Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Siedler Verlag, München, 3. Auflage 2021, ISBN 978-3-8275-0143-1, 208 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 22 x 14, 3 cm, € 22,00 (D) / € 22,70 (A) / CHF 30,90
Eine einfache Antwort auf die Frage, warum antiautoritäre Herrschaft so populär geworden ist, hat auch die unter anderem mit dem Duff-Cooper- und dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete US-amerikanische Journalistin, Professorin „of Practice“ an der London School of Economics und Kolumnistin für »The Atlantic« Anne Applebaum nicht. Sie wurde 1964 in Washington, D.C. geboren, wuchs in einer reformierten jüdischen Familie auf, hat als Korrespondentin des Economist in Warschau, als Fellow an der American Akademie in Berlin gelebt und unter anderem in Yale, Harvard, Columbia, Oxford, Cambridge, London, Heidelberg, Berlin, Maastricht und Zürich gelehrt. Heute wohnt sie mit ihrem Mann, dem Ex-Außenminister Radek Sikorski, in Polen.
Ihre Studie setzt mit einer Silvesterparty am 31. Dezember 1999 in einem kleinen Landgut in Chobielin im Nordwesten Polens ein, das ihr Mann und seine Eltern ein Jahrzehnt zuvor erworben hatten. Ihre Gäste waren bunt durcheinander gewürfelt. Sie kamen aus London, Moskau, Warschau und der Gegend. „Die Mehrheit von uns hätte man wohl zu dem gezählt, was man in Polen seinerzeit ›die Rechte‹ nannte – Konservative und Antikommunisten. Aber genauso gut hätte man die meisten von uns auch als Liberale bezeichnen können: Wirtschaftsliberale und klassische Liberale, vielleicht Thatcher-Anhänger. Selbst diejenigen, die in Wirtschaftsfragen keine dezidierte Meinung hatten, glaubten an die Demokratie, den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, die NATO-Mitgliedschaft Polens, den anstehenden Beitritt des Landes zur Europäischen Union und ein Polen, das fester Bestandteil des modernen Europas sein sollte. Das war es, was man in den 1990er Jahren unter ›rechts‹ verstand … Wir waren uns einig über die Demokratie, den Weg zum Wohlstand und die generelle Richtung“ (Anne Applebaum S. 10 f.).
Das ist gut zwei Jahrzehnte später längst vorbei. „Die Hälfte unserer Gäste würde heute kein Wort mehr mit der anderen wechseln. Die Entfremdung ist politischer … Natur. Die Polarisierung in Polen reicht heute weiter als in den meisten anderen Gesellschaften Europas, und wir stehen auf entgegengesetzten Seiten eines tiefen Grabens, der die einstigen Konservativen Polens, aber auch Ungarns, Spaniens, Frankreichs, Italiens und zum Teil auch Großbritanniens und der Vereinigten Staaten in zwei Lager spaltet. Ein Teil unserer Silvestergäste, wie auch mein Mann und ich, blieben dem pro-europäischen, rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Konservatismus treu. Unsere Ansichten fallen mehr oder weniger in das Spektrum der europäischen Christdemokraten, der Liberalen Frankreichs und der Niederlande oder der Republikaner von John McCain. Einige meiner damaligen Gäste zählen sich zur linken Mitte. Aber andere … unterstützen heute eine nationalistischePartei namens Prawo i Sprawiedliwość (abgekürzt PiS, zu Deutsch: Recht und Gerechtigkeit), deren Positionen … nicht nur fremdenfeindlich und paranoid, sondern unverhohlen autoritär“ wurden (Anne Applebaum S. 11 f.).
Auf ihre Frage, was hinter diesem Umbruch steckt, bietet Applebaum weder eine große Theorie noch eine allgemeingültige Lösung an. „Dennoch gibt es so etwas wie einen roten Faden: Unter den passenden Bedingungen kann sich jede Gesellschaft von der Demokratie abwenden. Und wenn man überhaupt etwas von der Geschichte lernen kann, dann vielleicht, dass alle unsere Gesellschaften dies früher oder später tun werden“ (Anne Applebaum S. 21).
Applebaum erinnert unter anderem an Platon, der in der Volksherrschaft einen möglichen Schritt auf dem Weg zur Tyrannei sah, weiter an die Einrichtung des Wahlmännergremiums durch den Verfassungskongress des Jahres 1787, das verhindern sollte, dass niemals ein Mann »mit einem Talent für billige Intrige und die Taschenspielereien der Popularität« Präsident der Vereinigten Staaten werden sollte und schließlich auch an Hannah Arendt, die die »totalitäre Persönlichkeit« als radikal isolierte Menschen beschrieb, »deren Bindung weder an die Familie noch an Freunde, Kameraden oder Bekannte einen gesicherten Platz in der Welt garantiert. Dass es überhaupt auf der Welt ist und in ihr einen Platz einnimmt, hängt für ein Mitglied der totalitären Bewegung ausschließlich von seiner Mitgliedschaft in der Partei und der Funktion ab, die sie ihm zugeschrieben hat« (Hanna Arendt nach Anna Applebaum S. 23).
