Wenn die Heiligen drei Könige nicht dem Stern von Bethlehem, sondern den als Perlenkette am Abend- und Morgenhimmel erscheinenden Starlink-Satelitten von Elon Musks Firma SpaceX gefolgt wären, wären sie nicht in Bethlehem, sondern im Orbit gelandet (vergleiche dazu https://starwalk.space/de/news/spacex-starlink-satellites-night-sky-visibility-guide und https://www.swr.de/wissen/wie-starlink-satelliten-am-himmel-sehen-100.html). Musks wie Sterne am Himmel auftauchende Starlink-Satellitten sind nicht nur Sternguckern, sondern auch dem Videokünstler Bjørn Melhus aufgefallen, als er vor gut einem Jahr sein Villa Massimo-Stipendium in Rom angetreten hat. 

Er hatte sich nach einem Durchgang durch die Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart dafür entschieden, sich in seiner ihm durch den Rompreis zugekommenen Zeit mit Max Beckmanns 1941/42 im Exil in Amsterdam entstandenen Folge von Kreidelithographien zur »Offenbarung des Johannes« auseinanderzusetzen, weil er sie vor dem Hintergrund neuer Kriege, kollabierender Demokratien und des weltweit zunehmenden Rechtspopulismus für hochaktuell hält: „Wir müssen uns daran gewöhnen, dass die Bedrohung für uns persönlich wächst“ (Bjørn Melhus über Max Beckmann. In: https://www.monopol-magazin.de/bjorn-melhus-alte-meister-max-beckmann). Aus seiner Auseinandersetzung mit der Apokalypse des Johannes, den aus ihr abgeleiteten Weltuntergangsszenarien und den gegenwärtigen Bedrohungslagen ist seine 2-Kanal-Videoinstallation ›Offenbarung‹, 2024, 12 min, Loop, entstanden.

In Melhus’ Videoinstallation werden die Bilder der wohl um 68/69 nach Christus (so der Heidelberger Neutestamentler und Apokalyptik-Experte Klaus Berger) oder um 95 nach Christus entstandenen frühchristlichen Trost- und Hoffnungsschrift wie schon in der Tradition durch zeitgenössische Bilder interpretiert. Man könnte sich vorstellen, dass sich Melhus mit gegenwärtigen Überlebensvisionen und unter anderem auch mit den beiden erhaltenen apokalyptischen Wesen auf dem Apsis-Mosaik von Santa Pudenziana (um 450 n. Chr.) auseinandergesetzt hat (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Santa_Pudenziana#/media/Datei:Apsis_mosaic,_Santa_Pudenziana,_Rome_W2.JPG und https://de.wikipedia.org/wiki/Santa_Pudenziana). Dazu könnten die Zeichnungen der Trierer Apokalypse aus dem 12. Jahrhundert gekommen sein (vergleiche dazu https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/TUIRHKPHARRCSEVINZGVHREHZAE6VVPE und https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/TUIRHKPHARRCSEVINZGVHREHZAE6VVPE#item-detail), weiter die Bamberger Apokalypse (vergleiche dazu https://www.staatsbibliothek-bamberg.de/article/die-bamberger-apokalypse-visionen-vom-ende-der-zeit/ und https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/AW2Q3HB3HMDBLAL7HG75O2E43BSL5SX7), Albrecht Dürers Holzschnittzyklus ›Die heimliche offenbarung johannis‹ von 1498  und seine apokalyptischen Reiter (vergleiche dazu https://germanprints.ru/reference/series/apocalypse/index.php?lang=de und https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/kunstwerke/Albrecht-Dürer/Die-apokalyptischen-Reiter/FD3AB77448DAB571422E10865442EDB2/) und schließlich auch ›Die Öffnung des fünften Siegels‹ von El Greco(vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Öffnung_des_fünften_Siegels),  ›Der Tod auf dem fahlen Pferd‹ von William Turner und  Rune Mields’ ›Apokalyptischen Zahlen‹ von 1993 (vergleiche dazu Christoph Zuschlag, die Johannes-Offenbarung in der Bildenden Kunst. In: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/5972/1/Zuschlag_Die_Johannes_Offenbarung_in_der_bildenden_Kunst_2013.pdf).

Wenn das stimmt, treffen in Melhus’ ›Offenbarung‹ die Visionen der Apokalypse auf Bilder aus der Kunstgeschichte, und diese wiederum auf Hoffnungs- und Zerstörungsbilder aus unserer Zeit. Infolgedessen spielt auch bei Melhus das weiße Lamm, das dazu ausersehen ist, die sieben Siegel der dem Apokalyptiker Johannes bei seiner Himmelsreise gezeigten Buchrolle zu öffnen, eine zentrale Rolle (vergleiche dazu und zum Folgenden Offenbarung des Johannes 5, 1–14 und Offenbarung des Johannes 6, 1–17). Die zu dem weißen, roten und schwarzen Pferd in der Offenbarung gehörigen Reiter fehlen dagegen. Nur der Tod als der Reiter des fahlen Pferds wird von Melhus visualisiert. Aber er wird nicht dem fahlen, sondern wohl aus ästhetischen Gründen dem schwarzen Pferd zugeordnet. Das Kreuz auf der Stirn der in strahlend weißen Gewändern erscheinenden Gerechten verweist auf ihre Taufe (vergleiche dazu Offenbarung des Johannes 7, 1–4).  Das Lamm wird ihr Hirte sein, sie zum frischen Wasser führen und Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen (Offenbarung des Johannes 7, 17). Schließlich werden nach den Wirren der Endzeit ein neuer Himmel und eine neue Erde sein und die heilige Stadt auf die Erde herabkommen. Der „Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: ›Siehe, ich mache alles neu!‹“ (Offenbarung des Johannes 21, 4 f.). 

Dass Melhus das himmlische Jerusalem wie Elon Musk in einer Kolonie aus einer Million immigrierten Erdlingen auf dem Mars verorten möchte und die Menschheit als eine biplanetare Art im Universum, ist wohl eher unwahrscheinlich (vergleiche dazu Guido Meyer, Der Mond ist für Elon Musk nur eine Fingerübung. In Gedanken ist er schon unterwegs zum Mars. In: NZZ vom 17.032024 – https://www.nzz.ch/wissenschaft/mars-mit-dem-starship-soll-die-menschheit-zu-einer-multiplanetaren-art-werden-ld.1821387). Die letzten Bilder seiner Videoinstallation ›Offenbarung‹ zeigen ein begrüntes Gebirge, in dem der Tod noch bis vor kurzem spazieren gegangen ist.

ham, 23. Juli 2024

Kommentare sind geschlossen.

COPYRIGHT © 2023 Helmut A. Müller