Eine genealogische Untersuchung zu Buber, Gordon und Borochov

Band 72 der Reihe Europäisch-jüdische Studien – Beiträge

De Gruyter Oldenbourg, Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston 2024, ISBN: 9783111374932, 293 Seiten, Hardcover, gebunden, Format 23,5 x 16,2 cm, € 99,95

Die um ein Kapitel erweiterte Heidelberger Dissertation des heutigen Leiters des Referats Ökumene, religiöser Dialog | Interreligiöser und interkultureller Dialog des Erzbischöflichen Ordinariats Freiburg Fabian Freiseis zeichnet in ihrem Hauptteil frühzionistische Diskurse über Nation, Religion und Esoterik in ausgewählten Schriften von Martin Buber, Aharon David Gordon und Ber Borochov in der Zeit von 1900 bis 1923 nach. Weil klare, eindeutige Definitionen des Jüdischseins fehlten, wurden diese Identitätsvorstellungen immer wieder neu aktualisiert, ausgedeutet, umgedeutet und beiseite gelegt. 

Freiseis kommt zu dem Ergebnis, dass Buber auf zeitgenössische Überlegungen zurückgriff, um eine Einmaligkeit des jüdischen Nationalismus überhaupt erst proklamieren zu können. Er darf als Beispiel für den Einfluss von historischer Esoterik auf das Judentum gelten, was sich insbesondere an seinen monistischen Überlegungen zeigt. Die Verschränkung des Religiösen, Sozialen und Nationalen führt zu totalitären Momenten in Bubers Denken, die nicht zuletzt von seinem Lehrer Georg Simmel kritisiert wurden. „Der ‚Einheitstrieb‘, der zu einer Verschränkung der Einflüsse historisch-esoterischer Vereinheitlichungsvorstellungen in Bibers Denken mit archetypischen, idealistischen Vorstellungen über ‚das‘ Judentum führte, wird ab 1915 direkt auf den ‚Boden‘, die ‚kanaanitische Erde‘ und ‚das palästinensische Leben’ bezogen. Es ist die ‚Einwurzeln im heimatlichen Boden’, die laut Buber Palästina als einzige Heimstätte des Judentums denkbar werden lässt, weil nur so die idealtypische Bedeutung des Judentums wiederhergestellt und die Trennung – als Charakteristikum der Moderne – überwindbar werde […]. Der Gedanke, dass es für das Judentum eine weltumspannende Aufgabe gäbe, die nur auf dem Boden Palästinas möglich sei, zeigt kolonialistische Tendenzen in Bubers Denken auf. Die Beziehung zwischen jüdischer Identität und Palästina wird dabei ins Messianische gewendet und dadurch zu legitimieren versucht: ‚Heute ist in einem noch schwierigeren, noch umfänglicheren, noch drohungs- und verheißungsvollem Sinn Jerusalem das Tor der Völker‘“ (Martin Buber nach Fabian Freiseis S. 167 f.).  Buber legte damit als einer der Ersten eine Vorstellung von jüdischer Mystik vor, die nationalistisch begründet ist und eine messianische Erlösung für alle Menschen Geltung habe. Unter anderem gelangten auf diesem Wege totalitäre, kolonialistische Motive in Bubers Vorstellung einer zionistischen Erlösung.

Wie Buber suchte auch Gordon eine dichotomische Trennung zwischen Religiösem und Säkularem und zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit im Erleben der Arbeit inmitten des ‚Mutterbodens‘ zu überwinden.  Die Funktion der Arbeit des jüdischen Volks als Scharnier zwischen Nation und Religion kann als neu konzipierte Form aktivistischer Mystik gedeutet werden. 

Ber Borochov will wie Buber und Gordon einen jüdisch-partikularen Nationalismus mit einer universalen, monastisch grundierten Erlösungsidee verbinden, hat aber einige Mühe, den jüdischen Nationalismus in sein sozialistisches Denken einzubringen. Religion war für ihn lediglich eine traditionelle Kategorie, die er einerseits überwinden wollte, andererseits aber in seiner späten Lebensphase aufgrund der religiös-sprachlichen Symbolik als Mittel zur Erzeugung eines Gemeinschaftsgefühls benutzt hat.

