Verlag C.H.Beck, München 2021, ISBN 978-3-406-774539, 384 Seiten, Hardcover gebunden, mit Lesebändchen und Schutzumschlag, Format 22 x 14,5 cm, € 26,00

Nach dem Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP will die neue Regierung in Deutschland mehr Fortschritt wagen, den digitalen Aufbruch, den Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft, die soziale Sicherheit in der Arbeitswelt, die lebenslange Bildung, die Lebensverhältnisse in Stadt und Land und anderes mehr voranbringen (vergleiche dazu https://www.tagesspiegel.de/downloads/27829944/1/koalitionsvertrag-ampel-2021-2025.pdf). Dem kann man zustimmen oder auch nicht und man wird sehen, was in drei, vier Jahren umgesetzt sein wird. Aber es macht stutzig, dass Studenten der Sozialwissenschaften in den Vorlesungen, Seminaren und Kolloquien des in München lehrenden deutschen Soziologen Armin Nassehi seit dreieinhalb Jahrzehnten immer wieder nachgerade verstört fragen, warum sich die großen Probleme der Welt nicht dauerhaft lösen lassen, obwohl in der Gesellschaft fast alles Wissen, fast alle Ressourcen und die meisten Mittel vorhanden sind. Offenkundig sind Ankündigungen von politischen Vorhaben eines und deren Umsetzung ein anderes. „Warum streben die Handelnden, obwohl sie doch die Mittel dazu hätten, nicht nach dem summum bonum, das alle besserstellen und Lösungen wahrscheinlicher machen würde? Um diese Art von Unbehagen geht es …, um die Frage, wie sich die moderne Gesellschaft auf selbsterzeugte Probleme einstellen kann“ (Armin Nassehi S. 19).

Nassehi deutet die von ihm präferierte Antwort in seiner Einleitung an: Weil die sich radikal immanent verstehende überforderte Gesellschaft nur selbsterzeugte Lösungen für selbsterzeugte Probleme kennt, aber nicht mehr das Ganze. Anders gesagt: Sie kann den Himmel nicht mehr auf die Erde zurückholen (vergleiche dazu Armin Nassehi S. 289). Funktional ausdifferenzierte Gesellschaften stehen vor dem Problem, sich der Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem zu stellen und doch nur das bewältigen zu können, was die den Funktionssystemen zugeordneten Organisationen als problematisch erkennen und damit angehen können. „Die Funktionssysteme der Gesellschaft gehen nicht in Organisationen auf – aber Politik wäre ohne Staatsorganisationen nicht denkbar, ein modernes Wirtschaftssystem nicht ohne Unternehmen, Banken und Börsen, eine moderne Wissenschaft nicht ohne Universitäten und Forschungsinstitute, ein Erziehungssystem nicht ohne Schulen, ein Rechtssystem nicht ohne Gerichte und Kanzleien, der Eigensinn der Kunst wäre ohne Galerien und Museen kaum denkbar, und welche formierende Bedeutung Kirchen für die Modernität von Religion haben kann, erschließt sich im Vergleich zu anderen Weltreligionen. Die Funktion von Organisationen für die Gesellschaft besteht darin, Inseln dichter Kommunikation bereitzustellen, Entscheidungen miteinander zu verknüpfen und nicht zuletzt Personen zu binden“ (Armin Nassehi S. 222). 

Organisationen können vor allem auf die Organisation selbst zugreifen (vergleiche dazu und zum folgenden Armin Nassehi S. 224 f.). Welche Entscheidungen gefällt werden, ist offen, aber wie sie gefällt werden, von wem und nach welchen Verfahren und Kriterien, ist selbst das Ergebnis organisationeller Entscheidungen. Organisationsentscheidungen ruhen auf früheren Entscheidungen auf und liegen zumeist als Alternativen vor.  Aber die „Sache selbst – also der Glaube in der Kirche, die wissenschaftliche Erkenntnis in einer Universität, die Produktidee in einem Unternehmen, die Wählbarkeit einer Partei oder das Urteil eines Gerichts – ist nur indirekt organisierbar. Aber die Organisation gibt sich selbst die Möglichkeit des Zugriffs auf ihren Gegenstand“ (Armin Nassehi S. 224). Unter anderem am „Problem des Klimawandels … lässt sich lernen, wie sehr die Funktionssysteme ihre Optionen steigern, kaum zu bändigen sind und genau das tun, wozu sie sich ausdifferenziert haben: sich selbstreferentiell auf ihre sehr allgemeine Limitierung zu beziehen. Deshalb kann Herrschaft ebenso grenzenlos werden, wie auch mit buchstäblich allem Geschäfte möglich sind – und wie Wissenschaft und Technik grenzenlos werden … Das Unbehagen an der Moderne ist das Unbehagen, dass diese Funktionssysteme nicht eingehegt werden können, sondern … grenzenlos werden“ (Armin Nassehi S. 226). Organisationen arbeiten dem entgegen, bündeln Operationen unterschiedlicher Funktionssysteme und verknüpfen sie durch Entscheidungspakte miteinander. Und wenn wir Gesellschaften ändern wollen, müssen wir die Routinen der Organisationen ändern. Aber organisieren lässt sich nur das, was sich organisieren lässt und nicht der große Rest. Eine funktional differenzierte Gesellschaft bleibt in ihrer prozesshaften Ordnungsbildung offen. Eine „offene, letztlich nicht organisierbare Form des Gesellschaftlichen“ entspricht „eher der Struktur einer funktional differenzierten Gesellschaft“ (Armin Nassehi S. 238).

