Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 2012, UTB-Band-Nr. 3739, ISBN 978-3-8252-3739-4,
176 S., 13 s/w-Abbildungen und 5 Tabellen, Broschur, Format 18,4 x 11,9 cm, € 12,99
Für die weltweit agierenden christlichen Kirchen waren Fragen des Verstehens fremder
Kulturen und des Verständlichmachens ihrer eigenen Botschaft schon immer zentral. Unter
anderem deshalb hat die Anfang der 1970er-Jahre in Württemberg gegründete ökumenische
Vereinigung ‚Pro Ökumene‘ einen Arbeitskreis gegründet, der sich mit Fragen der
ökumenischen Didaktik auseinandergesetzt und unter anderem diskutiert hat, wie man lernen
kann, in den Kategorien anderer zu denken. 40 Jahre später und nach der Globalisierung der
Finanzmärkte und von Teilen der Wirtschaft stehen gewinnorientierte Unternehmen, aber
auch soziale Systeme wie Schulen und Hochschulen, Krankenhäuser, Behörden und
Verwaltungen und internationale Organisationen vor vergleichbaren Fragestellungen. Das von
Christoph Barmeyer in Verbindung mit Barbara Agha-Alikhani, Anna-Victoria Benedikt,
Susanna Gather, Katharina Jochem und Sebastian Öttl erarbeitete ‚Taschenlexikon
Interkulturalität‘ erläutert die wichtigsten Grundbegriffe, Konzepte und Modelle der
interkulturellen Kommunikation und hilft Ineressierten, sich in den komplexen
interkulturellen Welten zurechtzufinden. Es geht von der von Hans Georg Gadamer 1972 in
seinem Grundlagenwerk „Wahrheit und Methode“ formulierten Einsicht aus, dass der Raum,
in dem die Interkultur gebildet wird, der „wahre Ort der Hermeneutik“ (Hans Georg
Gadamer) ist. In dem Lexikon erscheint dieser Ort als durch „Dynamik geprägter temporärer
und hybrider Ort, in dem sich Angehörige unterschiedlicher Kulturen begegnen und durch
Kommunikation eine Interkultur etablieren. Diese third spaces … dienen … als Kontaktzonen
unterschiedlicher Kulturen, in denen verschiedene Sozialisationssysteme aufeinandertreffen,
sich Tradierungen vermischen und das dynamische Ergebnis der Interaktionssituation …
eventuell zu neuen Kommunikationsformen und Verhaltensweisen führt. Die … Prägung
durch Dynamik sowie Flüchtigkeit und Offenheit ermöglicht im Positiven eine große
Flexibilität, kann sich andererseits jedoch auch als Unsicherheit auf die Agierenden im dritten
Raum auswirken… Dritte Räume können zum Beispiel Flughäfen, Hotels oder
Botschaftsgebäude sein… Auch Länder wie die Schweiz oder Kanada stellen dritte Räume
dar… Klassische Berufe des dritten Raums üben etwa Übersetzer aus“ (Barbara Agha-
Alikhani). Aus den Fragen der ökumenischen Didaktik sind die Aufgaben der interkulturellen
Pädagogik geworden. „Aufgabe interkultureller Pädagogik ist, in Theorie und Praxis
differenziert auf verschiedene kulturelle Orientierungssysteme der Lernenden einzugehen und
dazu beizutragen, dass Interkulturalität nicht nur problematisiert, sondern als kreative,
konstruktive und motivierende Ressource im Unterricht verstanden wird… Interkulturelle
Pädagogik kann zu Toleranz und Verständnis gegenüber kultureller Andersartigkeit und zu
einer friedvollen Interkultur beitragen und übernimmt somit die gesellschaftliche Aufgabe, die
Integration von Menschen mit Migrationshintergrund zu fördern…“ (Christoph Barmeyer).
Interkultur erscheint als dynamische „dritte Kultur, die aus Kulturkontakt und
kommunikativen Handlungen verschiedenkultureller Interaktionspartner entsteht. Die
Interaktionspartner konstituieren innerhalb eines kooperativen Beziehungsfelds neue
Bedeutungen, Regeln und Verhaltensweisen, die von den Beteiligten akzeptiert, verstanden
und gelebt werden… Die Interaktionspartner gestalten aus der Kombination und Dynamik
verschiedenkultureller Elemente einen neuen gemeinsamen Kommunikations- und
Kooperationsraum… Insofern ist das Verhalten von Personen in interkulturellen Situationen
Ergebnis eines wechselseitigen Interpretations- und Anpassungsprozesses mit abweichenden
eigenkulturellen Verhaltensnormen und kann nicht nur aufgrund ihrer eigenkulturellen
Sozialisation erklärt werden… Die Entstehung einer Interkultur oder der >>dritten Kultur<<
ist im Rahmen von Multikulturalität (z.B. spanische, italienische, englische und deutsche
Personen) eher möglich als bei Bikulturalität (z.B. englische und deutsche Personen), da in
bikulturellen Konstellationen, in der jede Kultur die Führerschaft übernehmen will,
konkurrierende Ziel-, Macht- und Interessenvorstellungen häufig zu Schwierigkeiten führen“
(Christoph Barmeyer).
Unter den im Taschenlexikon verhandelten Stichworten taucht auch das 2002 bei der
Documenta 11 von Okwui Enwezor in den weltweiten Kunstkontext eingeführte Stichwort
Kreolisierung auf, allerdings nur im Kontext des Stichworts Hybridität und nur sehr knapp.
Zu ‚Hybridität‘ kann man unter anderem folgendes lesen: „Aus der Biologie stammendes,
aber für die postkolonialistische Kulturtheorie umfunktioniertes Konzept, das sich mit der
bewussten oder unbewussten Mischung kultureller Kontexte, Inhalte und Identitäten … im
Rahmen von interkulturellen Austauschprozessen … befasst. Hybridität fokussiert dabei
weniger den Kulturkontakt selbst, als vielmehr dessen Ergebnis und Konsequenz für Selbstund
Fremddefinition vor allem auf Mikro- und Makro-Ebene … und betont dabei die
vielschichtige Konstruiertheit kultureller Repräsentation und kultureller Identität… Begriffe
wie Kreolisierung, Métissage und Synkretismus beschreiben zwar schwerpunktmäßig
verschiedene Phänomene, werden aber häufig synonym gebraucht für Prozesse der
Hybridisierung bzw. deren Ergebnis, Hybridität“ (Sebastian Öttl). Wer genaueres und mehr
zum Stichwort „Kreolisierung“ wissen will, muss auf Okwui Enwezors Publikation ‚Créolité
und creolization‘ von 2003 oder auf die Grundlagentexte seines Gewährsmanns Édouard
Glissant zurückgreifen.
ham, 03.12.2013
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