Buber, Gordon und Borochov standen existentiell vor ähnlichen Herausforderungen, haben aber unterschiedliche Wege beschritten und sich in ihren Lösungsversuchen teils erheblich voneinander unterschieden, was auch an ihrem weit auseinander liegenden Alter liegt. Der 1856 geborene Aharon David Gordon (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Aharon_David_Gordon) sieht eher einen Ist-Zustand vor sich, der 1878 geborene Martin Buber (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Buber) und der 1917 geborene Ber Borochov (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Ber_Borochov) einen Soll-Zustand. Unter anderem deshalb „ist es nicht nur anachronistisch, vom jetzigen israelitischen Staatsgebilde ausgehend allgemeine Kontinuitäten zum frühen Zionismus zu behaupten. Dieses Vorgehen bildet […] die Heterogenität im frühen Zionismus nicht ab […]. Das hat Folgen für die aktuelle Diskussion innerhalb der israelischen Gesellschaft. Die aus historischer Sicht falsche These einer starken Homogenität und Kontinuität der ersten zionistischen Entwürfe bei Borochov, Buber oder Ha’am über die Ideen Jabotinskys, Weizmanns oder Ben-Gurions bis in die Gegenwart hinein hat Folgen für den heutigen Zionismus an sich […]. Anstatt die frühzionistischen Entwürfe in ihrer ganzen Ambivalenz, damit auch in ihrem Reichtum zu rezipieren, wird eine Homogenität proklamiert, die dem Zionismus schadet, weil dadurch problematische Denkinhalte des frühen Zionismus unreflektiert bestätigt werden. Es ist offenkundig geworden, dass weder Buber oder Herzl […] noch Gordon oder Borochov frei von abwertenden, abschätzigen Einschätzungen gegenüber ‚dem‘ Orient‘ waren. Mehr noch: Bei Buber fanden sich sogar, ähnlich wie bei Herzl und Gordon, abwertende Einstellungen gegenüber westeuropäischen Juden. Diese konnten etwa bei Gordon in den Zusammenhang mit einer Abwertung der Assimilation gebracht werden. Zugleich ließen sich sowohl bei Buber als auch bei Gordon und Borochov kolonialistische, antikolonialistische sowie antiimperialistische Äußerungen finden […]. Aus diesem Grund finden sich bei allen drei Autoren auch Motive eines kolonialistischen Kampfs gegen die arabische Bevölkerung in Palästina. Das gilt auch für Herzl. Bisweilen wird dabei das entwickelte jüdische Volk einem barbarischen Volk oder halbbarbarischen Nachbarn gegenübergestellt. Oder die vollendete Entwicklung des jüdischen Volks wird von der kolonialen Besetzung des ‚Heimatbodens‘ abhängig gemacht. Diese problematischen frühzionistischen Inhalte werden durch die Kontinuitätshypothese bestätigt, anstatt historisch konzeptualisiert zu werden, um solche chauvinistischen Stereotypisierungen zu überwinden“ (Fabian Freiseis, S. 247 f.).

Die Einbindung der frühzionistischen Narrative in die Zeit der ersten jüdischen Selbstvergewisserung nimmt den vorliegenden chauvinistischen oder orientalischen Einstellungen „nicht die moralische Fallhöhe, erklärt aber, wieso es ausgerechnet innerhalb einer angefeindeten Minderheit zu solchen innerjüdischen Stereotypisierungen kam. Zugleich zeigt sich, dass eine Trennung zwischen ost- und westeuropäischen zionistischen Sichtweisen künstlich ist und erst im Nachhinein oder von bestimmten Personen proklamiert wurde, um die negativen Folgen der Kontinuitätshypothese einer bestimmten Gruppe zuschreiben zu können“ (Fabian Freiseis, S. 248). Die frühzionistischen Konzeptionen sind nicht direkt mit europäischem Kolonialismus gleichzusetzen, sondern können mit Nathan Sznaider auch als Befreiungsversuch vom europäischen Kolonialismus und Imperialismus verstanden werden: „In diesem Sinne kann man den Zionismus auch als dekolonisierende Bewegung verstehen. Dieses Doppelgesicht macht das Sprechen über Juden, Zionismus und Kolonialismus so komplex. […] Juden können orientalisch und orientalisierend, Minderheit und Mehrheit zugleich sein. Das sind Geschichten, die eigentlich ein produktives Gespräch zwischen Postkolonialismus und jüdischen Erfahrungen ermöglichen könnten. Die jüdischen Erfahrungen des 19. und 20, Jahrhunderts, Minderheitenpolitik, Problematiken der Assimilation, Anerkennung, Antisemitismus, Strukturen der Exklusion und Inklusion, könnten auch postkoloniale Erfahrungen sein“ (Natan Sznaider, S. 248 f., Anmerkung 38).

„Ein Beispiel für die Möglichkeit der Abwendung von kolonialistischem oder orientalistischem Denken zeigt die Biographie Martin Buber, der stellvertretend für die Brüche und die Vielfalt innerhalb des Zionismus steht: Er wurde nach der Gründung des israelischen Staats zu einem aktiven Unterstützer der Zweistaatenlösung“ (Fabian Freiseis, S. 249). Dass eine Zweistaatenlösung nach dem Massaker der bewaffneten Brigaden der Hamas am Morgen des 7. Oktober 2023 und dem Pogrom von mit Hämmern, Äxten und Mistgabeln bewaffneten palästinensischen Zivilisten am Mittag mit seinen 1205 Toten und den bis heute 41802 Todesopfern im Krieg zwischen Israel und Hamas in weite Ferne gerückt und unwahrscheinlich geworden ist, steht auf einem anderen Blatt (vergleiche dazu https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417316/umfrage/opferzahlen-im-terrorkrieg-der-hamas-gegen-israel/).

ham, 7. Oktober 2024

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