Verlag C.H.Beck, München, 2015, ISBN 978-3406-68246-9, 494 Seiten, Hardcover gebunden mit
Schutzumschlag, Format 22 x 15 cm, € 24,95(D) / € 25,79 (A) / eBook € 19,99
Andreas Rödders kurze Geschichte der Gegenwart will die Gegenwart historisch erklären und weiß zugleich,dass die damit verbundenen Fragen in ein wissenschaftliches Niemandsland führen. Das Buch „liegt zwischen der Domäne der gegenwartsbezogenen Sozialwissenschaften und dem Terrain der
Geschichtswissenschaften, die erst in Ansätzen über die Epochenschwelle von 1989/90 hinausgegangen sind … Hartmut Rosa sieht die entscheidende sozial-kulturelle Entwicklung in einer Beschleunigungswelle, die sich mit der Globalisierung aufgebaut und die Zeitstrukturen verändert habe. Eine historische Parallele findet er im technologischen und ökonomischen Wandel vor 1914, der die Alltagserfahrungen der Menschen prägte und zugleich neue Ambivalenzen hervorbrachte. Hier knüpft diese >> Geschichte der Gegenwart<< an, die sich als eine historische Bestandsaufnahme unserer Zeit und zugleich als Beitrag zu einer wissenschaftlichen Geschichte der >>Miterlebenden<< versteht“ (Andreas Rödder S. 11f.).
Rödder hat bei seiner Untersuchung zunächst die vielen möglichen Gegenstände in Anlehnung an Max
Weber in die Kategorien Staat und Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur unterteilt und ihre
Überlappungen reflektiert. Danach wurden die zentralen Forschungen, Debatten und Ergebnisse der
Gegenwartswissenschaften, vor allem der Soziologie, der Sozialphilosophie und -psychologie sowie der Wirtschafts-, Staats-, Politik- und Kommunikationswissenschaften gesichert. Da archivalische Quellen für die zurückliegenden dreißig Jahre in der Regel nicht oder nur eingeschränkt zugänglich sind und die zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Forschungen zugleich Literatur und Quellen für die Selbstbeschreibung der Akteure sind, wäre es falsch, „sie unkritisch zu übernehmen und einfach fortzuschreiben. Es geht vielmehr darum, die zeitgenössischen Selbstbeobachtungen auf ihre empirische Substanz, ihre thematische Signifikanz und ihre historische Plausibilität hin zu prüfen … Der
Mehrwert einer solchen Untersuchung in historischer Perspektive liegt daher erstens in der
Zusammenführung verschiedener gegenwartswissenschaftlicher Erklärungsansätze und Erkenntnisse,
zweitens in deren Verbindung mit historischen Analysekonzepten und drittens in der historisch-diachronen, Einordnung und Erklärung zentraler Entwicklungen … Sie will … die Entstehung von Phänomenen und Problemen in ihren jeweils relevanten zeitlichen und räumlichen Kontexten erklären …“ (Andreas Rödder S. 14). Das Buch setzt daher in der Gegenwart an und diskutiert danach wesentliche Kulminationspunkte der Problemgeschichte. Es stellt Deutschland ins Zentrum und erschließt von dort aus den europäischen Kontext, den transatlantischen Raum sowie die globale Dimension.
Im Ergebnis kann Rödder „ fünf Neuigkeiten des frühen 21. Jahrhundert vorstellen, fünf historische Muster identifizieren, die wir mindestens seit dem 19. Jahrhundert kennen, und schließlich drei allgemeine Tendenzen benennen“(Andreas Rödder S. 379):
Novum 1 ist die Digitalisierung und das rhizomatische Denken. „ Digitalisierung und Internet haben die
Kommunikation verändert wie fünf Jahrhunderte vorher Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks … Sie haben
die zweite Globalisierung ermöglicht, die Wirtschafts- und die Arbeitswelt revolutioniert, neue Dimensionen von Kapitaltransaktionen eröffnet und die Finanzmärkte in das Zentrum des Kapitalismus gerückt. Damit verändern sich die Mechanismen der Wahrnehmung und des Denkens. Hypertextstrukturen im Internet sind anders angelegt als ein geschriebener Text … Dem entspricht ein >>rhizomatisches<< … Denken, das … flächig-vernetzt ist. Denken in Kategorien von Netzwerken … wird zu einer neuen Form der Weltaneignung“ (Andreas Röter S. 380).
Novum 2 ist der anthropogene Klimawandel. Erstmals ist der Mensch es, der den Klimawandel verursacht,
und zwar vor allem durch den Ausstoß von Kohlendioxyd. Das Ergebnis ist eine globale Erwärmung, die ab
einem Umfang von zwei Grad Celsius negative Auswirkungen haben dürfte.
