Leben ist Wandlung
Patmos Verlag, Ostfildern 2024, ISBN-13: 9783843615518, 166 Seiten, Hardcover, gebunden, Format 19,4 x 12,5 cm, € 19,00
Die langjährige Professorin für Psychologie an der Universität Zürich, Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Analytische Psychologie und des C. G. Jung Instituts und dortige Dozentin und Lehranalytikerin Verena Kast geht in ihrer kompakten Publikation »Abschied als Anfang« der komplexen Frage nach, wie im Gilgamesch-Mythos, der Philosophie von Wilhelm Weischedel, Hannah Arendt und Karl Jaspers, den Literaten und Dichtern Hermann Hesse, Mascha Kaliko und Marieluise Kaschnitz und in der Psychotherapie mit der Unverfügbarkeit und Offenheit der Zukunft und der Gewissheit von Geburt und Tod umgegangen wird.
„Letztlich ist das Leben unverfügbar, die Zukunft ist offen, nicht festgelegt. Das ermöglicht es uns, immer wieder etwas neu zu beginnen, kreativ zu sein, Möglichkeiten auszuloten, im Fluss des Lebens zu sein. Wann immer wir aber auch etwas beginnen, tritt anderes in den Hintergrund – oder wir verlieren es sogar. Jede kreative Handlung ist in diesem Sinne auch destruktiv. Dieser Dynamik entspricht, dass Menschen geboren werden, in eine Weltgeschichte und in eine Familiengeschichte hinein, dass Menschen aber auch letztlich sterben müssen. Geburt und Tod finden im Miteinander der Menschen statt. Geburt und Tod – das prägt unser Leben, wobei die Geburt als etwas sehr Positives, Lichtvolles gesehen wird, der Tod als Gegensatz dazu als düster, dem man nicht entkommt, ein Verhängnis, das es zu vermeiden gilt. Wir können aber nichts Neues beginnen, wir können nicht im Fluss des Lebens sein, wenn wir nicht immer auch etwas loslassen, etwas sterben lassen, etwas enden lassen können. Wenn wir den Tod akzeptieren können, werden uns das Leben und das Lebendigsein kostbar“ (Verena Kast, S. 9).
Man kann wie der 1975 verstorbene skeptische Philosoph Wilhelm Weischedel davon ausgehen, dass es im Umgang mit Geburtlichkeit (Hannah Arendt) und Tod nicht die eine Wahrheit gibt und man nicht wissen kann, ob das Leben einen Sinn hat oder sinnlos ist. In der Konsequenz sollte man abschiedlich leben. „Abschiedlichkeit versteht Weischedel als die Einwilligung in ein kontinuierliches Abschiednehmen. Menschen müssen immer wieder Abschied nehmen von dem, was uns lieb, wichtig und vertraut ist, aber auch von dem, was uns Halt und Orientierung gibt und unseren Alltag bestimmt: Beziehungen, beruflichen Situationen, Denkprozessen, auch unserem ›Engagement‹ … Die Forderung nach einem abschiedlichen Leben ist einem Leben angemessen, das den Tod kennt und ihn ernst nimmt, auch im Hereinwirken ins aktuelle Leben. Andererseits besteht die Gefahr, dass man zu rasch loslässt, zu schnell in Abschied einwilligt, so dass einem das Leben unter den Händen zerrinnt. … Es gibt nicht nur den Abschied, es gibt auch das Bleiben … Die Abschiedlichkeit ernst zu nehmen, meint für Weischedel, im Leben das Sterben zu lernen. Mir ist das zu einseitig: Gerade wenn wir sterben lernen, lernen wir auch zu leben. Um abschiedlich leben zu können, muss man die Bindungen sehr ernst nehmen: Eine stützende akzeptierende Umgebung können wir verinnerlichen; in unserer Erinnerung bleibt das Bleibende“ (Verena Kast, S. 21 ff.).
Deshalb sieht Kast mit Hannah Arendt die Geburtlichkeit als eine Art Gegenprogramm zur Abschiedlichkeit. „Sie denkt den Menschen nicht vom Ende, sondern vom Anfang her. Es ist gewiss, ›dass Menschen zwar sterben müssen, aber deshalb noch nicht geboren werden, um zu sterben, sondern im Gegenteil, um etwas Neues anzufangen …‹. Und sie moniert, dass das Sterben sehr ernst genommen wird, nicht aber das Geborenwerden: ›Es ist, als haben die Menschen seit Plato das Faktum des Geborenseins nicht ernst nehmen können … Im Geborensein etabliert sich das Menschliche als ein irdisches Reich, auf das hin sich ein jeder bezieht, indem er seinen Platz sucht und findet, ohne jeden Gedanken daran, dass er selbst eines Tages wieder weggeht. Hier ist seine Verantwortung, Chance etc.‹ Verbunden mit der Idee der Geburtlichkeit ist die Faszination des Immer-wieder-beginnen-Könnens, der Möglichkeit zu handeln, mit anderen Menschen in der Welt zu handeln und sie zu gestalten: ›Der Mensch wurde geschaffen, damit überhaupt etwas begann‹, zitiert Arendt Augustinus“ (Verena Kast, S. 25).