In traditionalen sozialen Strukturen war der Funktionssinn vor allem daran ausgerichtet, „möglichst nicht ergebnisoffen zu sein und bestehende Strukturen zu bewahren und aufrecht halten“ (Armin Nassei S. 240).

Im beginnenden Kapitalismus müssen sich Prozesse und Ideen in der Zeit und vor dem Gerichtshof des Marktes praktisch bewähren. Trade-tested Lösungen sind in der Lage, sich am Markt durchzusetzen. Die Schumpeter’sche Formel der schöpferischen Zerstörung beschreibt einen Prozess, „›der unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Prozess der ›schöpferischen Zerstörung‹ ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum. Darin besteht der Kapitalismus und darin muß auch jedes kapitalistische Gebilde leben‹. Die schöpferische Zerstörung ist einerseits ein Wertgenerator, Ausdruck jener ideengesteuerten Form der Ordnungsbildung, andererseits aber eben auch Quelle eines Unbehagens, dass man sich im Kapitalismus auf nichts mehr verlassen kann … Kapitalismus steht als Chiffre für die Struktur einer modernen Gesellschaft, die sich nur deshalb gegen sich selbst kehren kann, weil sich darin eine eigensinnige Dynamik zeigt, die sich weder von innen noch von außen schlicht instrumentell verändern lässt. Kapitalismus ist ein Platzhalter für das Unbehagen an der Unübersichtlichkeit der Moderne – und Kapitalismuskritik ist deshalb die Mutter aller Kritik und die Mutter aller Protestformen“ (Josef Schumpeter / Armin Nassehi S. 242 ff.).

Nassehis Argumentation steuert darauf zu, dass sich eine strukturelle Präferenz für Ergebnisoffenheit, für Unabgeschlossenheit, für ein liberalesOrdnungsmodell ableiten lässt, wenn Politik von zentralistischer Autokratie auf die Offenheit der Demokratie zielt, Ökonomie in die kapitalistische schöpferische Zerstörung mündet, wissenschaftliche Wahrheit sich im Lichte anderer Vorschläge bewähren muss und Kunst geradezu zum Sinnbild für gepflegte Abweichung wird (vergleich dazu Armin Nassehi S. 246). „Das soll nicht politisch verstanden werden, sondern eher operativ. Die Logik der funktionalen Differenzierung strebt zu einer Form der Ergebnisoffenheit – und deshalb sind solche Programme wahrscheinlicher, die diese Offenheit gewissermaßen kultivieren: der Kapitalismus, die Demokratie, der wissenschaftliche Fortschritt, die Offenheit der Kunst etc. Es sind all die Programmierungen für Funktionssysteme, die letztlich zu jenem eher liberalen Institutionenenarrangement gehören, das hier explizit nicht normativ begründet, sondern empirisch abgeleitet wird. Die Wahrscheinlichkeit solcher Programme ist gewissermaßen das Korrelat zur Offenheit einer Gesellschaftsstruktur, die alle Elemente einer eindeutigen Oben-Unten-Strukturierung gesellschaftsstruktureller Ordnung verloren hat“ (Armin Nassehi S. 246). 

Die hier entwickelte Offenheit korrespondiert mit fehlenden Stoppregeln in den Teilsystemen der Gesellschaft. Günther Teubner konnte jüngst Nassehis Erklärung der Optionssteigerungen vor allem aus dem Fehlen von Stoppregeln erweitern. Er hat gezeigt, dass „die Differenzierung von Funktionen auch zur Folge hat, dass sich Zwänge zur Steigerung von Mehrwert (nicht nur im ökonomischen Sinne) etablieren, um die Annahmemotivation der unterschiedlichen Kommunikationsmedien stets neu erhöhen zu können. Diese Erweiterung des Arguments trifft einen wichtigen Punkt, weil er in den Kommunikationsmedien der Funktionssysteme selbst (Geld, Macht, Wahrheit usw.) eine Tendenz zur Steigerung wahrnimmt, die etwas mit der Annahmewahrscheinlichkeit von Kommunikation zu tun hat: Produkte auf Märkten müssen sich verbessern (oder wenigstens den Anschein erwecken), politische Macht muss sich immer wieder neu durchsetzen, wissenschaftliche Ergebnisse müssen sich als Fortschritt darstellen, mediale Informationen die von gestern übertreffen. Am Ende basiert dies doch darauf, dass den Funktionssystemen die Funktionsstelle der Selbstbegrenzung und damit eine Stoppregel fehlt … Nur zur Vorsicht: Bei dieser Steigerungslogik geht es um eine sinnenhafte Steigerung, damit ist nicht unbedingt an CO₂-Ausstoß gekoppeltes materielles Wachstum gemeint … Wahrscheinlich wird sich das ökologische Problem nur mit Hilfe einer radikalen Steigerung von Ideen lösen – was freilich riskant ist, denn welcher Art Steigerung die Moderne hervorbringt, ist damit nicht vordefiniert“ (Armin Nassehi S. 247).

