C.H.Beck Wissen 2906, C.H.Beck-Verlag, München 2020, ISBN 978-3-406-75018-2, 128 Seiten, mit sechs Abbildungen und einer Karte, Broschur, Format 18 x 11,8 cm, € 9,95
Längst nicht alle Evangelien, die zur Zeit der Bibelentstehung bekannt waren, sind in das Verzeichnis der Schriften des Neuen Testaments eingetragen und in den Kanon aufgenommen worden. Die neben den vier Evangelien des Neuen Testaments seit früher Zeit verfassten weiteren Schriften über Jesus und Personen aus seinem näheren Umfeld werden häufig als »apokryphe«, also als »verborgene« Evangelien bezeichnet (von griechisch apókryphos). Sie sind heute in diversen Ausgaben gut zugänglich und bereichern das Jesusbild.
Für Jens Schröter, den Inhaber des Lehrstuhls für Exegese und Theologie des Neuen Testaments sowie die antiken christlichen Apokryphen an der Humboldt-Universität zu Berlin, zeigen apokryphe Evangelien, „dass sich das Christentum über die Evangelien hinaus intensiv mit dem Leben Jesu beschäftigt hat: mit seiner Geburt und Kindheit, seiner Familie, seinem Wirken und seiner Lehre, mit Tod und Auferstehung sowie mit seinen Erscheinungen und Belehrungen als Auferstandener. Manche dieser Schriften haben die Frömmig-keitsgeschichte tief geprägt. Sie sind in viele Sprachen übersetzt, fortgeschrieben und ikonographisch umgesetzt worden. Andere sind dagegen aus dem christlichen Überlieferungsstrom verschwunden und erst in neuerer Zeit wiederentdeckt und veröffentlicht worden. In all ihrer Unterschiedlichkeit stellen die apokry- phen Evangelien dabei die vier in das Neue Testament gelangten Evangelien auf eine breitere Basis von Deutungen der Person Jesu“ (Jens Schröter S. 15; vergleiche dazu das Mosaik vom Kindermord des Herodes im Triumphbogen von Santa Maria Maggiore in Rom aus dem fünften Jahrhundert: https://de.wikipedia.org/wiki/Kindermord_in_Bethlehem#/media/Datei:RomaSantaMariaMaggioreArcoTrionfaleSxRegistro3.jp. Dargestellt ist eine Szene, in der israelitische Frauen ihre Kinder an die römischen Soldaten übergeben. Links thront Herodes. Am rechten Bildrand wendet sich Elisabeth mit Johannes auf dem Arm ab. Diese Episode wird nicht im Matthäusevangelium, wohl aber im Protoevangelium des Jakobus erzählt).
Die apokryphen Evangelien waren bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen durch Erwähnungen und Zitate bei antiken christlichen Theologen sowie einige Manuskripte bekannt und werden seither erforscht. 1898 wurden in Oberägypten bei dem historischen Ort Oxyrhynchus mehrere Tausend Papyri, 1945 bei Nag Hammadi dreizehn Codices in koptischer Sprache und darunter einige apokryphe Evangelien entdeckt. Darüber hinaus sind zahlreiche Fragmente mit Jesusüberlieferungen, zumeist in griechischer oder koptischer Sprache, an unterschiedlichen Orten aufgefunden worden. Aber die seit Gotthold Ephraim Lessing vermutete Vorstellung, dass die apokryphen Evangelien näher an ein ›Evangelium der Nazarener‹ heranführen könne, hat sich verflüchtigt. Sie ist inzwischen der nüchternen Einordnung der Apokryphen in die Geschichte des Christentums gewichen (vergleiche dazu Jens Schröter S. 18 f.).
