Verlag C.H.Beck, München 2023, ISBN 978-3-406-79717-0, 191 Seiten, 3 Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 22 x 14,5 cm, € 23,00
Um 1900 war Deutschland noch ein agrarisch geprägtes Land. Bauern und ihre Familien stellten etwa 60 Prozent der Bevölkerung (vergleiche dazu und zum Folgenden Sabine Kaufmann, Geschichte der Landwirtschaft. In: https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/landwirtschaft/geschichte_der_landwirtschaft/index.html). 38,2 Prozent arbeiteten als Landwirte auf ihren Höfen. Mehr als die Hälfte von ihnen wirtschaftete auf einem Parzellenbetrieb, der nicht größer als zwei Hektar war. Die Klein- und Mittelbauern besaßen Betriebe zwischen zwei und 20 Hektar. Zu den Großgrundbesitzern zählten lediglich fünf Prozent aller Höfe. In Baden, Württemberg und Hessen herrschte Realteilung: Jedes männliche Kind erbte einen Teil; dadurch wurden die Höfe immer mehr aufgesplittert. In Hannover, Westfalen und Schleswig-Holstein galt dagegen das Prinzip der ungeteilten Hoffolge; die Höfe blieben erhalten und der Hof musste die ganze Familie und die Altbauern versorgen. Man stand beim ersten Hahnenschrei auf und arbeitete so lange, bis die Sonne unterging. Neben Knechten und Mägden galten auch die Kinder als Arbeitskräfte. 2020 lebten nur noch rund zwei Prozent von der Landwirtschaft; 1,2 Prozent waren Bauern.
Bauersfrauen bekamen im Mittelalter durchschnittlich wohl fünf bis sechs Kinder (vergleiche dazu und zum Folgenden Bernd Eggen, Martina Rupp, Kinderreichtum: eine Ausnahme in der neueren Geschichte? In: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg, 3, 6–14. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-417358). Im späten Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit waren bis zu 20 Geburten in der Ehe
keine Seltenheit; ein Drittel bis ein Viertel der Kinder starben, bevor sie mündig geworden waren. Um 1895 begann die Zahl der Geburten auf zwischen 4,4 und 8,4 Kinder zu sinken, in protestantischen Ehen rascher als in katholischen. Bei Bauern ging der Rückgang langsamer: Zwischen 1750 und 1799 lag die Fertilität bei 7,1 Kinder; zwischen 1800 und 1849 sank sie auf 6,3 und zwischen 1850 und 1874 erreichte sie den Wert von 5,5 Geburten pro Ehe. Dass der Bauer Bernhard Fire und die Diplomlandwirtin Friederike Habel nach ihrer Heirat im Jahr 1943 auf ihrem in der Bauernschaft Horst bei Nottuln gelegenen Hof zwischen 1944 und 1969 zwölf Kinder bekommen haben und elf von ihnen großziehen konnten, ist an der Wende zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ungewöhnlich. Dass der 1962 als Neunter geborene Ewald die Geschichte seiner katholischen Bauernfamilie aus dem Münsterland und ihren stillen Abschied vom bäuerlichen Leben nach Interviews mit seinen Geschwistern mit dem Blick des professionellen Historikers aufzeichnen konnte, auch. (vergleiche dazu https://www.sueddeutsche.de/kultur/ewald-frie-ein-hof-und-elf-geschwister-1.5751081). Seine 1965 nach ihm geborene Schwester Helene ist noch im selben Jahr verstorben.
Der Bauernsohn Ewald Frie hat an der Universität Münster Geschichte und Katholische Theologie studiert, sich 2001 habilitiert und war ab April 2007 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Trier. Im Sommer 2008 nahm er einen Ruf auf eine Professur für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen an. Im Sommer 2021 lud ihn eine Tübinger Kollegin ein, einen Vortrag in einer Ringvorlesung zum Bildungsaufstieg zu halten. Er sagte zu, bekam dann aber Zweifel: „In Bezug auf das Universitätsstudium bin ich ›First Generation‹, das stimmt. Aber in Bezug auf die Rinderzuchtwelt bin ich ›Last Generation‹. Ich kann ganz viele Dinge nicht mehr, die mein Vater konnte: Vererbungsqualitäten von Bullen an deren äußerer Gestalt ablesen, Ferkel mit dem Taschenmesser kastrieren, fließend Plattdeutsch reden, Besen binden, das Wetter aus dem Zug der Wolken und der Farbe des Sonnenuntergangs vorhersagen. Außerdem bin ich im Vergleich zu ihm ein miserabler Doppelkopfspieler.
In Bezug auf den Katholizismus meiner Mutter steht es nicht viel besser. Ich kann weder die Namen der Apostel noch die ›Gesätze‹ des Rosenkranzes aufsagen [vergleiche dazu https://www.vatican.va/special/rosary/documents/misteri_ge.html]. Ich stehe keiner katholischen Vereinigung vor. Bei Kirchenliedern – Marienlieder ausgenommen – bin ich allerdings textsicher. Und anders als meine Mutter werde ich im Katholizismus nicht alt. Im Gottesdienst bin ich einer der Jüngsten. Schon 60 Jahre lang. Nur im Tübinger Studentengottesdienst ist das anders. Bin ich ein Aufsteiger? Meine Wohnung ist viel kleiner als der Wohnbereich des Hofs meiner Eltern. Ich besitze kein Land, keine Tiere, keine Apfelbäume und keine Feuerstelle. Mein Vater war in den 1950er-Jahren ein angesehener Rinderzüchter mit Kühen auf DLG-Schauen, einer Parade von Ehrenurkunden nahe dem Hauseingang und stolzen Verkaufserlösen auf dem Zuchtviehmarkt. Ich habe einen Professorentitel und eine lange Publikationsliste. Läuft das nicht eher auf ein solides Unentschieden hinaus? Umstieg statt Aufstieg? Wenn ich mich aber auf einen dieser Begriffe festlege – was ist dann gewonnen für die Geschichte meiner Geschwister im Ganzen? … Auf- und Abstieg sind nicht gut geeignet, um die Veränderung im Ganzen zu beschreiben, die meine Eltern, meine Geschwister und ich durchlebt haben. Eher schon trifft das Bild von ineinandergeschobenen und sich überlappenden Welten“ (Ewald Frie S. 161 f.).
