Liebe Freundinnen und Freunde der Nordheimer Scheune, sehr geehrte Damen und Herren,

in Julian Riedels passend zum Zeitpunkt der Ausstellungseröffnung auf Dämmerung gestimmter Ausstellung fallen einem zuerst die Häuser, Interieurs und Landschaften ins Auge. Beim zweiten Blick und in der Gesamtschau treten dann aber die Fenster in den Vordergrund. Auf sie will ich mich in meiner Einführung konzentrieren. Sie haben die Arbeiten der Ausstellung schon im Kopf? Von den vier Großformaten der Ausstellung tragen drei die Bezeichnung „Fenster“. Und auch das hier in der Galerie präsentierte vierte Großformat mit dem Titel „Lachnerstraße“ hat es, wie leicht zu sehen ist, mit Fenstern zu tun. „Lachnerstraße“ stellt die orangerote Silhouette einer Figur vor, die vor hellblau und grün bemalten Eckfenstern sitzt. Der Raum ist in einem dunklen Uni- oder Navyblau gehalten, das in der unteren Hälfte von roten Einsprengseln aufgelockert ist. Diese Einsprengsel setzen sich als Pinselschwünge in den Fenstern fort. Die blau gerahmte lindgrüne Malerei „Fenster (Fußabdrücke)“ widmet sich dem Sujet „offenes Fenster“ und wird damit zu einer Art Programmbild für Riedels Malerei. Weitere Fenster sind, wenn auch unbenannt, in fast allen Mittelformaten der Ausstellung zu finden.

Nach der Dissertation von Stefan Rasche „Das Bild an der Schwelle. Motivische Studien zum Fenster in der Kunst nach 1945“ (vergleiche dazu S. Rasche, „Das Bild an der Schwelle. Motivische Studien zum Fenster in der Kunst nach 1945“. In: Theorie der Gegenwartskunst, Band 15. Uni. Diss. Münster 2001. Lit. Verlag Münster 20 in: 

https://www.google.de/books/edition/Das_Bild_an_der_Schwelle/0ixDQO4a7ScC?hl=de&gbpv=1&pg=PP1&printsec=frontcover) hat das Fenster als Medium der visuellen Kommunikation von jeher das Interesse der Künstler erregt, weil es Ein- und Ausblicke auf der Schwelle von Innen- und Außenraum, von privater und öffentlicher Sphäre, von Haus und Gelände gewährt. Entsprechend hoch ist sein ästhetisches Potenzial. Darstellungen von Fenstern erlauben es Künstlern, grundsätzliche Fragen malerischer Repräsentation zu verhandeln und geben darüber hinaus Anlass zur Selbstreflexion. Fenster verweisen als Öffnung und Leerstelle auf etwas außerhalb ihrer selbst; sie werden zum Durchgang, schaffen Raum und erweitern den Blick.

Leon Battista Alberti hat in seinem Malerei-Traktat De Pictura von 1435 empfohlen, sich das rechtwinklige Viereck einer Bildfläche wie ein geöffnetes Fenster vorzustellen, durch das erblickt wird, was gemalt werden soll. Damit geht die Vorstellung vom Bild als fenestra aperta, als offenem Fenster, in die kunsttheoretische Diskussion ein und wird unter anderem von Albrecht Dürer mit zentralperspektivischen Konstruktionsvorschlägen verbunden. In der Zentralperspektive wird die Bildfläche als transparente, lotrechte Schnittfläche durch die euklidische Sehpyramide gedacht, die vom Augapfel ausgeht. Damit entsteht eine visuelle Teilhabe an der Bild- und Schnittfläche aus räumlicher Distanz, die Ernst H. Gombrich als Augenzeugenprinzip bezeichnet. Neuralgischer Punkt dieser Bildprojektion ist die Gemäldefläche, die Tiefe suggerieren soll, aber auf der zweidimensionalen Bildfläche „flache Tiefe“ bleibt. Der Mitte des 15. Jahrhunderts aufkommende Bilderrahmen  erinnert an Fensterrahmen und unterstreichen die Schwellenfunktion der Bildfläche; sie heben die Problematik der flachen Tiefe aber nicht auf. Der moderne und der zeitgenössische Verzicht auf Rahmen hätte dazu führen können, dass die Bildfläche zur einfachen Tragfläche für Formen und Farben wird. Aber diese Wendung in der Vorstellung eines Bildgrunds kollidiert mit der durch die natürliche Erfahrung bestätigten Gewohnheit, dass Gemälde als Übergang in andere Sehwelten und Sichtweisen empfunden werden.