„Ob eine Schrift in das Neue Testament gelangt ist oder nicht, kann selbstverständlich nicht die Frage nach ihrem historischen Wert bzw. nach dem Alter der in ihr enthaltenen Überlieferung beantworten. Was ein frühchristlicher Text zur Rekonstruktion des Wirkens Jesu beiträgt, ist deshalb unabhängig davon, ob es sich um einen kanonischen oder einen apokryphen Text handelt. Apokryphe Texte können historisch zuverlässige Informationen enthalten, umgekehrt finden sich auch in neutestamentlichen Texten legendarische Überlieferungen, die für die historische Frage nach Jesus nichts oder nur wenig beitragen (etwa die Geburts- und Kindheitserzählungen des Matthäus- und Lukasevangeliums). Die Frage nach dem historischen Wert der apokryphen Texte kann […] nur mit Blick auf jeden einzelnen Text beantwortet werden [… ]. In einigen Fällen ist es […] durchaus möglich, mitunter sogar wahrscheinlich, dass apokryphe Schriften alte Jesusüberlieferungen enthalten. Der narrative Rahmen, in den diese Überlieferungen eingebunden sind, verdankt sich jedoch den in das Neue Testament gelangten Evangelien […]. Damit ist kein Werturteil […] formuliert. Deren Bedeutung für die Christentumsgeschichte liegt […] nicht darin, dass sie neue historische Erkenntnisse über Jesus zutage fördern […]. Vielmehr handelt es sich um wichtige Zeugnisse für die Vielfalt der Interpretationen Jesu und der sozialen und kulturellen Welt des Christentums“ (Jens Schröter S. 19).
Dieser Vielfalt geht Schröter in den Kindheitserzählungen unter anderem anhand des Protoevangliums des Jakobus, der Kindheitserzählungen des Thomas und weiterer Kindheitsevangelien, im Wirken Jesu anhand des Hebräer-, Nazoräer-, des Ebioniter- und des Ägypterevangeliums sowie diverser Papyri und Fragmente und in den Überlieferungen über das Leiden und den Tod Jesu anhand des Petrus-, des Judas-, des Unbekannten Berliner und des Nikodemusevangeliums, der Pilatusakten und des Straßburger koptischen Papyrus und des Papyrus Vindobonensis Graecus 2325 nach. Die Lehre des auferstandenen und lebendigen Jesus wird durch die Epistola Apostolorum, das Mariaevangelium, die Weisheit Jesu Christi, den Dialog des Erlösers, das Thomasevangelium und weitere Schriften ergänzt.
Nach Schröter bilden die apokryphen Evangelien keine Einheit. „Es handelt sich vielmehr um eine Vielfalt von Texten, die in ganz unterschiedlicher Weise auf Leben, Wirken und Lehre Jesu Bezug nehmen und ganz unterschiedlichen literarischen Genres zugehören: Legenden über das Jesuskind; Erzählungen über Jesu Wirken und Leiden, die sich mit den neutestamentlichen Evangelien berühren, aber auch von ihnen abweichen oder über sie hinausgehen können; philosophische Lehren über die Entstehung der Welt, die Erschaffung des Menschen und den Aufstieg der Seele in den göttlichen Bereich; Meditationen über die Bedeutung des Kommens Jesu in die Welt und anderes mehr. Die apokryphen Evangelien weisen demnach eine deutlich größere Bandbreite an Deutungen Jesu und seiner Lehre auf, als sie in den Evangelien des Neuen Testaments anzutreffen ist. Die Bezeichnung ›Evangelium‹ ist dabei in einem weiteren Sinn zu verstehen. Sie bezieht sich nicht nur auf Jesuserzählungen, sondern auf ganz verschiedene Texte, deren Gemeinsamkeit in dem Anspruch besteht, relevante Kenntnisse über Jesus, seinen Weg und seine Lehre zu vermitteln …
Dadurch erweitern sie das biblische Jesusbild und fordern es durch konkurrierende Darstellungen heraus.
Die apokryphen Evangelien sind deshalb unverzichtbarer Bestandteil einer heutigen Beschäftigung mit der Wirkungsgeschichte Jesu von Nazareth“ (Jens Schröter S. 122 f.).
ham, 1. Mai 2023