Übersetzt von Michael Schiffmann
Westend Verlag, Frankfurt a. M., 2023, ISBN 978-3-8648- 93919, 702 Seiten, Klappenbroschur,
Format 21,5 x 13,5 cm, € 44,00 (D) / € 45,30
Von Qualitätsmedien wie den öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsendern, der Wochenzeitung ›Die Zeit‹ und Tageszeitungen wie der ›Süddeutsche Zeitung‹, der ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹ und der ›Neuen Zürcher Zeitung‹ erwartete man, dass sie über die Wirklichkeit und nicht über die gewünschte Wirklichkeit berichten, jeden Anflug eines Sensations-, Wut- oder Hassjournalismus vermeiden und das politische Spektrum in seiner ganzen Breite zu Wort kommen lassen.
Nach der Lektüre des 1988 in Amerika unter dem Titel ›Manufacturing Consent‹ erschienen und jetzt endlich auf deutsch vorliegenden Klassikers zur massenmedialen Meinungsmache fragt man sich allerdings, ob sich die Abhängigkeit der Medien von ihren Eignern, ihren Werbekunden und den herrschenden monetären, wirtschaftlichen und politischen Klassen nicht doch auch ansatzweise in den Qualitätsmedien zeigt. Für Amerika haben der Sprachwissenschaftler, politische Publizist und Aktivist Noam Chomsky (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Noam_Chomsky), der Ökonomen Edward S. Herman (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Edward_S._Herman) und andere zwingend nachgewiesen, dass selbst führende Tageszeitungen wie ›The New York Times‹ und das Nachrichtenmagazin ›TIME‹ in ihrer Berichterstattung über legitimierende und bedeutungslose Wahlen in El Salvador, Guatemala und Nicaragua, das Attentat auf Papst Johannes Paul II. und die Indochinakriege in Vietnam, Laos und Kambodscha weitgehend den von den Geld- und Machteliten vorgegebenen Auffassungen gefolgt sind.
Edward S. Hermann (1925 – 2017) war zuletzt Professor emeritus of Finance an der Wharton School der University of Pennsylvania. Noam Chomsky ist von einer Vielzahl von Universitäten mit Ehrendoktorwürden, Preisen wie dem Kyoto-Preis und dem Erich-Fromm-Preis und Mitgliedschaften in der American Akademie of Arts and Sciences, der National Academy of Sciences, der Leopoldina, der British Academy, der Academia Europea und der American Philophical Society geehrt worden. Er wird am 7. Dezember 2023 95 Jahre alt.
Das von Herman und Chomsky für die Analyse der Massenmedien vorgeschlagene Propagandamodell konzentriert sich auf die Mechanismen, die in der Lage sind, die Nachrichten herauszufiltern, die es wert sind, gedruckt zu werden und andere zu marginalisieren. Propaganda ist in dem Modell mit Techniken und Methoden assoziiert, „die in liberal-kapitalistischen Demokratien längst zum Allgemeingut geworden sind, und zwar unter Bezeichnungen wie ›Public Relations‹, ›Öffentlichkeitsarbeit‹ oder ›Strategische Kommunikation‹ […]. Propaganda war […] bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts positiv besetzt und wurde als zentraler Bestandteil funktionierender Demokratien angesehen […]. Welches sehr elitäre Konzept von Demokratie damit verbunden war, verdeutlichen Auszüge aus einflussreichen Büchern renommierter Akteure. So beschrieb Edward Bernays, der Neffe Sigmund Freuds und einer der Begründer modernen PR, 1928 in seinem Standardwerk Propaganda entsprechende Methoden, die heute als Technik der PR oder Werbung gelten, und legitimierte dies wie folgt: ›Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. […] Wenn viele Menschen möglichst reibungslos in einer Gesellschaft zusammenleben sollen, sind Steuerungsprozesse dieser Art unumgänglich‹ (Bernays 2007 [1928]) […].
Auch der liberale US-Politologe Harold D. Lasswell, nebenbei einer der Gründerväter der Kommunikationswissenschaft, machte aus seinen Zweifeln an der Vernunft der Bürger keinen Hehl. 1934 schrieb er: ›Der moderne Propagandist erkennt, genau wie der moderne Psychologe, an, dass Menschen oft schlechte Entscheidungen hinsichtlich ihres eigenen Wohlergehens treffen und sich oft von einer Alternative auf die nächste verlegen, ohne dafür einen triftigen Grund zu haben.‹ (zit. n. Weaver et al. 2006, S. 9, Übers. d. Verf.).
Es ist offensichtlich, dass sich Herman und Chomsky bei ihrer Verwendung des Propagandabegriffs in kritischer Weise auf diesen liberalen Diskurs über Propaganda als vermeintlich legitime Technik zur Lenkung der Massen beziehen“ (Uwe Krüger / Holger Pötzsch / Florian Zollmann, Medienkritik materialistisch. Das Propagandamodell von Herman und Chomsky, S. 20 ff.).
