ARCHITEKTURVISIONEN VON 1900 BIS HEUTE
mit Arbeiten von
Aino Aalto, Raimund Abraham, Archigram, Joe Colombo, Coop Himmelb(l)au,
Robbie Cornelissen, Wolfgang Döring, Klaus Dyba, Hermann Finsterlin, Walter
Gropius, Wenzel Hablik, Haus-Rucker-Co, Arata Isozaki, Helmut Jacoby, Walter
Jonas, Jan Kamensky, Jan Kaplický (Future Systems), Bodys Isek Kingelez,
Friedrich Kiesler, Engelbert Kremser, Kishō Kurokawa, Fritz Lang, Nils-Ole Lund,
Gordon Matta-Clark, Isa Melsheimer, Erich Mendelsohn, Farkas Ferenc Molnár,
Verner Panton, Hans Poelzig, Hans Scharoun, Oskar Schlemmer, Ettore Sottsass,
Bruno Taut , Theo van Doesburg, Konrad Wachsmann, Stefan Wewerka, Amelie
Weyers, Thomas Ravens, Bernd Ribbeck, Simone Rueß, Heike Weber und
Walter Eul
Kunsthalle Tübingen: 08.06.2025 – 19.10.2025
Faustkeile, Fossilien und Malereien aus Höhlen der Altsteinzeit, der Löwenmensch aus dem Hohlenstein-Stadel im Lonetal und die Flöten aus Mammutelfenbein und Schwanenknochen aus der Vogelherdhöhle signalisieren, dass das Wohnen Menschen seit Menschengedenken beschäftigt hat (vergleiche dazu https://www.schule-bw.de/faecher-und-schularten/gesellschaftswissenschaftliche-und-philosophische-faecher/landeskunde-landesgeschichte/module/bp_2016/vergleich_aegypten-steinzeit/altsteinzeit).
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich Pfarrer, die in Hochhaussiedlungen wie der Korber Höhe in Waiblingen (vergleiche dazu https://www.zvw.de/lokales/waiblingen/50-jahre-korber-höhe-aus-hochhaus-ödnis-wird-lebendiges-wohnquartier_arid-824162#detailImages), im Hannibal in Asemwald (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Hannibal_(Stuttgart)) und in Neugereuth (vergleiche dazu ›Wohnen in Stuttgart-Neugereut So lebt es sich im Dorf aus Beton‹ in https://www.stuttgarter-zeitung.de/gallery.so-wohnt-stuttgart-neugereut-ein-dorf-aus-beton.48e7e5b8-d435-4380-860b-22d376b6c5fb.html) tätig waren, in den 1970er Jahren auf Anregung der Evangelischen Akademie Bad Boll regelmäßig getroffen haben, um Fragen und Probleme des Wohnens und Lebens in diesen damals noch ungewohnten Wohnformen zu besprechen. Heute erklärt das Landesamt für Denkmalpflege in Baden-Württemberg herausragende Objekte dieser ehemals als brutalistisch beschimpften Architektur zu Kulturdenkmälern (vergleiche dazu ›Peter Dabelstein, größer, höher, dichter. Wohnen in Siedlungen der 1960er und 1970er Jahre in der Region Stuttgart.‹ In: https://idw-online.de/de/news483245 und ›Kulturdenkmale der 1960er und 1970er Jahre‹. In: https://www.denkmalpflege-bw.de/denkmale/projekte/bau-und-kunstdenkmalpflege/inventarisation/kulturdenkmale-der-1960er-und-1970er-jahre).
Nicole Fritz, die Direktorin der Kunsthalle Tübingen und Kuratorin der Ausstellung ›SCHÖNER WOHNEN‹ geht noch einen Schritt weiter, wenn sie nicht die in einer Auflage von 160500 Exemplaren gedruckte und in 126473 Exemplaren verkaufte Monatszeitschrift ›Schöner Wohnen‹, sondern Architektur- und Wohnkonzepte vom Expressionismus bis zur Gegenwart durchforstet und fragt, wie und warum Architekturzeichnungen heute in der Kunst weiterleben.
