Westend Verlag. Frankfurt a. M., 2021, ISBN 978-3-86489-113-7, 176 Seiten, Klappenbroschur, € 18,00
Der Überlieferung nach soll in früheren Jahrhunderten ein Teil der Pilger bei der Echternacher Springprozession zwei Schritte vor und einen zurückgesprungen sein, ein anderer Teil drei Schritte vor und zwei zurück und wieder andere nur nach vorne. Heute „springt man nur noch mit seitlichen Schritten vorwärts, abwechselnd nach links und nach rechts. Das Ganze, indem man bei jedem Schritt kurz auf dem jeweiligen Fuß verweilt und dann mit dem anderen Fuß zum nächsten Schritt ansetzt, immer im Takt des Prozessionsmarschs“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Echternacher_Springprozession).
Wenn die Schweizer Juristin Carla Del Ponte (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Carla_Del_Ponte) als Mitglied der UNO-Kommission zur Untersuchung der Kriegsverbrechen in Syrien zwischen 2012 und 2017 ähnliche Erfolge wie bei ihrer Tätigkeit als Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für die schweren Verbrechen während der Jugoslawienkriege und die Strafverfolgung der Täter des Völkermords in Ruanda erreicht hätte, hätte sie ihr Engagement in Syrien nicht als Kampf gegen Windmühlen und als Rückschritt erlebt: ein Schritt vorwärts und zwei zurück. In dem am 25. Mai 1993 gegründeten ›International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY)‹ wurden erstmals hochrangige Politiker wie der Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien Slobodan Milošević, hochrangige Militärs wie der bosnisch-serbische General Ratko Mladić und weitere 159 Personen angeklagt und 84 von ihnen schuldig gesprochen und verurteilt. Milošević ist 2006 vor dem Abschluss des Verfahrens verstorben und konnte deshalb nicht mehr verurteilt werden (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Strafgerichtshof_für_das_ehemalige_Jugoslawien). Bei der Aufarbeitung der Verbrechen in Syrien hat man zwar Kommissionen eingesetzt und humanitäre Hilfe gewährt, aber es fehlte am politischen Willen, ein Tribunal einzurichten (vergleiche dazu etwa https://www.tagesspiegel.de/politik/vereinte-nationen-un-team-soll-beweise-fuer-kriegsverbrechen-in-syrien-sammeln/19166612.html, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-07/vereinte-nationen-syrien-humanitaere-hilfe-kompromiss-einigung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de und https://www.deutschlandfunkkultur.de/ehemalige-uno-chefanklaegerin-carla-del-ponte-warum-kein.1008.de.html?dram:article_id=420086).
„Das ist das übliche Vorgehen der UNO in Konfliktfällen: Sie schafft bei Konflikten oder Kriegen in einem Land eine Kommission, die dann untersucht, ob es dort Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverstöße gibt, und einen Bericht schreibt. Der wird üblicherweise dem UN-Sicherheitsrat vorgelegt, der daraufhin entscheidet, was zu tun ist. Und bisher hatte der Sicherheitsrat auch immer etwas in die Wege geleitet … In Syrien ist die Situation … eine andere: Denn es kam zu einer Alibi-Übung dieser Kommission, die inzwischen seit zehn Jahren mehr oder weniger untersucht und untersucht, ohne dass etwas dabei herauskommt und ohne dass Konsequenzen durch den Sicherheitsrat folgen … Die Kommission legte die Resultate ihrer Arbeit vor – darin enthalten Belege für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das ganze Arsenal an Scheußlichkeiten – und nichts geschah, außer, dass die UNO die Arbeit um weitere sechs Monate verlängerte. In dieser zweiten Periode bin ich dazugestoßen“ (Carla Del Ponte S. 105 f.).
Im vierten Bericht der Kommission vom Februar 2013, dem ersten, an dem Del Ponte mitgearbeitet hatte, wurden auf mehr als zehn Seiten Kriegsverbrechen wie die gegen fünf Alawiten dokumentiert, die im späten Juli 2012 auf einer Straße nach Haffa in Latakia gefangenen genommen, befragt und kurz darauf hingerichtet worden waren: Ein Kämpfer der Freien Syrischen Armee hat bestätigt, dass sunnitische Gefangene behalten und Alawiten hingerichtet wurden (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Syrische_Armee). In diesem Fall beging die FSA das Kriegsverbrechen der Hinrichtung ohne Prozess (vergleiche dazu und zum folgenden Carla Del Ponte S. 108 ff.). Zwischen 19. März 2013 und 18. November 2017 wurden 29 Giftgasangriffe durch unbekannte Angreifer und die Regierung in Syrien erfasst. Der Empfehlung der Kommission, die von den Regierungsstreitkräften und Anti-Regierungstruppen begangenen Verbrechen vor den Internationalen Strafgerichtshof in den Haag zu bringen, wurde nicht entsprochen. Im Fall Syrien legten China und Russland ihr Veto ein. In Fällen wie in Afghanistan, in denen Soldaten der USA in Kriegsverbrechen verwickelt waren, blockierte die USA das Verfahren (vergleiche dazu etwa https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/afghanistan-aufklaerung-von-kriegsverbrechen-afghanistan-viele-beweise). 2017 trat Del Ponto wieder aus der Kommission aus.
„Mein Rücktritt aus der Kommission hatte nichts mit Resignation zu tun. Mein ganzes Leben lang tat ich alles in meiner Macht Stehende, um den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen. Jetzt will ich nicht mehr. Was haben wir erreicht? Die Tribunale in Jugoslawien und Ruanda waren Erfolge, blieben aber letztlich weit hinter dem zurück, was möglich gewesen wäre. Insgesamt kamen wir in der Erreichung unseres Ziels, die Welt zu einem gerechteren Ort zu machen, nur einen kleinen Schritt vorwärts. Und die Situation ist zurzeit sehr, sehr schlecht. Darum sage ich, dass ich gegeben habe, was ich geben konnte. Ich bin keine Heldin. Ich bin ein Mensch“ (Carla Del Ponte S. 132).
Das internationale Recht wird nach dem Urteil von Del Ponte nur dann aus der Grauzone zwischen Recht und Politik heraus- und wie die Echternacher Springprozession, in kleinen, aber letztlich dann doch weiterführenden Schritten vorankommen, wenn das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats fallen, ihr Mitgliederkreis erweitert, der Generalsekretär mehr Kompetenzen erhalten, ein UN-Menschenrechtsrat eingerichtet und sich die USA wieder stärker in der UNO engagieren wird. „Es führt offenkundig kein Weg an einer Reorganisation des UN-Sicherheitsrats vorbei … Die UNO könnte man reformieren – wenn die USA das Projekt vorantreiben. Als stärkstes Mitglied, das den größten Teil der Finanzierung einbringt, könnten sie tatsächlich etwas durchsetzen. Aber auch die USA bestehen im Sicherheitsrat auf ihrem Vetorecht, ebenso wie Russland und die anderen permanenten Mitglieder – eine Katze, die sich in den Schwanz beißt“ (Carla Del Ponte S. 163).
ham, 7. August 2021