Zeuys Books , St. Veit1, Neuhofen/ Ybbs, 2023, ISBN 978-3-903893-14-6, 108 Seiten, 8 schwarzweiße Bilder,  Klappenbroschur, Format 20 x 12,5 cm, € 12,00 (D, A)

Wer heute den Namen Rainer Funk hört, denkt an den in Tübingen lebenden Psychoanalytiker, Nachlassverwalter von Erich Fromm und Co-Leiter des  Erich Fromm Study Centers an der International Psychoanalytic University Berlin. Dass Rainer Funk am 18. Februar 2023 80 Jahre alt wird, kann man kaum glauben. Er ist immer noch für die Sache des 1980 verstorbenen Erich Fromm unterwegs, dessen letzter Assistent er zwischen 1974 und 1980 war. Dass der Kirchenkritiker Hans Küng und der spätere Papst Josef Ratzinger in Tübingen zu Funks Lehrern gehört haben und dass er nach dem Ende seines Studiums der Katholischen Theologie zwischen 1968 eigene berufliche Erfahrung in der kirchlichen Gemeinde- und Studentenarbeit gesammelt hat, ist aber kaum mehr bekannt. 1972 hatte Funk sein Promotionsstipendium über die Frage begonnen, wie Fromm, der sich als Humanist bekannte, seine Ethik begründet, wenn er nicht an Gott glaubt. Funk war von Fromms Schriften und seinem Versuch fasziniert, „die Erkenntnisse der Psychoanalyse über Irrationales und Verdrängtes auf gesellschaftliche und kulturelle Vorgänge oder eben auch auf ethische Fragen anzuwenden“ (Rainer Funk S. 15).

Funk nahm brieflich Kontakt mit dem damals in Locarno lebenden Fromm auf, wurde von ihm eingeladen und traf ihn am 1. September 1972 ein erstes Mal. Er war für ihn der erste Gelehrte, bei dem er das Gefühl hatte, „dass das, was er sagt, lehrt und schreibt, auch tatsächlich von ihm gelebt wird. Der Verfasser des weltberühmten Buches ›Die Kunst des Liebens‹ hatte tatsächlich die Fähigkeit, sich für jemand anderen zu interessieren, mit seinem Denken und Fühlen zum anderen hinüber zu reichen, sich in ihn einzufühlen, mit seinem Inneren Kontakt aufzunehmen und das Innere verstehen zu wollen“ (Rainer Funk S. 15 f.).  In der Folge war Funk als Theologe in seinem intellektuellen  Anspruch nach einer Begründungslogik für ethisches Handeln zutiefst verunsichert: „Hier lebte jemand vor, dass man Vernunft und Liebe einfach nur praktizieren muss, um für sich und andere das ethische Verhalten zu begründen“ (Rainer Funk S. 16). Zum anderen brachte er Fromms Sozialpsychologie auf 200 Seiten zu Papier und gab das Manuskript an ihn weiter. Fromm lud ihn zu weiteren Gesprächen nach Locarno ein und fragte schließlich, ob er sein Assistent werden wolle, um ihm wissenschaftlich zuzuarbeiten. Funk nahm die Einladung an und lebte ab Herbst 1974 für einige Zeit in Locarno, während ›Haben oder Sein‹ entstand. Ab 1977 begann er in Stuttgart eine therapeutische Ausbildung zum Psychoanalytiker, arbeitete parallel weiter für Fromm und war von 1979 an hauptberuflich als Psychotherapeut tätig.

Das jetzt auf Deutsch vorliegende Gespräch zwischen Rainer Funk und Hamid Lechhab geht auf eine in der marokkanischen Tageszeitung ›Al Massage‹ (Casablanca) zwischen dem 4. und 28. April 2022 an 23 Tagen ganzseitig veröffentlichte Interviewserie über das Leben und Werk von Erich Fromm zurück. Die 23 Kapitel spannen einen Bogen von Rainer Funks Weg zu Erich Fromm über Fromms jüdische Sozialisation, sein Verhältnis zu Sigmund Freud und sein Verständnis von Psychoanalyse als Bezogenheit bis zu Fromms Schlüsselwerk ›Die Furcht vor der Freiheit‹, sein Verständnis des Marketing-, des autoritären-, des narzisstischen- und des Ich-orientierten Charakters in der Postmoderne. Im abschließenden 23. Kapitel würdigt Funk den Weltbürger Fromm mit diesen Worten:

„Für mich lässt sich das Besondere des Weltbürgers Fromm am besten daran erkennen, dass er ein lebenslanges und tiefes Bedürfnis hatte, das Fremde und Andere kennen zu lernen. Dieses Bedürfnis zeigte schon der jugendliche Fromm mit seiner Begeisterung für das Talmudstudium, bei dem er unterschiedlichste Deutungen der Hebräischen Bibel kennen lernte; es folgte der Student, der Soziologie und Psychoanalyse zu einer interdisziplinären Sozialpsychologie verband. Immer geht es um das Fremde und Andere, wie es einem in den verschiedensten Spielarten des Menschen dieser Welt entgegentritt. Aber nicht genug damit: Für den Psychoanalytiker Fromm galt es, das Fremde und Andere auch im eigenen Unbewussten zu entdecken. Der tägliche Umgang damit bei der psychoanalytischen Arbeit und eigener Mediation und Selbstanalyse hat ihn mehr und mehr dazu gebracht, dass ihm (fast) nichts Menschliches mehr fremd war. Das ist der wahre Grund seiner Menschenliebe, die einen Weltbürger auszeichnet“ (Rainer Funk S. 101 f.).

Das eingängig formulierte und sehr gut lesbare Buch führt glänzend in die Welt von Erich Fromm ein und arbeitet zwingend heraus, dass für ihn Sexualität und Erotik keine Wesensmerkmale von Liebe sind. „Fromm nennt folgende ›Grundelemente‹, die eine produktive Liebe kennzeichnen: ›Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung vor dem anderen und wissendes Verstehen um den anderen‹. Im Kern geht es immer um die Fähigkeit, mit seinen Vorstellungen und Gefühlen beim anderen sein zu können, ohne dabei sein Eigensein und seine Eigenständigkeit aufzugeben. Es geht also bei der Liebesfähigkeit darum, hinüberreichen zu können, gedanklich und gefühlsmäßig beim Menschen da drüben zu sein, sich in ihn hineinversetzen zu können und mit ihm fühlen zu können. Man möchte mit dem anderen eins sein, ohne sich selbst zu verlieren und eigene Ansprüche und Wünsche zu opfern. Das ist es, was Fromm mit reifer und produktiver Liebe meint“ (Rainer Funk S. 49).

Für Fromm selbst ist ein ›gelebter Humanismus‹, bei dem der universale Mensch zum Maßstab des Handelns und aller Veränderungen gemacht wird, die beste Gegenstrategie gegen alle Erscheinungen des Narzissmus. „Die Erkenntnis, dass in jedem Menschen die Vielfalt der Menschheit zumindest potenziell gegenwärtig ist, macht das Fremde zum Eigenen und überwindet ein Selbsterleben, bei dem der andere und das Fremde zur Bedrohung des Eignen wird“ (Rainer Funk S. 74). Vielleicht genügt es aber auch schon, auf das theoretische Konstrukt eines ›uomo universale‹ zu verzichten und die Alterität, die Anderseits des nie ganz erfassbaren Anderen anzuerkennen (vergleiche dazu auch https://de.wikipedia.org/wiki/Universalmensch). Man muss sich dann aber eingestehen, dass es beim Umgang mit anderen unüberschreitbare Grenzen des Verstehens gibt.

ham, 9. Februar 2023

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