Die Massenmedien dienen der Vermittlung von Botschaften und Symbolen an die Bevölkerung als Ganzes. „Sie sollen belustigen, unterhalten und informieren sowie den einzelnen die Werte, Meinungen und Verhaltensweisen vermitteln, die sie in den institutionellen Strukturen der Gesamtgesellschaft integrieren. […] In Ländern, in denen die Macht in den Händen einer staatlichen Bürokratie liegt, ist die durch den monopolistischen Charakter der Kontrolle über die Medien (zu dem oft noch eine offizielle Zensur hinzukommt) von vorneherein klar, dass diese den Zielen einer herrschenden Elite dienen. In Ländern, in denen die Medien sich in Privatbesitz befinden und in denen es keine formelle Zensur gibt, ist die Tatsache, dass auch dort ein Propagandasystem am Werk ist, wesentlich schwieriger zu erkennen“ (Edward S. Herman / Noam Chomsky S. 129). Dabei werden Faktoren wie der begrenzte Charakter der von den Medien geübten Art von Kritik, die enorme soziale Ungleichheit in der Kontrolle über mediale Ressourcen und die Auswirkung von beiden auf den Zugang zu einem privaten Mediensystem und auf dessen Funktionsweisen kaum diskutiert. Deshalb konzentriert sich das von Herman und Chomsky vorgeschlagene Propagandamodell auf die Ungleichheit von Reichtum und Macht und die vielfältigen Auswirkungen, die sie auf die Interessen und Entscheidungen derer hat, die über die Massenmedien bestimmten (vergleiche dazu und zum Folgenden Edward S. Herman / Noam Chomsky S. 130).
Es geht von folgenden Filtern aus, die Nachrichten passieren müssen, bevor sie in den Medien zur Sprache kommen:
„Diese Elemente interagieren miteinander und verstärken sich gegenseitig. Das Rohmaterial der Nachrichten muss zuerst die aufeinander folgenden Filter passieren, die dann den gesäuberten Rest übriglassen, der ›es wert ist, gedruckt zu werden‹. Sie legen die Prämissen von Diskursen und Interpretationen sowie die Definition dessen fest, was überhaupt als berichtenswert gilt und sie erklären die Grundlagen und Funktionsweisen einer Berichterstattung, die häufig die Form von Propagandakampagnen annimmt“ (Edward S. Herman / Noam Chomsky a. a. O.).
Der erste große Filter, der die Auswahl von Nachrichten beeinflusst, sind die dominierenden Medienfirmen, die von sehr vermögenden Personen oder Managern kontrolliert werden, „die ihrerseits starken Beschränkungen durch die Eigentümer und weitere markt- und profitorientierte Kräfte unterworfen sind. Ferner unterhalten sie enge Querverbindungen zu anderen großen Unternehmen und Banken und dem Staat, mit denen sie wichtige gemeinsam Interessen teilen“ ((Edward S. Herman / Noam Chomsky S. 145).
Die Medien wenden sich wie schon im 19. Jahrhundert nicht an die Arbeiterklasse, sondern an ihre Werbekunden. „Ein auf der Werbung aufgebautes System wird daher tendenziell die Medienunternehmen und –typen, die ausschließlich vom Verkaufserlös abhängig sind, entweder ganz aus dem Markt oder in eine marginale Position drängen. Kombiniert mit Werbung ist das Ergebnis des freien Marktes keineswegs ein neutrales System, in dem der Endkonsument entscheidet. Die Entscheidungen der Werbekunden haben einen großen Einfluss auf Prosperität und Überleben der Medien […]. Kurz, die Massenmedien möchten ein kaufkräftiges Publikum anziehen, nicht ein Publikum per se […]. Der große Einfluss der Werbekunden auf die Fernsehprogramme ergibt sich allein schon daraus, dass sie die Sendungen kaufen und für sie bezahlen – sie sind die ›Mäzene‹, die die Subventionen der Medien stellen […]. Für einen nationalen Fernsehsender bedeutet ein Publikumszuwachs oder -verlust von einem Prozent in den Nielsen-Ratings einen jährlichen Unterschied in den Werbeeinnahmen von 80 bis 100 Millionen Dollar“ (Edward S. Herman / Noam Chomsky S. 146 ff.).
Die Suche nach verlässlichen, zuverlässigen und wirtschaftlich günstigen Quellen für die täglich zu liefernden Nachrichten konzentriert sich auf das Weiße Haus, das Pentagon und das Außenministerium in Washington und auf lokaler Ebene auf das Rathaus und die Polizei. Dazu kommen die Unternehmen und Branchenverbände. Die Beziehung zwischen Macht und der Herkunft von Nachrichten geht über die von Staat und Unternehmen gelieferte Nachrichten hinaus und erstreckt sich auch auf das spezifische Angebot von ›Experten‹, die für die gewünschten Expertisen ausgesucht werden.
