Mai 31

Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 2012, ISBN 978-3-496-0159-1, 236 S., Broschur, Format 24 x 16,9 cm, € 19,95

Yoko Onos Partitur „Light a match and watch till it goes out“ von 1955 ist für Angeli Janhsen, Professorin für Kunstgeschichte der Moderne an der Universität Freiburg i.Br. eines der Werke, an denen sie zu verdeutlichen versucht, was sie unter Katalysatorkunst versteht. 1955 war die Partitur sicher noch leichter aufzuführen als heute. „Noch in den 70er Jahren hatte immer irgendwer Streichhölzer in der Tasche, Künstler und Intellektuelle rauchten selbstverständlich. Diese selbstverständliche Alltäglichkeit ist heute verloren, aber Streichhölzer sind üblich genug, dass die Partitur aufgeführt werden kann. Möglich und richtig ist die Aufführung an den verschiedensten Orten, zu den verschiedensten Zeiten. Es muss nicht dunkel sein. Man zündet nach der Anweisung ein Streichholz an, nicht um das Feuer an eine Zigarette oder eine Kerze oder was auch immer weiterzugeben, sondern um es zu sehen, zu beobachten, >>to watch<<. Normalerweise würde man das eben nicht tun, sondern darauf achten, dass man das Feuer an den gewünschten Ort bekommt, bevor das Streichholz ausgeht. Man überlegt nicht viel, ist geübt im Anzünden, man nimmt es kaum wahr – überhaut nimmt man normalerweise wenig wahr“ (Angela Janhsen). Aber wenn man dann dem Streichholz beim Brennen zusieht bis es ausgeht und Fragen zulässt wie die nach dem Ende, nach dem, was Feuer und Licht ist, begreift man schnell, dass Onos Partitur kein >>ordentliches<< Kunstwerk ist. „Es hat keine Botschaft … Man kann es nicht eigentlich verstehen, kunsthistorische Methoden greifen hier wenig, aber es gibt Kriterien für einen guten Umgang damit. Es vergeht, aber es wirkt, es greift ein, es ändert jemandem, der es kennt, das Leben. … Yoko Onos Partitur wirkt als Katalysator. Wenn man das Vorher und Nachher und all das, was man beim Brennen des Streichholzes im Sinn hat, nicht bedenken würde, wäre die Aktion sinnlos und überflüssig, wie jeder Katalysator allein nicht überzeugt. Wenn ich aber sehe, was für mich an dieser Partitur alles deutlich und gebündelt ist, wie ich mit dieser Partitur vergnügter und aufmerksamer lebe, bewusster lebe, dann finde ich sie außerordentlich wichtig“ (Angeli Janhsen).

Kunst, die wie ein Katalysator wirkt, findet Janhsen unter anderem auch in Bas Jan Aders am 9. Juli 1975 vom Cape Cod in Massachusetts angetretener Ozeanüberquerung, weiter in den von Tino Sehgal inszenierten Stegreif-Begrüßungen „Welcom to this situation!“ vom August 2007 im Frankfurter Zollhaus und in der Körperaktion von Flatz in der Silvesternacht 1990/91 in einer Synagoge in Tiflis: „Zwischen zwei hängenden Stahlplatten war … der Künstler gehängt, kopfüber, gefesselt. Mit einem nach unten hängenden Seil konnte er >>geläutet<< werden, hin- und hergeschwungen zwischen den Stahlplatten, auf sie prallend, sich verletzend, am Ende fast bewusstlos… Nach fünf Minuten Folter hängt Flatz mit blutigem Kopf, während unter ihm ein Paar Wiener Walzer, den ganzen langen Kaiserwalzer von Richard Strauß, tanzt. Dann erst wird Flatz abgenommen“ (Angeli Janhsen). Im

Ergebnis kommt Janhsen nach der Analyse von Arbeiten von weiteren 13 Künstlern zur Auffassung, dass Katalysatorkunst „verschiedene Arten von Präsenz“ bewirkt und „die Herstellung von Präsenz“ reflektiert. „Sie stellt Offenheit bewusst her, indem sie Aufmerksamkeit und Präsenz herstellt… Diese Offenheit wird nur dann in ihrer Besonderheit überhaupt deutlich, wenn die traditionellen Alternativen, gegen die sich diese Kunst wendet, … skizziert werden. Nicht offen ist ältere Kunst, insofern sie Intentionen hat. Wenn ich mich vor Rembrandts Gekreuzigtem vergnügt zurücklehne, habe ich etwas Wichtiges nicht verstanden. Betrachter, die Rembrandt oder anderen Malern seit Giotto entsprechen wollen, müssen nachvollziehen…, müssen das Spezifische so gut wie möglich sehen. Die Einfühlung kann bewertet werden, man kann besser oder schlechter, richtig oder falsch verstehen… Einfühlung ist bei einem Großteil der traditionellen Kunst gefordert… Auch wer Schmerzen… wahrnimmt… fühlt sich… ein… Katalysatorkunst entsteht in der historischen Situation, … in der Wirklichkeit und Kunst längst vermischt sind, in der Kulissen Ansprüche zu verwirklichen scheinen, in der Fake normal ist, in der Selbstdesign selbstverständlich ist…. In eben dieser Situation entwickelt sich Katalysatorkunst, die Offenheit und Präsenz herstellt. Sie zeigt keine Utopie. Sie lenkt nichts in eine bestimmte Richtung, unterscheidet kaum Richtiges und Falsches, Wünschbares und zu Vermeidendes, sondern legt sich eben nicht fest. Sie fordert nicht Berichtigungen. Sie stellt die … verschiedenen Arten von Präsenz her, oft bloß als momentane Aufmerksamkeit. Keiner der … Künstler gibt Botschaften… Katalysatorkunst ist … nicht Selbstdesign. Es geht nicht um Einfühlung oder um die Gestaltung bestimmter Erfahrungen. Man weiß nicht so recht, was bei einem Kunstkatalysator herauskommt,… er intensiviert, aber er hat kein Ziel“. Sie bleibt provisorisch, ist kein Werk, kein Speicher und kein Generator von Bedeutungen. „Kunst, die vor allem befriedigt, etwas auf den Punkt bringt, ein Ende setzt, eine Definition gibt, Kunst, die zusammenfasst, die kommentiert, die Botschaften gibt, die dekoriert und irgendwie selbstzufrieden ist, ist tendenziell nicht Katalysator“ (Angeli Janhsen).

Wenn man Themen auflistet und ihnen Künstler zuordnet, die Kunst im Sinn von Angeli Janhsen als Katalysator verstehen, liest sich das etwa so: „ ‚Abschied‘ Bas Jan Ader, Sophie Calle, Marina Abramović, Pina Bausch. ‚Geld‘ Yves Klein, Jochen Gerz, Rimini Potokoll, Maria Eichhorn, Tino Sehgal. ‚Gurken‘ Erwin Wurm. ‚Hund‘ Flatz, Erwin Wurm. ‚Wasser‘ Bas Jan Ader, Pina Bausch, Roman Signer, Yoko Ono. ‚Zahlen‘ On Kawara, Roman Opalka, Hamisch Fulton, Dirk Higgins.“

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