Texte zur Zukunft der Menschheit

Herausgegeben und eingeleitet von Rainer Funk

dtv Verlagsanstalt München, 2025, ISBN 978-3-423-35259-8, 256 Seiten, Format 19 x 11,5 cm, Taschenbuch, € 14,00 (D) / € 14,40 (A) / CHF 19,50

Rainer Funk, Erich Fromms letzter Assistent und Nachlassverwalter, hat nach seinem ersten Artikel zu Fromms Leben, Werk, Wissenschaft und Weltbild aus dem Jahr 1975 zahllose weitere Texte und Bücher zu Erich Fromm publiziert, darunter Erich Fromms Gesamtausgabe in 10 Bänden (vergleiche dazu https://www.rainerfunk.com/gesamtliste). Jetzt legt der Psychoanalytiker, Vorstand der Erich Fromm Stiftung, Direktor des Erich Fromm Instituts in Tübingen und Ko-Leiter des Erich Fromm Study Centers an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin teilweise unveröffentlichte Fromm-Texte zur Zukunft der Menschheit unter dem Titel »Humanismus in Krisenzeiten« vor, die das derzeitige Erstarken der politischen Rechten und die Wiederkehr des Autoritarismus beleuchten.

Das Konzept des autoritären Charakters wurde von Fromm zwar schon in den 1930er Jahren entwickelt. Aber es kann auch heute noch helfen, Machtstrukturen in autokratischen Staaten zu erklären. Fromm erkannte bereits in den 1960er Jahren die Bedeutung des Narzissmus und Gruppennarzissmus. „Beim narzisstischen Charakter geht es nicht wie beim autoritären um Herrschaft und Unterwürfigkeit, sondern um das Erleben von Großartigkeit und darum, sich mit großartigen Ideen, Menschen und Organisationen zu identifizieren. Damit lässt sich viel besser verstehen, warum Menschen geneigt sind, narzisstische Personen zu wählen und nationalistischen, fremdenfeindlichen Programmen zuzustimmen“ (Pressemitteilung zum 125. Geburtstag von Erich Fromm: https://fromm-gesellschaft.eu/125-jahre-erich-fromm/).

Die ausgewählten Texte wollen Leserinnen und Leser ansprechen, die gegenwärtige Entwicklungen in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur mit Sorge verfolgen, den Wahn des Gewinnen-Müssens nicht mehr mittragen können, es müde sind, die Dinge schönzureden und sich mit positivem Denken zu trösten oder das Heil in technischen Lösungen mithilfe der technischen Intelligenz zu suchen.

Im ersten Teil der ausgewählten Texte geht es unter dem Titel „Die Menschheit in der Krise“ vor allem um die emotionale Situation des gegenwärtigen Menschen. „Wie Fromm zu seiner Zeit über Gefühle der Angst, der Ohnmacht, der Orientierungslosigkeit, der Vereinsamung, der Hoffnungslosigkeit oder über den zunehmenden Fanatismus schreibt, spricht vielen Menschen von heute aus der Seele. Dabei geht es nicht nur um die enorme Steigerung seelischer Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen, Burnout und psychosomatischen Leiden. Es geht auch um die zunehmende Entsolidarisierung in einer auf rücksichtslosem Wettbewerb aufgebauten Wirtschaft und Gesellschaft oder um die Bedrohung der Demokratie, wenn das Anderssein des Anderen nicht mehr ausgehalten werden kann“ (Rainer Funk im Vorwort, S. 15). 

Der zweite, mit ‚Warum Krieg?‘ überschriebene Teil geht auf die Frage aus der Zeit der Kuba-Krise zurück, warum sich Menschen gegenüber einem möglichen atomaren Krieg passiv verhalten. „Eine erschreckende, aber psychologisch durchaus plausible Erklärung ist, dass die Menschen sich mehr von der Zerstörung des Lebens (Nekrophilie) als von einer Liebe zum Leben (Biophilie) angezogen fühlen. Natürlich wird dies kaum jemand zugeben, aber das faktisch gleichgültige Verhalten der Mehrheit der Menschen spricht eine andere Sprache, die Fromm zutiefst beunruhigt hat“ (Rainer Funk a. a. O. S. 19).

