
Die detailreiche Studie verhandelt in sechs Kapiteln unter anderem das protestantische Streben nach
Vollkommenheit im England des 16. Jahrhunderts, die damit verbunden Kultur der sexuellen Disziplinierung
und ihr Scheitern. Die sexuelle Disziplinierung beruhte „nicht nur auf festen Überzeugungen von den
Gefahren der Unmoral, sondern auch auf zentralen politischen, philosophischen und psychologischen
Annahmen über den Zweck des Regierens, die menschliche Natur, die Glaubensethik und die
Unvollkommenheit des angeborenen Verstands. Die Praxis der Disziplinierung bestand seit so langer Zeit,
war so eng mit der Struktur des sozialen Lebens verflochten […], dass sich 1600 deren Abschaffung beim
besten Willen niemand vorstellen konnte. Doch ihr Verfall und Untergang standen unmittelbar bevor.
Ursprünglich hatte die Reformation zu noch strengeren sexuellen Vorschriften geführt; zugleich aber
zerstörte sie die Einheit des europäischen Christentums. Im Laufe des 17. Jahrhunderts sollte die Zunahme
religiöser Teilung alles zunichte machen“ (Faramerz Dabhoiwala S. 46). Die von den puritanischen
Tugendgesellschaftern ins Leben gerufenen Kampagnen unter anderem gegen die Prostitution und ihr
Versuch, den Normalbürger für eine stärkere Beteiligung an der moralischen Disziplinierung zu gewinnen,
erwiesen sich als ein Schlag ins Wasser. „1750 waren die meisten Formen von einvernehmlichem
außerehelichen Sex dem Geltungsbereich des Gesetzes entzogen […]. Generell wurde in dem Maße, wie die
gerichtliche Bestrafung von Unmoral zurückging, immer größere Energie darauf verwandt, den Menschen
sexuelle Sittlichkeit durch Erziehung, Literatur und soziale Normen einzuimpfen […]. Aus der religiösen
Toleranz erwuchs die sexuelle Toleranz“ (Faramerz Dabhoiwala S. 92, 97), aber nicht als einlinige,
stringente und allgemein anerkannte Schlussfolgerungen, sondern als Folge von kontroversen Antworten auf
für das Zusammenleben tragende Grundfragen wie die, wo die Trennlinie zwischen öffentlichen und privaten
Akten verlaufen oder die, was passieren sollte, wenn sexuelle Freiheit mit anderen Grundwerten kollidiert.
In Kapitel drei wird diskutiert, warum sich um 1800 die Vorstellung durchgesetzt hat, dass nicht, wie bisher
angenommen, die Frauen, sondern die Männer von Natur aus libidinöser sind und stets geneigt, Frauen zu
verführen. Frauen erscheinen nun als Opfer von Libertins aus der Oberschicht. Das „Grundprinzip der
männlichen Lüsternheit und der weiblichen Passivität wurde auch von denen akzeptiert, die die männliche
Zügellosigkeit beklagten. Das Thema prägte die Literatur der Zeit. Diese neue Einstellung zu Lust und
Geschlechterrollen sollte im 19. und 20. Jahrhundert die Ansichten über Sexualität bestimmen“ (Faramerz
Dabhoiwala S.213). Die offenkundigste Wirkung bestand „in den sozialen Einschränkungen, die dem
Verhalten der Frauen auferlegt wurden“ (Faramerz Dabhoiwala S. 217). In der im vierten Kapitel
nachgezeichneten neuen Welt der Männer und Frauen galten Frauen von Natur aus als zarter, sanfter,
empfindsamer und sexuell reiner als Männer. „Dass Keuschheit zunehmend als »natürlicher« Wesenszug der
Frau angesehen wurde, verändert allmählich die geistigen Grundlagen des Patriarchats. Um 1700 waren viele
der altehrwürdigen Rechtfertigungen für die untergeordnete Stellung der Frau durch die allgemeine
politische und philosophische Entwicklung zweifelhaft geworden. Die normative Geltung der biblischen und
patristischen Literatur sah sich durch einen neuen, »vernunftbestimmten« Wahrheitsbegriff in Frage gestellt.
So wurde die Annahme einer unveränderlichen und göttlich verhängten paternalistische Ordnung durch die
Absetzung Jakobs II. und den Erfolg der politischen und gesellschaftlichen Vertragstheorien tief erschüttert.
