Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt
Siedler Verlag, München, 2021, ISBN: 978-3-8275-0123-3, 480 Seiten, 18 s/w Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 23 x 15,5 cm, € 30,00 (D) / € 30,90 (A) / CHF 41,50
Der 1934 in Tel Aviv geborene Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften von 2002 Daniel Kahneman (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Daniel_Kahneman) ist durch seine lebenslangen Forschungen über Unsicherheiten beim Urteilen bekannt geworden. Demnach unterliegen wir bei unseren vielfältigen Entscheidungen auf der einen Seite Verzerrungen und liegen mit unseren Urteilen systematisch »daneben«. Andere Urteile sind verrauscht; sie sind weit gestreut, obwohl sie eigentlich übereinstimmen sollten. Verzerrungen, englisch „biases“, sind oft das Ergebnis von eingeübten Gedankengängen, auf die man zurückgreift, wenn man sich schnell entscheiden muss. So wird man beispielsweise auf die Frage, auf welcher Postion ein Läufer in einem Wettlauf rangiert, wenn er den zweiten Läufer überholt hat, fälschlicherweise an die erste Position denken.
Beim gründlicherem Nachdenken realisiert man, dass er in Wirklichkeit Zweiter ist. Kahneman hat diese Form der Unsicherheit beim Urteilen 2011 in seinem Weltbestseller ›Thinking, Fast and Slow‹ – ›Schnelles Denken, langsames Denken‹ ist 2012 bei Siedler erschienen– ausführlich dargestellt.
In seiner jetzt in Verbindung mit Olivier Sibony (vergleiche dazu https://translate.google.de/translate?hl=de&sl=en&u=https://oliviersibony.com/about/&prev=search&pto=aue) und Cass R. Sunstein (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Cass_Sunstein) verfassten Publikation ›Noise‹ erläutert er die andere Form der Unsicherheit. Das englische Wort ›noise‹ kann im Deutschen Lärm, Krach, Geräusch, Getöse, Geschrei, Rauschen, Rollen, Summen, Brummen, Brüllen, Zank, Streit, Aufsehen, Störung, Störgeräusch und Gerücht bedeuten und steht bei Kahneman für die zufällige Streuung und Schwankung bei der Urteilsbildung und Entscheidungsfindung, kurz; für den Faktor Zufall. Kahneman und seine Mitstreiter unterscheiden das Level-Noise, das personenspezifische Rauschen aufgrund individueller Grundeinstellungen, vom Occasion-Noise, dem situativem Rauschen, dem flüchtige äußere Einflüsse wie die Tageszeit, die Temperatur, Stimmungslagen und das Wetter zugrunde liegen. Das Pattern-Noise zeichnet »musterhaft« abweichendes Urteilsverhalten von Richtern im Einzelfall nach, so z. B. dass ein grundlegend strenger Richter bei bestimmten Delikten nachsichtig urteilt. Schließlich beschreibt das System-Noise die unerwünschte Streuung von Urteilen mehrerer Individuen in demselben Fall oder über denselben Sachverhalt.
Gesamtfehler in einem urteilenden System lassen sich nach Kahneman, Sibony und Sunstein analog zu der Formel ›a² + b² = c²‹ durch die Gleichung ›Gesamtfehler (MQF) = Bias² +Noise²‹ abbilden und dadurch auch quantitativ nach den Fehlerquellen unterscheiden. Gruppenentscheidungen leiden darunter, dass sie von den Urteilen einiger weniger Personen abhängen, von denen, die als Erste sprechen oder denen, die den größten Einfluss haben. Bei der Einstellung von Führungskräften in Großunternehmen setzen Personalverantwortliche nach der Durchsicht der Unterlagen, Tests und den Vorstellungsgesprächen in aller Regel auf ihre Erfahrung oder ihre Intuition. Aber die subjektive Einschätzung ihres ›klinischen Urteils‹ ist in aller Regel selbst einfachen Auswertungsmodellen unterlegen: Paul Meehl, Professor für Psychologie an der Universität Minnesota, ist schon 1954 in seiner Studie ›Clinical vs. Statistic Predication: A Theoretical Analysis and a Review of the Evidence‹ zu dem Schluss gekommen, dass bei Prognosen „einfache mechanische Regeln klinischen Urteilen im Allgemeinen überlegen sind. Und er entdeckte, dass Kliniker und andere Fachleute just in dem ausgesprochen schwach sind, was sie für ihre einzigartige Stärke halten: in der Fähigkeit, Informationen zu verknüpfen“ (Daniel Kahneman S. 127). Deshalb plädiert Kahneman bei weit reichenden Entscheidungen für algorithmengestützte noisefreie Regeln und für eine strukturierte Personalauswahl in Unternehmen, Organisationen und Einrichtungen. Natürlich macht auch der Algorithmus Fehler. „Aber wenn urteilende Menschen noch größere Fehler machen, wem sollten wir dann vertrauen?“ (Daniel Kahneman, Olivier Sibony, Cass R. Sunstein S. 151).