Nach dem „Identitätssuche und rechtspopulistischer Narzissmus“ überschriebenen dritten Teil des Textes suchen sich immer mehr Menschen ihre soziale Identität in nationalistischen, rassistischen und anderen Gruppen, narzisstischen Ideen, Institutionen und Organisationen. „Ausdruck dieses angeborenen Strebens nach Sozialität ist die Sozialcharakterbildung  – zu verstehen als Anpassungsleistung an die sozio-ökonomischen Erfordernisse und eine entsprechende wirtschaftliche und soziale Lebenspraxis. Die Frage der eigenen sozialen Identität treibt vor allem Menschen um, die sich abgeschrieben, vergessen, ausgegrenzt, entwertet und ohnmächtig erleben. Nicht wenige von Ihnen reagieren deshalb aggressiv, suchen und finden Schuldige und neigen zu extremen und gewaltsamen Lösungen. Andere suchen verzweifelt nach einer sozialen Identität und Zugehörigkeit, die sie wieder sich respektiert, berücksichtigt und wert erleben lässt. Ein Ausweg, den immer mehr Menschen suchen, um sich wieder anerkannt und zugehörig zu erleben, ist die fantasierte Idealisierung des Eigenen oder die Identifizierung mit einer idealisierten Person, Gruppierung, Institution oder Organisation in Politik, Religion, Kultur oder Medienwelt. Fan-Kultur ist angesagt!“ (Rainer Funk, S. 23)

Auf dem Weg zum Humanismus der einen Welt ist die Liebe der Hauptschlüssel, mit dem sich die Tore zum Wachstum des Menschen öffnen lassen. Fromm meint damit Liebe zu und Einssein mit jemand anderem oder etwas außerhalb von einem selbst, „wobei das Einssein besagt, dass man sich auf andere bezieht und sich mit anderen eins fühlt, ohne damit sein Gespür für die eigene Integrität und Unabhängigkeit einschränken zu müssen. Liebe ist eine produktive Orientierung, zu deren Wesen es gehört, dass folgende Merkmale gleichzeitig vorhanden sind: Man muss sich für das, womit man eins werden will, interessieren, sich für es verantwortlich fühlen, es achten und verstehen“ (Erich Fromm, Humanismus in Krisenzeiten, S. 241).

In einem Humanistischen Credo, das Fromm Mitte der 1960er Jahre verfasst hat, schreibt Fromm: 

»Ich glaube, dass der Einzelne, so lange nicht mit der Menschheit in sich in engen Kontakt kommen kann, solange er sich nicht anschickt, seine Gesellschaft zu transzendieren und zu erkennen, in welcher Weise diese die Entwicklung seiner menschlichen Potenziale fördert oder hemmt.« 

„Die Erkenntnis, jene Aspekte des Menschen-Möglichen, die durch die gesellschaftlichen Filter daran gehindert werden, als Aspekte des eigenen Menschseins wahrgenommen zu werden, macht die Gesellschaftskritik zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Humanismus in der Einen Welt. Fromm macht darüber hinaus deutlich, dass es eine lebenslange Aufgabe ist, das zur Entwicklung zu bringen, was in einer Gesellschaft und bei einem selbst durch die gesellschaftlichen Filter daran gehindert wird, als etwas Eigenes wahrgenommen zu werden. 

Der Humanismus Fromms zeichnet sich deshalb durch eine utopische Dimension aus, denn den Humanismus als ein erreichtes Ziel, über das man verfügen könnte, gibt es nicht. Humanismus ist nur als ein (psychischer und sozialer) Prozess denkbar, bei dem das Fremde und Andere gesellschaftlich und in jedem Einzelnen zu Bewusstsein gebracht wird und das Fremde im Fremden und Anderen mehr und mehr aufhört, etwas Fremdes zu sein, das ängstigt oder gegen das man sich aggressiv zur Wehr setzt. Nur so wird nach Fromm die Menschheit »zukunftsfähig«“ (Rainer Funk, Seite 29 f.).

ham, 27. Februar 2025

Kommentare sind geschlossen.

COPYRIGHT © 2023 Helmut A. Müller