Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023, 2. Auflage 2023, ISBN-13: 9783803137371, 128 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Format 20,3 x 10,8 cm, Klappenbroschur, € 18,00

Der 1951 in Rom geborene Architekt, Architekturtheoretiker, Architekturhistoriker, Hochschullehrer und ehemalige Direktor des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt Vittorio Magnago Lampugnani ist durch sein Opus Magnum ›Die Stadt im 20. Jahrhundert‹ und seine Essays zu Stadt, Architektur und Design ›Die Modernität des Dauerhaften‹ aus demselben Jahr weit über Fachkreise hinaus bekannt geworden. Mit seiner 2023 in zweiter und 2024 in dritter Auflage erschienenen Streitschrift ›Gegen Wegwerfarchitektur‹ greift er den Faden seiner Essays zur ›Modernität des Dauerhaften‹ wieder auf und fragt nach einem Bauen, das sich mit Respekt und Zurückhaltung in unsere Welt einfügt und sich nicht mehr länger dem Konsumismus hingibt und damit dem Verbrauch von Gütern, für die es keinen Bedarf gibt außer dem Produktionsüberschuss der kapitalistischen Wirtschaft, den Überempfindlichkeiten von Kapitaleignern und dem Behauptungswillen der Verbraucher. 

Nach Vittorio Magnago Lampugnani verbraucht die Bauwirtschaft „weltweit immens viel Material, Energie und Landschaftsfläche. Sie produziert Berge von teilweise hochgiftigem Abfall. Und ist für einen Großteil jenes Ausstoßes von Kohlendioxid verantwortlich, der das Klima, den Planeten und unsere Existenz bedroht. In Zahlen: für knapp 40 Prozent des Energieverbrauchs, rund 50 Prozent der Emissionen von klimaschädlichen Gasen, 50 Prozent des Abfallaufkommens, 60 Prozent des weltweiten Ressourcenverbrauchs und 70 Prozent des Flächenverbrauchs“ (Vittorio Magnago Lampugnani S. 7).

Deshalb braucht es eine Abkehr von der auf Gewinnoptimierung ausgerichteten Wegwerfarchitektur, mehr als den derzeit gepflegten „Vermummungsfundamentalismus“ und die Beseitigung der Kollateralschäden; notwendig ist die Ausweitung des Betrachtungsperimeters, denn „das neue ökologische Bewusstsein ist blitzschnell von genau jenen wirtschaftlichen Kräften instrumentalisiert worden, die am kritischen Zustand unseres Planeten schuld sind. Das Haus ist nicht zeitgemäß isoliert? Dann reißen wir den Putz mitsamt der Fensterlaibungen herunter, kleben eine dicke Isolierung auf das Mauerwerk und putzen darauf neu. Die Fenster sind einfach verglast? Weg damit. Man könnte sie zwar aufdoppeln, aber das ist mühsame Schreinerarbeit, und neue Fenster mit Doppelverglasung oder besser noch Dreifachverglasung, die in entsprechend massigen und schweren Rahmen sitzt, sind die schnellere und technisch unangreifbarere Lösung. Die Heiztherme ist defekt? Ja nicht reparieren, und ab in die Deponie mit dem alten Ding: Moderne Geräte sind mit einer Turbovorrichtung versehen, effizienter und damit weniger umweltbelastend. Darüber, wie klein der Unterschied ist, und dass er in keinerlei Relation zum Aufwand steht, wird nicht geredet. Wer will schon angesichts der sich abzeichnenden Klimakatastrophe kleinlich sein? Der Konsumismus vereinnahmt die ökologische Argumentation und setzt sie für den eigenen Zweck ein: zu mehr Verbrauch nötigen. Die Politik sekundiert ihm mit entsprechenden Vorschriften und Normen. Beide argumentieren einseitig und tendenziös.

Eine ernsthafte Betrachtung der Nachhaltigkeit muss ganzheitlich sein: Sie muss über die Erfüllung pauschaler energetischer Vorgaben für einzelne Bauteile hinaus die Gesamtenergiebilanz von Errichtung, Betrieb und Abriss des Gebäudes in Augenschein nehmen. Je mehr bereits bestehende Substanz erhalten und wiederverwertet wird, je mehr regionale, umweltfreundliche Baustoffe zum Einsatz kommen und je weniger wertvolle Baustoffe im Lebenszyklus eines Gebäudes verbraucht werden, desto besser fällt sie aus. Daneben müssen Nutzungsfragen berücksichtigt werden, allen voran jene der Zwangsmobilität in den Siedlungsgebieten. Nicht zuletzt fällt der Verbrauch von Naturfläche ins Gewicht. Entscheidend für eine antikonsumistische Strategie der Nachhaltigkeit ist nicht nur, wie gebaut wird, sondern auch wo“ (Vittorio Magnago Lampugnani S. 32 f.).

In der Konsequenz fordert Lampugnani dazu auf, nicht mehr abzureißen und neu zu bauen, sondern rückzubauen, umzubauen, weiterzubauen, dauerhafter, dichter, ökologischer und weniger zu bauen, baulich zusammenzurücken und weniger Landschaft zu verbrauchen. Je länger ein Gebäude lebt und je weniger Landschaft es durch seinen Verkehrsanschluss braucht, desto ökologischer ist es. Die Fahrten, zu denen das Leben in Agglomerationen zwingt, kosten Pendler im europäischen Durchschnitt 12 bis 15 Stunden pro Monat je Pendler; ihre ökologische Bilanz ist gigantisch: 

„Etwa ein Viertel des Kohlendioxid-Ausstoßes in Europa geht zu Lasten des Verkehrs, davon über 60 Prozent zu Lasten des privaten Automobilverkehrs, der weit schädlicher ist als der gesamte öffentliche Verkehr, Flugverkehr eingeschlossen […]. Soll ernsthaft der Automobilverkehr reduziert werden, der nicht nur ein bedeutender Umweltsünder ist, sondern auch die primäre Lärmquelle in der Stadt und die vorrangige Ursache für tödliche Kinderunfälle, genügt es nicht, ihn zu verteuern […]. Der motorisierte Individualverkehr per se muss überflüssig gemacht werden […]. 