Novum 3 ist der Aufstieg der außereuropäischen Länder. Nach den beiden Weltkriegen kommen die
Sowjetunion und die USA als weltpolitische Akteure ins Spiel. Die USA steigen politisch, militärisch,
technologisch und ökonomisch zur globalen Vormacht auf. 1991 zerfällt die UDSSR. Nach 1990 wird
Ostasiens zu einer globalen Boomregion und China zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt. „Das
Problem Europas ist nicht der Aufstieg der anderen, sondern die Wettbewerbsschwäche einzelner
europäischer Staaten“ (Andreas Röter S. 382).
Novum 4 ist die europäische Integration und ihr Beitrag zur Stabilisierung des ostmittel- und
südosteuropäischen Raums, soweit er in die EU einbezogen wurde.
Novum 5 ist die Wahlfreiheit der Lebensformen. Die Gleichstellung der Geschlechter wurde zu einem
politischen Kernanliegen des frühen 21. Jahrhunderts. Darüber hinaus „änderten sich die privaten
Lebensformen. Kinderlose Verheiratete und Nichtverheiratete, Patchworkfamilien, Alleinlebende und
Alleinerziehende oder Homosexuelle gab es zu allen Zeiten - aber nicht als gleichberechtigte bzw. gewollte und allgemein akzeptierte Lebensformen. Mit der gesellschaftlichen Pluralisierung und der Auflösung traditioneller Ordnungsvorstellungen wurde die gleichberechtigte Wahl zwischen diesen Lebensformen möglich. Verbunden war diese Wahl in vielen Fällen mit Kinderlosigkeit … Geburtenrückgang und gestiegene Lebenserwartung hatten zugleich die demographische Alterung der Gesellschaft zur Folge und bringen die Notwendigkeit mit sich, Alter als Phase im Lebenslauf zu denken“ (Andreas Röter S. 383).
Zu den mindestens seit dem 19. Jahrhundert bekannten Mustern gehören die bleibende Attraktivität des
Lebensmodells Familie, die Anpassungsfähigkeit von Mensch und Gesellschaft an die Herausforderungen
eines globalisierten Kapitalismus, die Asymmetrie zwischen Kapitalismus und Demokratie und die deutsche Stärke in Europa. Mit dem Ende des Nachkriegsbooms und des Fortschrittsoptimismus löste ab 1973 eine politische Ökonomie der Marktorientierung den staatsinterventionistischen Keynesianismus ab, „die auf den Rückzug des Staates und die Freisetzung von Marktkräften durch Liberalisierung und Deregulierung baute. Mit der Digitalisierung und einem globalen Wohlstandsschub verbreitete sich das Modell des börsenorientierten shareholder-value-Kapitalismus … Die zweite Folge der Krise von 1973 war die Postmoderne … Ihre Konsequenz war die … Zurückweisung von Ganzheit: >>Die große Erzählung hat ihre
Glaubwürdigkeit verloren.<< Daraus folgte eine verstärkte gesellschaftliche Pluralisierung und die
Dekonstruktion überkommener Ordnungsvorstellungen der Moderne - der Ordnung der Geschlechter oder
des Konzepts vom >>Westen<< “ (Andreas Rödder S. 388). Gleichwohl blieb die Sehnsucht nach Ganzheit
und so ging aus der „Dekonstruktion der überkommenen Ordnung die Konstruktion einer neuen hervor: die
Kultur der Inklusion“ (Andreas Rödder a.a.O). Als bleibende Aufgabe stellt sich die Frage, wie
Gemeinwesen mit der Ungewissheit des historischen Wandels umgehen sollen. Für Rödder legt es sich nahe, Platon und Aristoteles zusammenzudenken. „Modelle und Statistiken sind hilfreich, wenn sie als Hilfsmittel verwendet werden, doch sie werden schädlich, wenn sie zum Ziel an sich gemacht werden. Ideen werden gefährlich, wenn sie sich von der Realität lösen … Geschlossene Ordnungsentwürfe und verfestigte Rahmen sind Instrumente zur Ausgrenzung des Abweichenden - hinter diese postmoderne Erkenntnis führt kein Weg zurück. Sie verstellen die Einsicht, dass morgen als falsch gelten kann, was heute für richtig gehalten wird, sie verstellen die Offenheit dafür, dass alles anders kommen kann … Nur wer offen dafür ist, dass alles auch ganz anders sein mag als gedacht, kann die Chancen des Unvorhergesehenen nutzen … (U)nd wenn sich neue Ideen mit dem Sinn für die Realitäten verbinden, dann macht auch die Geschichte der Gegenwart keine Angst vor der Zukunft“ (Andreas Rödder S. 391 f.).
ham, 15.10.2015
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