Nach Fritz kann die nach dem Ersten Weltkrieg von Architekten wie Bruno und Max Taut, Hermann Finsterlin oder Wenzel Hablik entworfene und an der Natur orientierte visionäre Architektur als Gegenentwurf zum Wohnen in Würfeln verstanden werden. So sollte sich etwa nicht weniger als die gesamte Alpenlandschaft nach der von Bruno Taut ins Leben gerufenen Künstlergemeinschaft die ›Gläserne Kette‹ (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Gläserne_Kette)in eine kristalline Landschaft mit gläsernen Bergspitzen und Gralsheiligtümern verwandeln (vergleiche dazu https://www.deutsches-museum.de/forschung/bibliothek/unsere-schaetze/architektur-bauwesen/alpine-architektur). Andere suchten nach dem Ersten Weltkrieg Harmonie, vermuteten sie in der Musik und bauten wie Hans Scharoun die Berliner Philharmonie (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Philharmonie).
In den 1920er Jahren wurde das Wohnhaus bei Pionieren des Neuen Bauens wie Walter Gropius, Le Corbusier oder Theo van Doesburg zur Wohnmaschine. Die neue Architektur entwickelte sich streng aus den praktischen Forderungen, die in klaren Grundrissen festgehalten wurden. Nach dem Motto ›Geformtes formt‹ sollte sich eine vom Ballast befreite Baukunst auch beruhigend auf die Menschen auswirken. Funktionalität und Klarheit sollten den neuen Menschen schaffen. Bei Festen im neuen Dessauer Bauhausgebäude wie dem „Metallischen Fest“ vom 9. Februar 1929 sollte eine breite Öffentlichkeit erleben, wie das Bauhaus seine Studierenden zu selbstbewussten, mutigen und experimentierfreudigen Gestalterpersönlichkeiten erzog (vergleiche dazu ›Das metallische Fest im Bauhaus‹ unter https://www.staatsgalerie.de/de/sammlung-digital/metallische-fest-im-bauhaus-dessau). Die Bauhausfeste spiegelten die „gemeinsame Grundhaltung vielleicht noch mehr als etliche, heute zu Designikonen gewordene Objekte wider – wie die Bauhaus-Leuchten von Wilhelm Wagenfeld, die Stahlrohrmöbel von Marcel Breuer oder die kubische Bauhaus-Architektur von Walter Gropius. So gesehen können die Bauhausfeste auch als Gesamtkunstwerke beschrieben werden, in denen sich das ganze Bauhauskollektiv – man könnte auch sagen: das Bauhaus als künstlerische Arbeits- und Lebensgemeinschaft – so umfassend wie nirgends sonst inszeniert und programmatisch dargestellt hat.
In den Festen manifestierte sich schließlich Gropius’ Vision einer neuen Raumkunst, wie er sie 1923 in seinem Text ›Idee und Aufbau des staatlichen Bauhauses Weimar‹ als große Gesamtvision beschrieben hatte: ›Alle bildnerische Arbeit will Raum gestalten. Soll aber jedes Teilwerk in Beziehung zu einer größeren Einheit stehen – und dieses muss das Ziel des neuen Bauwillens sein –, so müssen die realen und geistigen Mittel zur räumlichen Gestaltung von allem am gemeinsamen Werk Vereinten gekonnt und gewusst werden. Und hier herrscht große Verworrenheit der Begriffe. Was ist Raum, wie können wir ihn erfassen und gestalten? (…) Den bewegten, lebendigen künstlerischen Raum vermag nur der zu erschaffen, dessen Wissen und Können allen natürlichen Gesetzen der Statik, Mechanik, Optik, Akustik gehorcht und in ihrer gemeinsamen Beherrschung das sichere Mittel findet, die geistige Idee, die er in sich trägt, leibhaftig und lebendig zu machen. Im künstlerischen Raum finden alle Gesetze der realen, der geistigen und der seelischen Welt eine gleichzeitige Lösung‹“ (›Der Neue Mensch in Bewegung. Bauhaus als Fest.‹ In: https://bauhauskooperation.de/kooperation/jubilaeumsarchiv/magazin/verstehe-das-bauhaus/der-neue-mensch-in-bewegung).