Dass die substantielle Verringerung des motorisierten Verkehrs alles andere als weltfremde Theorie ist, zeigen die Versuche in der 30-Kilometer-Stadt, die in Europa verschiedentlich durchgeführt werden. Besonders weit geht man in Barcelona, wo in mehreren Stadtvierteln Superblocks aus neun Stadtblöcken mit verkehrsberuhigten Straßen geschaffen werden, die sogenannten superilles. Jene, die von den Straßen del Consell de Cent, Rocafort, Comte Borell und Girona begrenzt werden, zeichnen sich durch erlesene Natur- und Kunststeinpflasterungen aus, die gestalterische Qualität der übrigen, weniger zentral gelegenen ist weniger überzeugend: doch die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 Stundenkilometer im Perimeter und auf 10 Stundenkilometer im Inneren des Superblocks senkt nicht nur die Unfallquote wesentlich, sondern erlaubt schmalere Fahrbahnen und kleinere Kurvenradien. Der öffentliche Raum wird primär dem Fußgänger gewidmet, die Wege werden leicht und angenehm, mehr Menschen verzichten auf das Auto und fahren mit dem Rad oder laufen. Es können mehr Straßenbäume gepflanzt werden, die dem Stadtklima zugutekommen. Überraschenderweise profitieren sogar die Automobilfahrer: Da es dank des geringeren und regulierteren Verkehrsaufkommens kaum mehr zu Verkehrsstaus kommt, brauchen sie, obwohl sie langsamer fahren, durchschnittlich für ihre Fahrten weniger Zeit“ (Vittorio Magnago Lampugnani S. 38 ff.).  

Ein Paradigmenwechsel im Immobilienmarkt wird unter den gegenwärtigen politischen und ökonomischen Bedingungen aber allein durch den Markt nicht erreichbar sein. „Der Markt reguliert die Stadt nicht nachhaltig: Der Markt verwandelt sie in ein ausschließlich gewinnorientiertes Unternehmen. Um ihre soziale und kulturelle Dimension zu bewahren, tut eine starke öffentliche Hand not. Sie muss die funktionalen und gesellschaftlichen Strukturen planen und realisieren, die soliden, energetisch sparsamen und umweltschonenden Bauten fördern, Leerstände unterbinden, sozial kompatible Nutzungen und Zwischennutzungen sowie die ihnen zugrunde liegenden Gemeinschaften unterstützen. Gutes Zureden wird bei den meisten Investoren nicht genügen: Es wird Vorschriften, Anreize und Sanktionen brauchen. Selbst Eingriffe in Privateigentum zugunsten gemeinschaftlicher Interessen werden nicht zu vermeiden sein. Sie sind gerechtfertigt: Das städtische Privatvermögen profitiert unmittelbar von den Investitionen und Infrastrukturen.

Ein drastischer Paradigmenwechsel im Bauen wie jener, der sich aus derlei Überlegungen ableitet, ist nur im Rahmen eines gleichermaßen drastischen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umdenkens vorstellbar. Er setzt eine Ökonomie voraus, die nicht blind auf schrankenloses Wachstum setzt […] und laut dem modernen Wirtschaftswissenschaftler und Mathematiker Nicholas Georgescu-Roegen unabdingbar ist, wenn man auf eine bioökonomische Entwicklung unserer Welt zusteuern will. Er geht von einer Gesellschaft aus, die freiwillig und bewusst ihre Ansprüche zurücknimmt, um die Erde nicht hemmungslos zu plündern und unwiederbringlich zu zerstören […]. Der Planet ist sehr wohl in der Lage, all seinen Bewohnern ein Heim zu bieten, wenn wir bereit sind, unseren privaten Verbrauch zugunsten des allgemeinen Wohlstands zu reduzieren“ (Vittorio Magnago Lampugnani S. 107 ff.).

In Stuttgart hat in den 1920er Jahren eine neue Baugesinnung von Architekten wie Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohe, Mart Stam und Hans Scharoun zur Weißenhofsiedlung geführt. Heute steht ein ähnlicher Paradigmenwechsel an.  „Am Anfang muss die vertiefte , kenntnisreiche und präzise Auseinandersetzung mit den neuen Anforderungen stehen. Dann müssen diese Anforderungen architektonisch, ja künstlerisch interpretiert werden: mit jeder Kreativität, die  vielleicht die wichtigste nachwachsende Ressource unseres Planeten ist. Attraktive Ansätze bieten sich genug. Einfache Volumina mit kräftigen Mauern als Speichermasse sowie zur Reduktion der Wärmeverluste und der Überhitzung. Moderate, sorgfältig platzierte Fensteröffnungen für einen haushälterischen Umgang mit Heiz- und Kühlenergie. Geradlinige, handwerklich solide, materialgerechte Konstruktionen aus möglichst natürlichen und nachwachsenden Baustoffen, unbehandelt belassen und damit unmittelbar sinnlich wirksam. Kombinationen, gar Kompositionen von alten und neuen Elementen. Kultivierter Einbezug von brauchbarer Bausubstanz. Eine substantielle, zurückhaltende, klassische Ästhetik, die über lange Zeiträume hinweg Gültigkeit besitzt. All dies sind Grundlagen, welche die Chance eines neuen architektonischen Stils bergen“ (Vittorio Magnago Lampugnani S. 111 f.).

ham, 15. Mai 2024

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