Verlag C.H.Beck, München, 2019, ISBN 978-3-406-74024-4, 352 Seiten, Hardcover gebunden mit Lesebändchen und Schutzumschlag, € 26,00 (D) / € 26,80 (A) 

Gesellschaftstheorien hatten in den 1970er und 1980er Jahren Hochkonjunktur, Soziologie galt als die Schlüsselwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Nach Joachim Matthes war sie das „Erkenntnismittel des Lebenssinns schlechthin“ (Joachim Matthes in seiner Eröffnungsrede zum 20. Soziologentag im Jahr 1980; vergleiche dazu https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/16614#). Labels wie ›Die postindustrielle Gesellschaft‹ (Alain Touraine; Daniel Bell), ›Die Informationsgesellschaft‹ (Helmut Spinner), ›Die Weltgesellschaft‹ (Anthony Giddens; Niklas Luhmann), ›Die Postmoderne‹ (Zygmund Baumann; Wolfgang Welsch), ›Die individualisierte Gesellschaft‹ (Uwe Schimank), ›Die Risikogesellschaft‹ (Ulrich Beck), ›Die Erlebnisgesellschaft‹ (Gerhard Schulze) und ›Die Multioptionsgesellschaft‹ (Peter Gross) sollten die sozialen Phänomene der Gesellschaft auf den Punkt bringen, sie als Ganze charakterisieren und mögliche Weiterentwicklungen anzeigen. Aber schon in den frühen 1980er Jahren kamen neben der Konjunktur auch die Krise des Fachs und die selbstkritische Frage „Wozu noch Soziologie?“ in den Blick (vergleiche dazu Bernhard Giesen, Krise der Krisenwissenschaft? Oder: Wozu noch Soziologie? In: Soziale Welt 40. Jahrgang, Heft 172, 1989, S. 111 – 123). Neuerdings flammt die Krisendiskussion wieder auf (vergleiche dazu etwa Birgit Blättel-Mink, Krisenwissenschaft Soziologie – Wissenschaft in der Krise. In Soziologie, 48. Jahrgang, Heft 1, 2019, S. 37 – 51: http://www.fb03.uni-frankfurt.de/76720992/BlaettelMink_Soziologie_2019.pdf). Deshalb kann Armin Nassehis unter dem Stichwort „Muster“ vorgelegte Theorie der digitalen Gesellschaft auch als Versuch verstanden werden, an die Hochzeit der Soziologie zu erinnern und ihr Ansehen in der Community der Wissenschaften aufzupolieren.

Für den 1960 in Tübingen geborenen und an der Ludwig-Maximilians-Universität München Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie lehrenden Nassehi war die gesellschaftliche Moderne in ihrer Grundstruktur schon vor der Einführung der Digitaltechnik digital. Seit dem 19. Jahrhundert hat die Übersetzung der Welt in Daten und das Auffinden von Mustern vor allem dazu gedient, „Unsichtbares sichtbar zu machen. Die Komplexität der Gesellschaft, die Multiplikationen von Wirkkräften, die voraussetzungsreichen Formen von Steuerung, die Professionalisierung von wirtschaftlichem, politisch-administrativem, wissenschaftlichem und nicht zuletzt militärischem Handeln erforderte die Entbergung latenter Strukturen, für die die Einführung statistischer Modelle die Grundbedingung darstellt. Und die Bedingung der Möglichkeit statistischer Darstellung ist die Abbildung der Welt in Form von zählbaren Einheiten und die Codierung von analogen Sachverhalten durch diskrete Formen“ (Armin Nassehi S. 108). Digitalisierung ist für Nassehi also kein der Gesellschaft von außen übergestülpter Fremdkörper und schon gar keine Katastrophe, sondern die logische Konsequenz ihrer Grundstruktur.          