Schließlich referiert Applebaum, dass nach der Verhaltensökonomin Karen Stenner rund ein Drittel der Bevölkerung jedes beliebigen Landes eine autoritäre Veranlagung hat und sich nach Homogenität und Ordnung sehnt. Autoritarismus spreche Menschen an, die keine Komplexität aushalten. Es handele sich um eine Geisteshaltung, nicht um einen gedanklichen Inhalt. „Theorien wie diese übersehen allerdings oft ein entscheidendes Element … Diktatoren wollen herrschen, doch wie erreichen sie den empfänglichen Teil der Öffentlichkeit? Autoritäre Politiker wollen Gerichte unterwandern, um sich selbst mehr Macht zu verschaffen, aber wie überzeugen sie die Wähler davon, diese Veränderung zu akzeptieren? Im alten Rom ließ Cäsar mannigfaltige Büsten von sich anfertigen. Autokraten von heute beauftragen die modernen Pendants der alten Bildhauer: Autoren, Intellektuelle, Pamphletschreiber, Blogger, Meinungsmacher, Fernsehproduzenten und Memeschöpfer, die der Öffentlichkeit ihr Bild verkaufen. Autokraten brauchen Leute, die Unruhen anzetteln und die Machtübernahme vorbereiten. Aber daneben brauchen sie auch Leute, die den Jargon der Juristen beherrschen und Rechts- und Verfassungsbruch als Gebot der Stunde verkaufen können. Sie brauchen Leute, die Missstände in Worte fassen, Unzufriedenheit manipulieren, Wut und Angst schüren und Zukunftsvisionen entwerfen können. Sie benötigen mit anderen Worten Angehörige der Bildungselite, die ihnen helfen, einen Krieg gegen die übrigen Angehörigen der Bildungselite vom Zaun zu brechen, selbst wenn es sich dabei um ihre Kommilitonen, Kollegen und Freunde handelt“ (Anne Applebaum S. 24).
Diesen Krieg der Bildungseliten zeichnet die Pulitzer-Preisträgerin an vielen Beispielen nach – von dem jetzt als Parteichef der Konservativen zurückgetretenen Boris Johnson über die spanischen Nationalisten bis hin zur Corona-Diktatur in Ungarn. Dabei unterstreicht sie die Bedeutung der sozialen Medien, der Verschwörungstheorien und der Nostalgie; sie zeigt auf, welche materiellen Interessen ins Spiel kommen und wie Elitebashing und Aufstiegsverheißungen die Energien der vermeintlich Unterprivilegierten befeuern.
Ihr Streifzug durch die Welt der Autoritären endet mit einer sommerlichen Party auf ihrem polnischen Landsitz. Einige ihrer Gäste waren alte Bekannte. „Ein Freund, der 1999 aus New York gekommen war, war auch 2019 wieder dabei, diesmal mit Mann und Sohn. Ein polnisches Ehepaar kam ohne seine Kinder … Unter den Besuchern aus Warschau waren einige, die wie ich aus der früheren ›Rechten‹ geflohen waren, aber auch einige, die ich vor zwanzig Jahren nicht einmal im Traum eingeladen hätte, weil sie zu denen gehörten, die man damals als ›Linke‹ bezeichnete …
Auch andere Gäste waren da, darunter Nachbarn aus dem Dorf, einige Bürgermeister …und wieder eine kleine Gruppe von Freunden aus dem Ausland, die aus Houston, London und Istanbul eingeflogen waren. Einmal sah ich, wie unser Förster leidenschaftlich mit dem schwedischen Ex-Außenminister Carl Bildt diskutierte, mit dem mein Mann einige Jahre zuvor die Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und der Ukraine geschmiedet hatte. Ein anderes Mal sah ich einen bekannten Anwalt und Enkel eines berüchtigten polnischen Nationalisten der 1930er Jahre im Gespräch mit einem in London lebenden Freund aus Ghana. In den letzten Jahrzehnten war die Welt so weit zusammengeschrumpft, dass sich all diese Menschen in einem Garten in einem polnischen Dorf begegnen konnten … Wie sich herausstellte, können Menschen mit grundverschiedener Herkunft ausgezeichnet miteinander auskommen … Es ist möglich, gleichzeitig regional und global zu denken“ (Anne Applebaum S. 180 f.).
Für Applebaum gibt es trotzdem keinen Fahrplan für eine bessere Gesellschaft, kein Lehrstück, kein Regelwerk. Aber jeder kann sich seine Verbündete und Freunde mit Bedacht wählen und mit ihnen zusammen den Versuchungen des Autoritarismus widerstehen. „Gemeinsam können wir alten und missverstandenen Begriffen wie Liberalismus neue Bedeutung verleihen … und … darüber nachdenken, wie Demokratie im digitalen Zeitalter aussehen kann“ (Anne Applebaum S. 188).
ham, 7. Juli 2022