Während in der Vormoderne Gott und das Wesentliche unsichtbar geblieben sind und man in der Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leidens zugleich auch eine mögliche Lösung formuliert hat, machen digitale Selbstbeobachtungen der Gesellschaft und aufklärerische Sozialforschung auf latent nicht sichtbare Zusammenhänge und Muster aufmerksam, die sich dem ersten Blick entziehen. Damit werden die Voraussetzungen für die gesellschaftliche Ordnung selbst sichtbar, kritisierbar und strittig. Am Ende ist der Latenzschutz das Fragilste an der Moderne. „Eine durchschaubare Welt ist eine unsichere Welt. Das hört sich widersinnig an, stimmt aber. Die sprichwörtliche ›Entzauberung der Welt‹ (Max Weber) führt keineswegs in Sicherheit und Eindeutigkeit. Die Entzauberung der Welt macht die brüchigen Bedingungen aller Möglichkeiten sichtbar …

[Aber soziale] Kommunikation ist nur möglich, wenn sie schlicht kontinuiert und nicht alle ihre Bedingungen zugleich sichtbar machen muss … Bedeutungen werden durch ihren Gebrauch stabilisiert, Konsens kann nicht geprüft, sondern nur unterstellt werden und die Plausibilität erschließt sich praktisch, nicht systematisierend und taxonomisch. Schon das Sprechen gelingt am besten, wenn es sich seinen Weg selbst bahnt, nicht wenn es gleichzeitig auf seine Regeln hin überprüft werden muss … Nimmt man dies wirklich ernst, ist es ein frontaler Angriff auf das aufklärerische, akademisch-professionelle Selbstmissverständnis derer, die meinen, man müsse den Menschen nur angemessen erklären, wie sie sich zu verhalten haben, dann werde die Notwendigkeit sie schon einsichtig machen“ (Armin Nassehi S. 328).

„Ein schönes Beispiel ist der 2020 erschienene Bestseller ›Unsere Welt neu denken‹ von Maja Göpel, der auf 200 Seiten Ziele zusammenträgt und das tut, was auf dem Buchdeckel steht: die Welt neu denken – und …es werden exakt die Dinge zusammengetragen, um die es geht“ (Armin Nassehi S. 328 f.). Und es wird um Zustimmung geworben und zum Handeln aufgefordert. Aber das Problem ist schlicht, dass das neue Denken unserer Welt noch keine neue Welt schafft. Was nicht zur Tat wird, verändert nichts. Damit steht Nassehi am Ende seiner Überlegungen wieder exakt bei der Frage seiner „Studentinnen und Studenten, warum es denn nicht gelingt, das Problem zu lösen, da doch das Wissen für die Ziele und zum Teil auch für die nötigen Prozesse und über die notwendige Beteiligung unterschiedlicher Akteure unter Berücksichtigung unterschiedlicher Funktionslogiken vorhanden ist. Solche Texte tun exakt das, was politische Rede kann: Ziele an Kollektive zu adressieren und für entsprechende Entscheidungen zu sorgen – und sie verlangen von ihren Adressaten ohne Zweifel Verhaltensänderungen, Änderungen der Bedingungen ihres Energieverbrauchs, ihrer Mobilität, ihrer Freizeitgestaltung, ihrer Ernährungsgewohnheiten usw. Und es wäre völlig falsch, zu behaupten, dass all diese Dinge verpuffen würden – sie wirken im Kleinen, nicht als große Transformation, sondern als evolutionäre  Veränderung, als langsame Gewöhnung an neue Formen … Letztlich muss man an der Soziodizee der Gewohnheit ansetzen, die zugleich die Bremse für die gewünschten disruptiven Veränderungen ist, aber auch der Punkt, an dem man womöglich ansetzen kann“ (Armin Nassehi S. 329 f.).

Man kann gespannt sein, ob die neue Regierung diesen Punkt sieht und nutzt.

ham, 7. Dezember 2021

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