„Eine Strategie zur Fehlerverringerung ist Debiasing. Um ihre Urteile von Bias zu bereinigen, wenden Menschen für gewöhnlich eine von zwei Methoden an: Sie korrigieren ihre Urteile nachträglich oder neutralisieren Bias, bevor sie Urteile beeinträchtigen. Wir schlagen eine dritte Option vor, die sich besonders für Entscheidungen eignet, die in Gruppen getroffen werden: Bias in Echtzeit aufspüren, indem man einen Entscheidungsbeobachter ernennt, der versucht, Hinweise auf Bias zu entdecken …
Zur Verringerung von Noise bei der Urteilsbildung empfehlen wir vor allem die Entscheidungshygiene. Wir haben uns für diesen Begriff entschieden, weil Noise-Bekämpfung wie gesundheitliche Hygiene-Prävention gegen einen nicht genau identifizierten Feind ist. Das Händewaschen zum Beispiel verhindert, dass unbekannte Erreger in unseren Körper gelangen. In der gleichen Weise verhindert Entscheidungshygiene Fehler, ohne dass wir wissen, welche Fehler genau vermieden werden … Maßnahmen zur Noise-Bekämpfung in einer Organisation sollten immer mit einem Noise-Audit beginnen … Eine wichtige Funktion des Audits besteht darin, alle Mitarbeiter dazu zu bewegen, Noise ernst zu nehmen. Darüber hinaus erlaubt es, die verschiedenen Typen von Noise zu erfassen und ihre jeweiligen Anteile zu bestimmen“ (Daniel Kahneman, Olivier Sibony, Cass R. Sunstein S. 409). Die Entscheidungshygiene sollte sich an sechs Grundsätzen orientieren:
In ihrem Epilog laden Kahneman und seine Mitstreiter dazu ein, sich eine Welt mit weniger Noise vorzustellen. „Stellen sie sich vor, wie Organisationen aussehen würden, wenn man sie umgestalten würde, um Noise zu reduzieren. Krankenhäuser, Personalauswahlgremien, Konjunkturprognostiker, Behörden, Versicherungsgesellschaften, Gesundheitsämter, Strafrechtssysteme, Anwaltssozietäten und Universitäten wären in höchstem Maße sensibilisiert für das Problem des Rauschens und täten ihr Möglichstes, um dieses zu verringern. Noise-Audits wären Routine; vielleicht würden sie jedes Jahr durchgeführt.
Führungsgremien von Organisationen würden Algorithmen einsetzen, um auf viel mehr Feldern als heute menschliche Urteilskraft zu ersetzen oder zu ergänzen. Mitarbeiter würden komplexe Urteile in einfachere Entscheidungsbausteine zerlegen. Sie würden sich in Entscheidungshygiene auskennen und diese Empfehlungen befolgen. Unabhängige Urteile würden eingeholt und zusammengeführt. Sitzungen würden ganz anders ablaufen; Diskussionen wären viel strukturierter. Die Außenperspektive wäre systematisch in Entscheidungsprozesse integriert. Offene Differenzen wären häufiger und würden auf konstruktive Weise beigelegt.
So würde Noise auf breiter Front zurückgedrängt, mit weitreichenden positiven Folgen: Riesige Summen würden eingespart, die öffentliche Sicherheit würde sich verbessern, das Gesundheitssystem wäre effizienter, es gäbe weniger Ungerechtigkeiten und viele vermeidbare Fehler würden verhindert. Wir haben dieses Buch in der Absicht geschrieben, auf diese große Chance aufmerksam zu machen. Wir hoffen, dass Sie zu denjenigen gehören werden, die sie ergreifen“ (Daniel Kahneman, Olivier Sibony, Cass R. Sunstein S. 416).
ham, 23. August 2021