Der amerikanische Psychoanalytiker, Psychiater, Schriftsteller und Vertreter der existenziellen Psychotherapie Irvin D. Yalom versteht den Tod als Ausgangspunkt für ein authentisches Leben. „Yalom ist der Ansicht, dass man in der Psychotherapie viel entschlossener mit dem Thema des Todes konfrontiert werden sollte, weil die Angst vor dem Tod das Leben hemmt und dazu führt, dass viele Möglichkeiten im Leben nicht genutzt werden können. Er stellt fest, dass wir das Denken an den Tod vermeiden, indem wir uns rasch in eine symbolische Unsterblichkeit flüchten … Es ist für Yalom auch deshalb wichtig, sich die Angst vor dem Tod zuzugestehen, weil sie sich sonst auf alltägliche Situationen verschieben kann“ (Verena Kast, S. 33 ff.).
Marie-Luise Kaschnitz antwortet auf die Frage, ob sie an ein Leben nach dem Tod glaubt, mit „Ja“. Keine Auskunft kann sie dagegen auf die Frage geben, wie sie selber dort aussehen sollte. ›Ich wusste nur eines / Keine Hierarchie / Von Heiligen auf goldenen Stühlen sitzend / Kein
Niedersturz / Verdammter Seelen / Nur / Nur Liebe frei gewordene / Niemals aufgezehrt / Mich überflutend / […] / Mehr also fragen die Frager / Erwarten Sie nicht nach dem Tode? / Und ich antworte / Weniger nicht‹ (Marie-Luise Kaschnitzu nach Verena Kast, S. 64) Auf die Frage, wie wir zur Freude finden, erinnert Kast an die freudigen Erfahrungen in der Natur, Kultur und eigenen Lebensgeschichte. „Es geht darum, den Reichtum der Erfahrungen und Empfindungen wahrzunehmen und auszukosten. Freude lebt auch von der Imagination, und das besonders dann, wenn unsere Vorstellungen möglichst sinnhaft erlebt werden. Wir sprechen nicht nur von Rosen, wir sehen ihre Farben, erleben ihren Duft. Schönes, das wir erlebt haben, können wir uns immer wieder in die Erinnerung zurückrufen – sinnenhaft genau – und dann nähren uns diese Imaginationen emotional …. ›Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn‹, so Kaléko, weil das Leben ist, wie es ist“ (Verena Kast/Mascha Kaléko, S. 71 f.).
Kast setzt mit Marcel Proust bei Verlusterfahrungen auf die Arbeit an den Erinnerungen. „Aktuell beschäftigen sich viele Menschen mit ihrer Lebensgeschichte, machen Biografiearbeit. Wir erinnern uns, stellen uns vor – möglichst lebendig –, wie unser Leben zu einem bestimmten Zeitpunkt war; wir vergegenwärtigen uns die vergangene Situation und holen sie so in die Gegenwart zurück. Aus diesen vergegenwärtigten Erinnerungen können auch neue, an unsere jetzige Lebenssituation angepasste Vorstellungen und Sehnsüchte für die Zukunft entstehen – so könnte man dem Zukunftsverlust begegnen“ (Verena Kast, S. 76).
Bei Erfahrungen von Verlust trauern wir. Der Trauerprozess beim Verlust eines geliebten Menschen ist das Urmuster des Umgehens mit Verlustkrisen und kann mit verschiedenen Akzentuierungen auf alle Trauersituationen übertragen werden. An Schicksalsschlägen können wir wachsen. Im Trauerprozess spüren wir, was wir verloren haben, dann aber auch, wie wir mit dem Verlust umgehen und uns wieder neu auf das Leben einlassen können. Wir bekommen wieder die Energie, die Zukunft zu gestalten, Energie für ein neues Sich-Öffnen, auch für neue Aufbrüche. Unsere schöpferische Vorstellungskraft lässt uns wieder kreativ und für unsere Zukunft offen werden.
ham, 19. Mai 2025