Julian Riedel hat sich durch dieses Dilemma des Genres nicht irritieren, sondern anspornen lassen und ein Fenster nach dem anderen gemalt. Deshalb kann er so viele unterschiedliche auf Papier, Leinwand, Sackleinen und MDF-Gründen gemalte Fenster in allen Größen und Farben in unserer Ausstellung zeigen, so die Fenster auf den Skizzen auf Papier aus dem Jahr 2025im Eingangsbereich, die schon erwähnten Großformate „Fenster (Peterchens Mondfahrt)“, 2019, Öl und Alkydharzlack auf Leinwand, 200 × 160 cm, und „Fenster“, 2019, Acryl, Sprühfarbe und Alkydharzlack auf Leinwand in derselben Größe im Wohnzimmer, das nachtschwarz gerahmte rote Fenster auf der Papierarbeit „Silhouette“, 2024, Aquarell und Öl auf Papier, 30 × 40 cm am oberen Ende des Treppenaufgangs vor der Galerie, die durch Bäume und Gestrüpp verdeckten Fenster des ungerahmten Kleinformats„Bellverde“,2017, Aquarell, und Öl auf Papier, 18 x 24 cm, die blau-rot und grün-rot gesprenkelten Fenster des Großformats „Lachnerstraße“, 2025, Acryl auf Leinwand, 155 × 200 cm, die Fenster auf den Mittelformaten „Schlund“, 2025, Mischtechnik auf Leinwand, 45 × 50 cm, „Haus VII“, 2018, Acryl, Spray und Öl auf Leinwand, 45 × 50 cm, „Wurmlöcher“, 2023, Airbrush, Pastellkreide und Öl auf Leinwand, 42 × 54 cm, „Kokon“, 2019, Acryl und Öl auf Leinwand, 45 × 50 cm, „Strada Stelle“, 2023, Acryl und Öl auf Sackleinen, 40 × 50 cm, weiter die Fenster auf der gerahmten Papierarbeit „ohne Titel“, 2017, Aquarell und Öl auf Papier am Treppenaufgang zum zweiten Stock und in der Arbeit „Haus V“, Tempera, Pastell, Kreide, Sprühfarbe und Öl auf Leinwand, 50 × 45 cm und schließlich auch noch die Fenster des blau und lindgrün dominierten Großformats „Fenster (Fußabdrücke)“, 2019, Acryl, Öl und Spray auf Leinwand, 160 × 200 cm.

In diesem Großformat stellt uns Riedel sein malerisches Konzept buchstäblich vor Augen. Er malt es in der Nachfolge von Alberti als geöffnetes Fenster, hält es aber zugleich und anders als dieser verschlossen. Dieses paradoxe Zugleich und Ineinander von offen und verschlossen wird erst beim zweiten und dritten Hinsehen verständlich und dann im Vergleich mit dem mit einer milchigen Folie  nach außen verschlossenen Galeriefenster in seiner Nachbarschaft klar: In „Fenster (Fußabdrücke)“ ist eine lindgrüne Fläche an die Stelle der Wand getreten und zur Schnittstelle von Innen und Außen geworden. Diese Schnittstelle bleibt wie das Galeriefenster nach außen undurchsichtig und verschlossen. Auf dieser Schnittfläche verhandelt Riedel sein malerisches Programm. An die Stelle des von Alberti empfohlenen Blicks nach draußen sind bei ihm Fußabdrücke getreten, die zeigen, dass er Spuren auf dem Lindgrün und in der Malerei hinterlassen will.