Die erste Welt ist die verschwiegene Zeit des Nationalsozialismus. Sie hat auch in Fries Buch kein eigenes Kapitel, aber ist wohl der Grund für vieles, was in dem Buch verhandelt wird, vom tief verwurzelten Alltagskatholizismus über die vielen Kinder bis zur Neigung der Eltern wie der Kinder, sich eher jenseits der Politik im lokalen Nahbereich zu engagieren. Der Eltern hatten in einer zutiefst unsicheren Zeit geheiratet, die sie mit wachsendem Abstand von Krieg und Mangel wohl anders bewertet haben dürften als zuvor. Aber was sie zwischen 1943 und 1950 wirklich gedacht haben, weiß der Historiker nur vom Hörensagen und aus den Interviews mit seinen älteren Geschwistern. Ein Interview mit den Eltern war nicht mehr möglich: Seine Mutter ist 1994 bei einem Verkehrsunfall gestorben, sein Vater 1995.
Die zweite Welt ist die Rinderzuchtwelt seines Vaters, die es schon gab, als er den Bauernhof übernahm, „aber sie wuchs in den 1950-er Jahren zu einer wirklich großen Sache. Sie prägte das Leben der Familie: von der Alltagsarbeit auf der Tenne und auf dem Rübenacker über den monatlichen Zuchtviehmarkt bis zur festtäglichen Visite. Meine ältesten Geschwister haben diese Welt noch bewohnt und sind von ihr geprägt, auch wenn sie sich von ihr abgewandt haben. Hermann hat den Bauernhof eine Generation weitergeführt, mit einem ganz anderen Wirtschafts- und Arbeitskonzept, als sein Vater es verfolgt hatte. Dennoch sieht auch er noch seine Schweinehaltung mit dem Konzept des Vaters verbunden.: Nicht nur der Vater sei ein ›passionierter Züchter‹ gewesen. Das ›steckte auch in mir drin, ich musste züchterisch irgendwie tätig sein‹“ (Ewald Frie S. 163 f.)
Die dritte Welt ist die des Reformkatholizismus der langen 60-er Jahre, in dem sich die Mutter ihren Raum schuf und über den sich die mittleren und jüngeren Kinder in der Welt des Dorfes und der Kleinstadt integrierten. „Sozial sortiert haben sich die Mittleren und Jüngeren in der Welt der dörflichen Handwerker, Händler und Geschäftsleute. Von da stammen unsere Partnerinnen und Partner, während die vier großen Geschwister Kinder von Bauern geheiratet haben. ›Insgesamt bewegen sich die landwirtschaftlichen Berufszugehörigen auf eine Mittellage hin, die etwa der unteren und mittleren Mittelschicht in unserer Gesellschaft entspricht‹, heißt es in einer agrarsoziologischen Untersuchung der frühen 1980-er Jahre“ (Ewald Frie S. 165). Die vierte Welt ist die Welt der Jugendkulturen und Events, in der sich das Dorf den Toren der Universitätsstadt Münster angenähert hat. Das war nicht mehr die Welt der Eltern.
„Hinter den ineinander geschobenen vier Welten liegt als Langzeittrend die Auflösung der bäuerlichen Gesellschaft. Sie verlief still und zugleich rasend schnell. Die Interviews zeigen nicht nur, dass das Geschlecht einen großen Unterschied macht. Es kommt auch auf Jahrgänge an … Zehn Jahre bedeuten eine Welt. Die Dynamik zeigt sich aber erst im Vergleich. Jedes Interview allein wirkt statisch. Meine Geschwister erzählen, dass es ›früher‹ eben so war, wie es war. Sie entwerfen ihre Kindheit mit dem Grundton der Konstanz. Von dort aus setzten sie den Wandel in Gang, der ihr Leben kennzeichnet. Frappierend ist, wie unterschiedlich sie das ›Frühere‹ beschreiben und wie wenig sie über diese Unterschiedlichkeit wissen … Mittlerweile sind die meisten von uns im Rentenalter. Hermann bewohnt das Haus Horst 17 mit dem Sandsteingiebel von 1897. einen Hoferben im bisherigen Sinn hat er nicht. Die Fläche des Hofes ist zu klein für eine selbständige Betriebsführung. Stallungen und Ländereien sind verpachtet … Meine Geschwister betonen in den Interviews die Freiheit, die sie in ihrem Leben gewonnen haben. Wir konnten uns entscheiden: für Berufe, Partnerinnen und Partner, Lebensmittelpunkte. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben war für uns kein trauriger Abschied. Er bot Chancen, die meine Mutter nicht hatte und mein Vater wahrscheinlich nicht hätte haben wollen. Dennoch bleiben wir durch unsere Herkunft geprägt“ (Ewald Frie S. 166 ff.).
ham, 25. Februar 2023