BoD – Books on Demand. Norderstedt, 2021, ISBN 978-3-7543-9917-0, 208 Seiten, 3 Abbildungen, Broschur, Format 22 x 15,5 cm, € 15,00 (D) / 21,90 CHF
In Deutschland zählen Krimis zu den meistverkauften Büchern und populärsten Filmen. Krimis machen derzeit 48 Prozent, also fast die Hälfte des Fictionkonsums aus. 2021 lag ›Stubbe – Tödliche Hilfe‹ mit einem Marktanteil von 28,1 Prozent und 9,4 Millionen Zuschauern an der Spitze. „Auf Platz zwei folgt die ZDF-Reihe „Nord Nord Mord“ (27,5 Prozent Marktanteil und 8,6 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer im Schnitt) mit der knorrig-wortkargen Nord-Ikone Peter Heinrich Brix. Nur auf Platz drei der „Tatort“: Manche Filme aus der ARD-Krimireihe erzielen zwar sagenhafte Spitzenquoten von bis zu mehr als 14 Millionen Zusehern – besonders wenn sie aus Münster kommen, wo Jan Josef Liefers und Axel Prahl als Ermittlerduo Fälle lösen. Im Schnitt brachte es der „Tatort“ 2021 aber „nur“ auf den beachtlichen Wert von knapp 8,4 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern und einen Marktanteil von 25,2 Prozent“ (Martin Weber, Krimis auf allen Kanälen. Vergleiche dazu https://www.rnd.de/medien/krimis-auf-allen-kanaelen-im-deutschen-tv-wird-so-viel-gemordet-wie-nie-zuvor-X4WU67OPGZA23CFVV6DIKOHTKA.html). Das ZDF ist beim Krimiprogramm Marktführer (vergleiche dazu das Interview ›Die Deutschen lieben Krimis‹ von Claude Tieschky mit Intendant Norbert Himmler in der Süddeutschen Zeitung Nr. 14, Seite 19 vom 18. Januar 2023).
Von einer ähnlichen Resonanz kann der 1949 in Lauffen am Neckar geborene Pionier der DNA-Analyse Werner Pflug bei der Veröffentlichung seiner Publikation ›Verräterische Gene‹ nur träumen. Dafür spielen die von ihm berichteten sechs Fälle aus dem Tagesgeschäft des Landeskriminalamts Stuttgart aber im richtigen Leben. Pflug hat an der Universität Stuttgart-Hohenheim Biologie mit Schwerpunkt Mikro- und Molekularbiologie studiert, mit einer Promotion zum Thema Vitamin-B6-Biosynthese abgeschlossen. Bei einem parallelen Medizinstudium bis zum Physikum ist er zufällig auf eine Stellenausschreibung des Landeskriminalamts im Bereich Medizin/Biologie gestoßen. Er hat sich beworben und 1979 eine Stelle als Mitarbeiter am Kriminaltechnischen Institut des LKA angetreten. Neben der Einarbeitung in das vorhandene Methodenprogramm begann er, Enzym- und andere Proteinsysteme in das bestehende Methodenspektrum zu integrieren. Damit verbesserte sich der Beweiswert der Befunde in vielen Fällen um den Faktor 50 bis 100.
1984/5 konnte er mit seinen neu eingeführten Methoden Wesentliches zur Identifizierung des sogenannten Hammermörders beitragen: Norbert Poehlke, ein Polizeiobermeister und Diensthundeführer der Landespolizeidirektion Stuttgart II hatte sich bei einem Hausbau hoch verschuldet (vergleiche dazu und zum Folgenden https://de.wikipedia.org/wiki/Norbert_Poehlke). 1984 starb seine vierjährige Tochter an einem Gehirntumor. Kurz danach begann eine Serie von drei Raubmorden und vier Banküberfällen, bei denen der Mörder seinen Zufallsopfern an abgelegenen Parkplätzen auflauerte und sie mit seiner Dienstwaffe Walther P5 durch einen Schuss in den Kopf erschoss, um an ihre Fahrzeuge zu kommen. Mit den erbeuteten Autos fuhr er zu Bankfilialen, zog sich eine Maske über, zertrümmerte die Scheibe vor der Kasse mit einem schweren Vorschlaghammer und verlangte Lösegeld. Als er realisiert hatte, dass ihm seine Kollegen auf der Spur waren, erschoss er seine Frau, zwei seiner Söhne und seinen Hund. Mit seinem jüngsten Sohn flüchtete er mit seinem Privatauto über die Autobahn in die süditalienische Küstenstadt Brindisi und tötete schließlich am 22. Oktober1985 seinen jüngsten Sohn im Hafenort Torre Canne mit einem Schuss ins Gesicht und sich selbst mit einem Kopfschuss (vergleiche dazu https://www.landesarchiv-bw.de/de/themen/praesentationen—themenzugaenge/72381).