Die in dem Gemälde hell- und dunkelblau gerahmte Fensterbank zeigt von innen nach außen. Der Vorsprung über dem Fenster wird zum Absatz und kehrt die Richtung um: Er zeigt von außen nach innen. Damit heben sich die gegenläufigen Richtungen des Zeigens malerisch auf und zwingen den Betrachter, auf der lindgrünen Bildfläche stehenzubleiben. Man blickt nicht mehr wie bei Alberti nach draußen, sondern auf das, was in der hell- und dunkelblau gerahmten Bildfläche passiert. Damit rücken die im geöffneten Doppelfenster gemalten Fußabdrücke, die blau-rote Abstraktion auf dem rechten Fenster und ihre Spiegelung auf dem mittleren Fenster ins Zentrum. Auch die jetzt in der Ausstellung gezeigten Landschaften, Häuser und Interieurs docken an dieser Fläche an und könnten dort wie die Fußabdrücke zum Bild im Bild werden. Sie sind wohl wie „Fenster (Fußabdrücke)“ im Kopf des Künstlers entstanden und im Atelier gemalt. Damit ist beschrieben, dass es Riedel im Kern und in der Regel um Malerei über Malerei geht und die im Freien gemalt Arbeit „ohne Titel (Pleinair)“, 2021, Öl auf Leinwand, 30 × 40 cm, die Ausnahme bleibt. Diese Arbeit ist im Eingangsbereich über dem Treppenabgang zu finden.

Wenn man Riedel fragt, wie er seinen Malprozess strukturiert, sagt er, dass er in einem ersten Schritt Acrylfarben fließend wie beim Aquarellieren auf die Leinwand aufbringt und dort abstrakt verdichtet. Die blau-rote Abstraktion auf dem rechten Fenster der Malerei „Fenster (Fußabdrücke)“ veranschaulicht diesen Vorgang ebenso wie der abstrakte blau-rote Grund der Malerei  Lachnerstraße. In einem zweiten Schritt überlegt er, welches Motiv zur Farbstimmung, Malweise und Anmutung der im ersten Schritt gefundenen Abstraktion passen könnte. Er befragt sein persönliches Bildarchiv, das er sich ähnlich wie Gerhard Richters „Atlas“ aufgebaut hat, und wählt das Motiv aus. In einem dritten Schritt setzt er es in die vorbereitete rechteckige oder quadratische  Fläche. Auf dem Weg in die Bildfläche wird das Motiv, wie Riedel sagt, „heruntergebrochen“, und das meint, dass er es aus einer naturalistischen Darstellung herauslöst und in freier und veränderter Weise in seine Komposition einfügt und verdrahtet. Dabei hält er sich an die Regeln des goldenen Schnitts. Seine Malweise variiert vom aquarellierenden über den deckenden bis zum pastosen Farbauftrag. Zum Einsatz kommen Acryl- und Ölfarben, vermischte Öl- und Acrylfarben und weiter Lack- und Sprühfarben. Pastell- und Ölkreiden ergänzen diese Farben und bringen sie auf den gewünschten Punkt. Flächige Stellen und Feinmalerei wechseln sich ab.

Riedels unausgesprochenes Ziel ist es, Bilder zu malen, die zum Betrachter sprechen und die sich im Idealfall selbst erklären. In diesem Fall müsste eigentlich gar nichts mehr zu den Bildern gesagt werden. Man würde vor ihnen stehen und sie verstehen. So hat es sich auch schon Henri Matisse vorgestellt und deshalb seinen Schülern geraten, sich die Zunge abzuschneiden, bevor sie etwas zu ihren Bildern sagen. Ihr Entschluss, Maler zu werden, hat ihnen nach seiner Auffassung jedes Recht genommen, sich mit irgendetwas anderem als dem Pinsel auszudrücken.

Aber so weit wie Matisse, meine Damen und Herren wollen wir und will auch  Julian Riedel in der Nordheimer Scheune nun doch nicht gehen. Deshalb bleiben wir dabei, nach der Einführung Fragen aus dem Publikum zu erbitten. Ob und wie Riedel sie beantwortet, werden wir sehen. Ich lade Sie herzlich dazu ein, Ihre Fragen zu stellen und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

ham, 9.10.2025

 

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