Angriffe auf die Medien als vierter Filter können sowohl unbequem als auch kostspielig werden. „Die Fähigkeit zur Produktion von Flak, besonders solcher, die bedrohliche ist und finanziell wehtut, hat sehr viel mit Macht zu tun. Der wachsende Widerwille der Unternehmer gegenüber Kritik seitens der Medien und die Unternehmeroffensive der 1970er und 1980er Jahre waren von einem parallelen Wachstum von ernsthafter Flak begleitet […]. Die unterschiedlichen Produzenten von Flak […] stärken mit ihrem Nachrichtenmanagement das Kommando der politischen Autorität. Der Staat selbst ist einer der Hauptproduzenten von Flak und attackiert und bedroht (bzw. ›korrigiert‹) die Medien mit schöner Regelmäßigkeit, um jede Abweichung von der etablierten Linie zu verhindern. Das Management der Nachrichten selbst ist darauf angelegt, Flak zu produzieren. In den Reagen-Jahren wurde der Präsident häufig im Fernsehen gezeigt, um Millionen mit seinem Charme zu beglücken, von denen dann wiederum viele die Medien beschimpften, wenn sie es wagten, den ›Großen Kommunikator‹ zu kritisieren“ (Edward S. Herman / Noam Chomsky S. 163 ff.).
Der Fünfte und letzte Filter „ist die Ideologie des Antikommunismus. Der Kommunismus war schon immer das Gespenst, das die Besitzer von Privateigentum gequält hat, da er die ureigensten Wurzeln des Privateigentums bedroht. Die Revolutionen in Russland, China und Kuba waren für die westlichen Eliten ein Trauma und die fortgesetzten Konflikte mit den kommunistischen Staaten sowie deren wohldokumentierte Machtmissbräuche haben dazu beigetragen, die Feindschaft gegenüber dem Kommunismus zu einem unverrückbaren Prinzip der westlichen Ideologie und Politik zu machen […]. Der antikommunistische Kontrollmechanismus durchzieht das ganze System und übt einen tiefgreifenden Einfluss auf die Massenmedien aus“ ((Edward S. Herman / Noam Chomsky S. 167 ff.).
Im Ergebnis kommen Herman und Chomsky zu dem Schluss, dass die Massenmedien in den Vereinigten Staaten effektive und mächtige ideologische Institutionen sind, „die eine systemschützende propagandistische Funktion erfüllen, indem sie sich auf Marktkräfte, internalisierte Prämissen und Selbstzensur stützen, ohne dass dabei viel offener Zwang ins Spiel kommt. Im Lauf der letzten Jahrzehnte ist dieses Propagandasystem mit der Etablierung der nationalen Fernsehsender, der verstärkten Konzentration der Massenmedien, dem Druck der Rechtskonservativen auf den öffentlichen Rundfunk sowie der gewachsenen Reichweite und Ausgereiftheit der Public-Relations-Industrie und des Nachrichtenmanagements noch effizienter geworden. Aber dieses System ist nicht allmächtig. Die Herrschaft von Staat und Eliten reichte nicht aus, der Bevölkerung das Vietnamsyndrom und die Opposition gegen eine direkte Beteiligung an der Destabilisierung und den Sturz fremder Regierungen auszutreiben […]. Auf lange Sicht gesehen erfordert eine demokratische politische Ordnung eine viel weitreichendere öffentliche Kontrolle über die Medien und einen viel breiteren Zugang zu ihnen. Eine ernsthafte Diskussion darüber, wie eine grundlegende Reform der Medien in die jeweiligen politischen Programme eingebaut werden kann, sollte auf jeder progressiven Agenda ganz oben stehen“ (Edward S. Herman / Noam Chomsky S. 634 ff.).
Das während des Kalten Kriegs entwickelte Filter-Modell wurde später modifiziert, um es an andere Länder, Branchen und an die digitale Entwicklung anzupassen (vergleiche dazu und zum Folgenden ›Medienkritik materialistisch‹, a. a. O. S. 32 f.). So wurde der Filter ›Antikommunismus‹ im Jahr 2000 durch den Filter ›Neoliberalismus‹ ersetzt. Nach 9 /11 wurde ›Krieg gegen den Terror‹ als sammelnde Ideologie zur Legitimation von Militäreinsätzen vorgeschlagen. Ein sechster Filter ›Ankauf der Journalisten oder ihrer Veröffentlichungen durch Geheimdienste und ähnliche Interessengruppen‹ sollte die Beeinflussung der Journalisten, ein ›System Security-Filter‹ die Sicherheitsinteressen des Staates einfangen. Schließlich kam die Frage auf, wie Frauen-, Fremden- und LGBTQ-Feindlichkeit und Diskriminierung, Rassismus, Sexismus sowie die Forschung zur Intersektionalität, zum Feminismus und zu den postkolonialen Diskursen an das Modell angeschlossen werden könnten.
ham, 9. November 2023