Die Gewinnung von aus Datensätzen erhobenen Strukturen und Mustern und die szientoide Codierung von Sachverhalten in Datenform weisen freilich über ihre Basis und Genese hinaus. Sie verselbständigen sich und werden über Rückkopplungsprozesse zu Instrumenten einer neuen Art von Weltaneignung. Weltbezüge werden in ihrer Selbstbezüglichkeit beschreibbar. Damit verändert sich die Wahrnehmung von Welt. Die Kybernetik tritt an die Stelle der Philosophie. Für den Tübinger Philosoph Walter Schulz zeigt sich in ihr ein neuer Wissenschaftsbegriff. „›Wissen ist Reflexion auf mögliches Wissen, das heißt: das Wissen soll sich im Sinn technologischer Steigerung ständig überholen‹. Er sieht in Kant jenen Umschlagspunkt, mit dem gewissermaßen das Primat zwischen Innen und Außen auf Ersteres übergeht. Seither könnte man letztlich nicht mehr hinter die Grunderfahrung jenes Prozesses zurück, die Schulz eine Bewegungsrichtung zur ›Verinnerlichung‹ nennt, philosophiegeschichtlich als Philosophie der Subjektivität und Existenzphilosophie, wissenschaftsgeschichtlich als Vorrang der Methode vor dem Gegenstandsbezug“ (Walter Schulz nach Armin Nassehi S. 89).

Die Daten entfalten ein Eigenleben, verdoppeln die Welt und erzeugen „Möglichkeiten, auf dem Boden eines geradezu simplen medialen Substrats (Bits und Bytes) eine reichhaltige Kombinatorik von Elementen zu entwickeln, mit denen die Routinen der Gesellschaft in Anspruch genommen werden können – und darauf reagiert die Gesellschaft dann ihrerseits wieder mit den ihr eigenen Strukturen“. Die „Digitalisierung entbirgt jene Muster, die mit bloßem Auge nicht sichtbar sind, die gleichursprünglich mit ihrer digitalen Vermessung ›entstehen‹ und in der Struktur der Gesellschaft gründen, deren Ordnung kaum übersichtlich scheint – und doch von einer erheblichen Ordnungsleistung geprägt ist, die erst ihre Vielfältigkeit und ihren Kombinationsreichtum ermöglicht“ (Armin Nassehi S. 150). Die Ordnungsleistung der modernen Gesellschaft ist deshalb „am besten mit Hilfe digitalkompatibler Begriffe zu erklären“ (Armin Nassehi S. 151).

Damit wird Nassehis Antwort auf seine an Niklas Luhmann anschließende Grundfrage verständlich. Seine Grundfrage: Welche Funktion hat die Digitalisierung in der Gesellschaft und für welches Problem ist sie eine Lösung? Seine Antwort: „Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Komplexität und vor allem die Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst. Das Argument lautet, dass die moderne Gesellschaft vor allem mit ihrer digitalen Form der Selbstbeobachtung auf jene Regelmäßigkeit erst stößt, auf jenem Eigensinn und jene Widerständigkeit, die gesellschaftliche Verhältnisse ausmachen. Gesellschaft ist zwar ein fluide, ein operativer, ein echtzeitlicher, ein auf Ereignissen basierender, ein schneller, ein beschleunigter Gegenstand, und doch enorm stabil, regelmäßig, in vielerlei Hinsicht auch berechenbar. Dieser Gegenstand enthält Muster, die man auf den ersten Blick nicht erkennt. Der zweite Blick, dem sie freilich ansichtig werden, ist zunehmend ein digitaler Blick […]. Digitalität ist einer der entscheidenden Selbstbezüge der Gesellschaft“ (Armin Nassehi S. 28 f.). Das Rohmaterial des Digitalen sind Listen von codierten Zahlenwerten, die Lösung sind Informationen über alles Mögliche wie die intelligente Steuerung von Maschinen, die Erwartbarkeit von Kaufentscheidungen, die Wettervorhersagen, die intelligente Verkehrssteuerung, die Objekterkennung als Element selbstfahrender Fahrzeuge, die Beeinflussung von Wahlentscheidungen und die Abschätzung von Passungen von Paaren aufgrund ihrer Persönlichkeitsprofile. „Die Lösung des Digitalen […] ist die Visibilisierung von auf den ersten Blick unsichtbaren Strukturen in Datensätzen – und das ist auch die Lösung, die soziologische Praktiken anbieten. Der besondere Überraschungswert der Soziologie liegt darin, dem Offensichtlichen Überraschungen abzutrotzen und Kontraintuitives anzubieten“ (Armin Nassehi S. 67 f.).

ham, 21. September 2019

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