• ORT :

    Nordheimer Scheune, Talstraße 31/1, 74226 Nordheim
  • Datum:

    15. Februar 2025

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde der Nordheimer Scheune,

jeder von uns träumt in der Nacht. Jeder träumt anders. Die meisten haben immer wieder auch Tagträume und Klarträume und manche können ihre Klarträume auch steuern. Aber nur wenige träumen wie die 1992 in Seoul geborene Jungin Hwang in ihren Malereien und Zeichnungen weiter und stellen sie sich so vor Augen, dass sie noch nach Jahren wissen, was sie geträumt haben und was sie einmal für sie bedeutet haben.  So hat Jungin Hwang vor einem Jahr geträumt, sie sei ein Mischwesen und ihre Mutter eine Elfe. Sie war sechs Jahre alt und kam mit der Zeit in die Pubertät. In dieser Zeit des Übergangs hat sie sich in eine andere verwandelt und spitze Ohren bekommen. Auf ihrer rechten Hand wuchs eine Pflanze, die immer größer geworden ist. In der Schule wurde sie von den anderen Kindern gemobbt. Ein Psychiater hat ihr geraten, sich operieren zu lassen. In einer schmerzhaften Operation wurde ihr die Pflanze mit einem quadratischen Schnitt aus der Handoberfläche herausoperiert. Nach einem Jahr ist die Pflanze wieder gewachsen. Ich bin kein Psychologe und auch kein Psychiater und kann und will mich deshalb nicht auf Deutungen dieses Traums in der Spur von Sigmund Freud, Psychoanalytikern wie Wilhelm Reich oder Körperpsychotherapeuten wie Alexander Lowen einlassen, sondern Sie erstens kurz und knapp mit Hwangs Zugang zur Malerei bekannt machen, in einem zweiten Teil einige Arbeiten von ihr vorstellen, dabei auf ihre Traumvorstellung von Verwandlungen von Menschen in Tiere und Pflanzen aufmerksam machen und im dritten Teil auf ihre Nähe zur Vorstellung der „deep Inkarnation“, des tiefen Eingehens Gottes in das Fleisch, eingehen.

 

  1. Wie geht Jungin Hwang beim Malen vor und was bedeutet für sie Malerei?  Ihre Malerei eröffnet Hwang die Möglichkeit, ihrem eigenen Körper, ihrer Figur, ihrem Selbst und ihrer surrealen Traumwelt erzählerisch zu begegnen. Beim Malen setzt sie mit aquarellierten Hintergründen ein, ordnet danach ihre Komposition zu einem zwischen Figuration und Abstraktion changierendem organischen Ganzen. Auch wenn sie stark leuchtende Farben benützt, sind diese nicht symbolisch konnotiert. Vor acht Jahren hat sie einmal überlegt, ob sie nicht nur schwarz auf weiß arbeiten sollte; sie hat sich dann aber dagegen entschieden, weil ihr eine farbige Bildwelt komplexer, widersprüchlicher und humorvoller erschien. In ihren Gemälden auf Leinwand arbeitet sie in Öl, in ihren Zeichnungen auf Papier vorwiegend mit Gouachen. Abstraktionen geben ihr die Möglichkeit, ihre Träume besser auszudrücken. Als sie 2017 zum Studium in die Klasse von Franz Ackermann in der Kunstakademie Karlsruhe gekommen ist, hatte sie schon Vorstudien an einer koreanischen Fachhochschule für Kunst und an einer privaten Kunsthochschule hinter sich. 

2. Arbeitsbeispiele

In ihrer Malerei „Um wie eine Bürgerliche auszusehen“ von 2024 stellt uns Hwang eine allseits       bekannte Situation vor: Sie steht vor einem Zebrastreifen. Auf der anderen Seite kommt ein Auto. Sie hebt ihre Hand, um anzuzeigen, dass sie gehen will. Eine Ampel zeigt gleichzeitig Rot, Gelb und Grün. Damit bleibt unklar, wer gehen oder fahren darf. Wie in fast allen Arbeiten sieht sie sich im Fußgänger, Fahrer und Auto verkörpert. Sie ist zugleich Auto – auch das Auto hat Augen! – und Fußgängerin. Und wahrscheinlich sieht sie sich auch in der Ampel inkarniert.

In ihrer Folgearbeit „Der Traum des Papageis“ aus demselben Jahr beginnt sie mit einem dunklen Hintergrund, weil auch der Papagei in der Nacht träumt. Die tragende Figur sollte gegenüber der Vorgängerarbeit simpler daherkommen. Das gelingt ihr auch. Sie ist jetzt auf einen Kopf, einen stilisierten Oberkörper mit drei Brüsten und einen dominierenden Fuß reduziert. Ein grüner Strahl schießt aus dem Mund heraus und trennt oben und unten. Auf dem Strahl sitzt ein Papagei. Nach unten hängt eine blaue Hose. Aus ihr wächst ein Oberkörper heraus. Der dunkelgrüne Kopf mit den beiden Augen in der linken oberen Ecke neben dem Papagei ist dem japanischen Film „Mein Nachbar Totoro“ aus dem Jahr 1988 entlehnt, in dem zwei Schwestern in einem benachbarten Wald auf Naturgeister treffen. Hwang ist wieder in allen Figuren, im Papagei, im Totoro, im überhängenden Oberkörper und auch im Nachtblau des rechten Randes präsent.