In den 1950er Jahren werden die Ideen des neuen Bauens der 1920er Jahre aufgegriffen. Es entstehen durchgrünte Stadtlandschaften im rechtwinkligen System als überschaubare Einheiten, die durch Schnellstraßen miteinander verbunden sind. Im Mittelpunkt steht das Auto als Fetisch des Fortschritts. Zu den Entwürfen schwimmender Metastädte und aus einzelnen Modulen zusammengesetzter Turm- beziehungsweise Trichterstädte (Arata Isozaki, Walter Jonas) kommen die Walking City der Londoner Architektengruppe ARCHIGRAM (Peter Cook, Ron Herron, Dennis Crompton u. a.), die sich wie ein scheinbar lebendiges Wesen als schreitende Stadt fortbewegt, und der metabolistische ›Nakagin Capsule Tower‹ (1972) des japanischen Architekten Kishō Kurokawa, der als einer der wenigen tatsächlich gebaut worden ist. Nach dem Abriss des ikonischen Wohn- und Bürgergebäudes im Jahr 2022 in Tokio wurden einige wenige Kapseln von Museen weltweit angekauft. Eines der Wohnmodule konnte dauerhaft für die Kunsthalle Tübingen gesichert werden und ist über die Laufzeit der Ausstellung auf dem Skulpturenhof der Kunsthalle erstmals zugänglich.
Mit dem Beginn des Medienzeitalters in den 1960er Jahren kommt der Entwurfsdarstellung über ihre Funktion als Instrument und Veranschaulichung eines Projekts hinaus mehr und mehr eine werbende Aufgabe zu. Unter den Architekten wurde Helmut Jacoby zu einem der Spezialisten, die sich die Verpackung von Entwurfsideen und damit das Marketing zur Profession gemacht haben. Die 1972 vom Club of Rome veröffentlichte Studie ›Die Grenzen des Wachstums‹ hat die Folgen des ungebremsten Wirtschaftswachstums drastisch deutlich gemacht. Friedensreich Hundertwasser hatte schon 1958 mit seinem Verschimmelungsmanifest gegen die gerade Linie polemisiert und beim Bauen auf die Einbeziehung aller Sinne gedrängt (vergleiche dazu die Liste der Bauwerke von Friedensreich Hundertwasser in https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Bauwerke_von_Friedensreich_Hundertwasser). Engelbert Kremser träumte von ›Erdarchitekturen‹ (vergleiche dazu http://www.engelbertkremser.de/erdarchitektur.html) und die Architektengruppe Haus-Rucker-Co (Laurids, Ortner, Günther Zamp Kelb und Klaus Pinter, ab 1971 Manfred Ortner und Carol Michaels) von Wohnblasen (vergleiche dazu https://www.kunstpalais.de/de/147/-Haus-Rucker-Co:83.html).
In den 1990er Jahren wird der traditionelle, von Hand gezeichnete Entwurf von der computergenerierten Illustration und KI-Entwürfen abgelöst. Mit der Aufwertung der Zeichnung zur Kunst wird auch der Kunstwert der Architekturzeichnung wahrgenommen und von Künstlerinnen und Künstlern wie Robbie Cornelissen, Bernd Ribbeck und Thomas Ravens als Bezugsmedium und Inspirationsquelle entdeckt. Simone Rueß weitet die Zeichnung in ihrem Projekt ZUHAUSE/HOME ins Soziale aus (vergleiche dazu https://kuenstlerbund-bawue.de/profil/simone.rueß/ und https://www.instagram.com/reel/DB3q9KYoQ9Z/). Die Studentin Amelie Weyers erinnert mit ihrer Installation ›Playground‹ an den ›homo ludens‹ der Situationisten der 1960er Jahre. Und der Berliner Künstler Bernd Ribbek realisiert im Rahmen des Formats AUSSER HAUS gegenüber der Kunsthalle eine große Fassadenarbeit (vergleiche dazu https://kunsthalle-tuebingen.de/ausser-haus/).
ham, 10. Juni 2025