1989 konnte Pflug erstmals ein schweres Sexualdelikt mittels DNA-Analyse von Sperma-Spuren aufklären, die er mit radioaktivem Material auf einem Röntgenfilm sichtbar gemacht hatte (vergleiche dazu https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Ermittlungsunterstuetzung/Kriminaltechnik/Biometrie/DNAAnalytik/dnaAnalytik_node.html). Da der Nachweis im ›nicht codierten Bereich‹ des Erbmaterials erfolgte, konnte der Vorwurf, die DNA-Analyse sei das Tor zum ›gläsernen Menschen‹, von vornherein entkräftet werden. Die Methode galt nach mehr als zweijährigen Vorarbeiten spätestens im Juli 1989 als ausgereift und hat in der Praxis häufiger zur Entlastung als zur Belastung der jeweiligen Tatverdächtigen geführt. Der vorsitzende Richter hat diesen Umstand bei seiner Urteilsbegründung als außergewöhnlich gewürdigt, „weil erstmals die Ergebnisse von ausschließlich in deutschen Laboratorien durchgeführten DNA-Untersuchungen vom Kriminaltechnischen Institut des Landeskriminalamts in Stuttgart und später von einem rechtsmedizinischen Institut zu beurteilen gewesen seien. So habe die Staatsanwaltschaft also zum ersten Mal die Herstellung eines ›genetischen Fingerabdrucks‹ beim Landeskriminalamt in Stuttgart beantragt. Und als im November 1989 der Bescheid aus Stuttgart gekommen sei, dass die Merkmale der Spermaspur mit den Merkmalen des Tatverdächtigen … übereinstimmten, sei der jetzt Verurteilte verhaftet worden. Der Kammer hätten zwar auch noch andere Tatnachweise vorgelegen, doch die Richter hätten eingeräumt, dass sie nicht wüssten, wie sie ohne DNA-Analyse hätten entscheiden sollen.
Das Urteil lautete auf Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Den Vorwurf des versuchten Mordes hielt der Staatsanwalt … für nicht erwiesen. Der Angeklagte wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt. Am Tag nach der Urteilsverkündung war in einem Presseartikel der örtlichen Zeitung zu lesen:
›DNA gab den Ausschlag!‹. So hatte sich der Kreis meines ersten DNA-Gutachtens von den anfänglichen Untersuchungsschritten Mitte 1989, dem abschließenden DNA-Gutachten im Dezember 1989 bis zur Verurteilung des Täters nach knapp zwei Jahren geschlossen. Dieser Fall war der Start für eine einzigartige Erfolgsgeschichte der DNA-Analyse zur Aufklärung von Straftaten über alle Deliktbereiche hinweg – vom Diebstahl bis hin zu schwersten Tötungsdelikten“ (Werner Pflug S.50).
Anfang der 1990er Jahre hat Pflug das Nachweisverfahren des LKA auf ein nicht radioaktives Chemilumineszens-Verfahren umgestellt und dadurch die Nachweisempfindlichkeit entscheidend verbessert. „Tatsächlich war diese so hoch, dass für ein sichtbares Signal auf einem Röntgenfilm sogar eine äußerst geringe DNA-Menge als Kopiervorlage (im billionstel Gramm-Bereich) für die Vermehrungsprozedur der DNA“ in der Polymerase-Ketten-Reaktion ausreichte (Werner Pflug S. 68, vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Polymerase-Kettenreaktion#Forensik,_Paläontologie_und_Biologische_Anthropologie und dort das Anwendungsbeispiel 5.3 Forensik). Mit PCR-Analysen konnte er jetzt auch Mikroblut- und Hautabriebspuren Tätern zuordnen und damit zur Aufklärung diverser schwerster Verbrechen und noch ungeklärter alter Mordfälle beitragen. Die Methode wurde vom Bundesgerichtshof für die Beweisführung akzeptiert und war somit als Methode für Tatnachweise zugelassen.