In „Curtain Call“ von 2024 treten die Protagonisten zwischen zwei neongelben Vorhängen wie Schauspieler vor dem Schlussapplaus auf die Bühne und verwandeln sich in Monster und Ungeheuer. 

Im „Selbstporträt“ von 2021 zeigt sich Hwang als zugleich sitzende und stehende Figur mit vier Beinen. Diese Malerei hat auch den Charakter einer Übung: Sie hat ihr geholfen, freier mit ihrem Pinselstrich umzugehen.

In den Zeichnungen „Die Fleischerei“ von 2023 im Wohnzimmer links neben der Malerei „Der Traum des Papagei“ und „Die Fleischerei im Wald“ von 2023 am Treppenaufgang links neben der Eingangstüre sind Kunden zu sehen und bei beiden hängen Fleischstücke von der Decke. Eines der Fleischstücke könnte ein Mensch sein. Mir fallen Folterkammern aus der Zeit des Nationalsozialismus, Dietrich Bonhoeffer vor seiner Ermordung und der Folterskandal von

Abu-Ghuraib während der Besetzung des Irak durch die Vereinigten Staaten ein, aber auch 1. Petrus 1, 24 und seine Parallelen: „Alles Fleisch ist wie Gras und alle seine Herrlichkeit wie des Grases Blume. Das Gras verdorrt und die Blume ist abgefallen, aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit“. Ich gehe dem Motiv weiter nach, stoße auf den Anfang des Johannesevangeliums: „Am Anfang ward das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort … Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Johannes 1,1 ff.) und den Film „Animalia“ von Thomas Cailley aus dem Jahr 2023.

3. Deep Incarnation 

Nach dem 2023 im Filmfestival von Cannes uraufgeführten französischen Science-Fiction-Film „Animalia“ sind auf der Erde erste Mutationen vom Menschen zum Tier aufgetreten. Zwei Jahre später hat sich die Gesellschaft an die Entwicklung angepasst, die Männer und Frauen befällt.»Wusste ich’s doch!« Sagt die junge Frau lächelnd, als sie das erste Mal über den nackten Rücken des Geliebten streicht. Dessen ganzer Körper ist im Begriff, sich zu verwandeln. Was sie nicht weiß: er muss sich schon länger die Krallen schneiden, die sich inzwischen regelmäßig unter seinen Fingernägeln hervorschieben. Ist es ein Virus? Oder was verursacht diese neue Pandemie, in deren Verlauf sich die Menschen mehr oder weniger schnell in Tiere verwandeln?“ (Inge Kirsner, Von Menschen und anderen Tieren. In Praktische Theologie 4, 2024, S. 255). Nach der Theologin Inge Kirsner steht der Film für den Animal Turn, der sich seit den 1990er Jahren in den Kulturwissenschaften entwickelt. Auch in der Theologie, in der sich das Verständnis dessen, was der Mensch ist, seit Jahrhunderten in Abgrenzung zum Tier entwickelt hat, bemüht man sich in Zeiten des kommenden Post-Anthropozäns, also des kommenden Zeitalters, in dem nicht mehr der Mensch der Herr aller Dinge und das Maß der Welt ist, um ein neues Verhältnis zu sich selbst und zur Umwelt. Ein Ansatzpunkt ist die aus dem amerikanischen Raum kommende „deep incarnation“. Ausgangspunkt ist Johannes 1, 14: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“. Im Griechischen steht „Logos“ für das Wort – man kann Logos auch mit Weisheit übersetzen – und für Fleisch steht „sarx“. „Sarx“ geht auf das Hebräische „Kol-basar“ zurück, „alles Fleisch“. „Alles Fleisch“ ist dort auf Menschen und Tiere gemünzt. Wenn man so auslegt, ist Gott demnach nicht nur Mensch geworden, sondern er hat sich in der ganzen Schöpfung inkarniert. 

Auch in „Animalia“ werden die Grenzen zwischen Menschen und Tieren aufgebrochen und Neues geschaffen, wenn sich Menschen in Bären, Geckos, Frösche, Vögel oder einen Wolf verwandeln und einen Zufluchtsort mitten im Wald finden, in dem Wölfe bei den Lämmern wohnen und Panther bei den Böcken liegen, wie es bei dem Propheten Jesaja heißt (vergleiche Jesaja 11, 6 ff.). 

Wenn aus Amerika nicht nur Trumps Mega-Dekrete, „Make America great again“ kommen, sondern auch die Erinnerung an das von Jesaja angekündigte Friedensreich, und wenn Jungin Hwang sich wie der sich in der Immanenz inkarnierende Gott zumindest in ihren Träumen und in ihren Malereien und Zeichnungen in jedem Anderen und in den Dingen sehen kann, besteht noch Hoffnung, Hoffnung auf eine bessere Zeit.

ham, 15. Februar 2025. 

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