Außerdem büßten die existierenden Gesellschaftstheorien ihre Wirkung durch neue ökonomische und soziale
Entwicklungen ein: den Rückgang des höfischen Prestiges, die Bedeutungszunahme des städtischen Lebens
sowie die Ausbreitung neuer Formen des Handels, der Kommunikation und der gesellschaftlichen
Organisation.
In ähnlicher Weise entwickelten sich die Rechtfertigungen für die männliche Überlegenheit. Früher hatte
man Patriarchat und Sexualität vorwiegend theologisch verstanden und die Unvollkommenheit aller
Menschen vorausgesetzt […]. Doch um 1800 verloren die biblischen Belege für die untergeordnete Stellung
der Frau ihre konventionelle Geltung; genauso wie die Theologie der Erbsünde und der weiblichen
Schwachheit; oder wie die medizinischen Theorien, nach denen der weibliche und männliche Körper zwar
ähnlich seien, sich aber in Hinblick auf das Gleichgewicht der »Körpersäfte« unterscheiden würden. Zwar
verschwand keine dieser Ideen vollständig, doch suchte man die Gründe für die Geschlechterdifferenz jetzt
meist in anthropologischen und historische Theorien über Entwicklung und Zweck sexueller und sozialer
Beziehungen und in angeblich unanfechtbaren biologischen Fakten der geistigen und körperlichen
Geschlechterunterschiede“ (Faramerz Dabhoiwala S. 225 f.). Die zuvor nie beobachtete Ausweitung der
sexuellen Freiheit für Männer und die jetzt öffentlich wahrgenommene Kritik der Frauen am Verhalten
wohlhabender Männer gegenüber Abhängigen haben dazu beigetragen, dass sich die Vorstellungen zur
Kontrolle der männlichen und weiblichen Sexualität bereits um 1800 verändert und die Spannungen
zwischen sexueller Freiheit und Unterdrückung erheblich vertieft haben. „Nie haben sie alle Menschen in
gleichem Maße tangiert. In den letzten Jahrzehnten hat ihre geistige und gesellschaftliche Wirkung
allmählich nachgelassen. Aber sie begleiten uns noch heute“ (Faramerz Dabhoiwala S.278).
In den beiden letzten Kapiteln werden unter anderem die Ursprünge des Frauenhandels, die Einrichtung von
sogenannten Magdalenenhäusern, von Rettungsanstalten für »gefallene« Frauen und Prostituierte und die
Ausweitung des medialen Zugriffs auf pornographische Inhalte in Bildern, Druckgrafiken, Texten und
Biographien vorgeführt. Der Epilog unterstreicht noch einmal, dass die um 1800 aufkommende veränderte
Einstellung zur Sexualität die Voraussetzung „für die Ansichten des Viktorianischen Zeitalters, des 20.
Jahrhunderts und der Gegenwart“ schuf. „Die wichtigste Neuerung der Moderne war die immerwährende
Unbestimmtheit der Grenzen sexueller Freiheit. An die Stelle einer relativ geschlossenen, autoritären
Weltanschauung, die Jahrhunderte überdauert hatte, setzte die Aufklärung eine sehr viel größere Konfusion
und Pluralität der moralischen Perspektiven, die in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis zueinander
standen. Seither ist das Teil unserer modernen Befindlichkeit. Genauso verhält es sich mit der Entwicklung
der sexuellen Freiheit; der immer stärkeren Vorherrschaft der städtisch geprägten Lebensweisen und
Einstellungen zur Sexualität; der Annahme, Männer seien von Natur aus sexuell aktiver als Frauen; der
überdauernden Verknüpfung zwischen Moral und Klasse und unseren endlosen, frei fluktuierenden
Obsessionen mit »natürlichem« und »unnatürlichem« Verhalten, mit Pornographie und Prominenz sowie die
Unterscheidung zwischen »öffentlichem« und »privatem« Raum. Das waren die beherrschenden Themen der
Sexualkultur im 19. und 20. Jahrhundert. Nur durch den Blick zurück zum Übergang von der vormodernen
zur modernen Welt können wir verstehen, wie sich diese Phänomene entwickelten“ (Faramerz Dabhoiwala S.
416).
ham, 12. April 2016