Die Publikation erinnert mit ihrer Darstellung von weiteren Fällen in ihrer gesamten Breite vom Tathergang bis zur Gerichtsverhandlung und ihrer Aufklärung durch DNA-Analysen an entscheidende Fortschritte in der Forensik: Mit der DNA-Analyse verfügte die Polizei über völlig neue Methoden mit einer großen Aussagekraft und einem hohen Beweiswert. Die Überführung der Ergebnisse dieser Methode in Gutachten, die so gut wie keinen Interpretationsspielraum mehr offen lassen, war geradezu revolutionär.
Dies wurde auch bei der Aufklärung eines Mordes an einer Frau mittleren Alters deutlich, deren Torso verkohlt und deren Kopf und Hände abgetrennt waren, um ihre Identität zu verschleiern. Über Spuren von Vaginalsekret im Schrittbereich ungewaschener Unterwäsche aus ihrer Wohnung, dem Vergleich mit der DNA des Torsos und Blutproben ihrer beiden Schwestern konnte ihre Identität ermitteln werden. Winzige bräunliche Antragungen am Stil einer Axt, am Fahrersitz und im Kofferraum des Autos, mit dem die Leiche an den Fundort transportiert worden war, und im Siphon eines Metallwaschbeckens gefundene kurze Haarbüschel des Opfers haben ausgereicht, die Tat dem Täter zuzuordnen.
Beim Prozess vor der amerikanischen Militärjustiz im März 1993 wurde Pflug unter anderem gefragt, wann er mit der neuen DNA-Methode der Polymerase Kettenreaktion (PCR) begann. „›Wir führten schon 1990 eine Populationsstudie an 340 nicht verwandten Personen durch, um die statistischen Häufigkeitswerte der verschiedenen Längenvarianten (sogenannte Allele) des ApoB-Merkmalsystems [vergleiche dazu https://en.wikipedia.org/wiki/Apolipoprotein_B] zu bestimmen. Damals waren 14 Längenvarianten innerhalb der weißen Bevölkerung bekannt. Die Ergebnisse haben wir 1990 auf der ersten internationalen DNA-Konferenz, DNA-Fingerprinting, in Bern vorgestellt.‹ – ›Wann haben sie dieses ApoB-Merkmal dann erstmals in der Fallarbeit eingesetzt?‹ – ›Wir haben in meiner Arbeitsgruppe bereits parallel zum RFLP-Verfahren (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Restriktionsfragmentlängenpolymorphismus) PCR-Analysen des ApoB-Merkmals durchgeführt. Dabei standen die Ergebnisse der beiden Methoden immer im Einklang‹. ›In wie vielen Fällen haben Sie dieses ApoB-Merkmal bis heute angewandt?‹ – ›In ungefähr 110 Fällen. Da wir pro Fall oft mehrere Spuren untersuchen, liegt die Anzahl der einzelnen Untersuchungen bei circa 4000.‹ – ›Ihrem Gutachten habe ich entnommen, dass Sie ganz geringe, mit dem Auge nicht mehr sichtbare Blutspuren in dem hier zu verhandelnden Fall untersucht habe. Ist das hier der erste derartige Fall?‹ – ›Nein, wir haben bereits Mitte 1991 in einem sexuell motivierten Mordfall an mikroskopisch kleinen Blutspuren das ApoB-Merkmalsystems mittels PCR-Analyse untersucht. Die PCR-Produkte haben wir mit einer selbst entwickelten, hochsensitiven, nicht radioaktiven Nachweismethode sichtbar gemacht. Die Ergebnisse trugen maßgeblich zur Verhaftung und späteren Verurteilung des Beschuldigten bei. Das neue PCR-Verfahren wurde damals vom deutschen Bundesgerichtshof als zulässig bestätigt.‹“ (Werner Pflug S. 115 f.).
Zu Beginn seiner Tätigkeit beim LKA Stuttgart standen Werner Pflug beim Landeskriminalamt in Stuttgart noch kein funktionstüchtiges Isotopenlabor und nur drei Mitarbeiterinnen zur Verfügung. Deshalb musste er für die radioaktiven Arbeiten bei seinen BKA-Kollegen/-innen Unterschlupf finden. 2005 wurden dann wesentliche Schritte der DNA-Analyse automatisiert und elektronisch vernetzt. Als Pflug 2014 in Pension ging, hatte er 60 Mitarbeiter/-innen, darunter 36 Assistent/-innen, 22 promovierte Akademiker/-innen und 2 organisatorisch tätige Mitarbeiterinnen.
Es wäre spannend zu verfolgen gewesen, wenn Pflug in seiner Publikation auch geschildert hätte, welchen Kampf es gebraucht und wie lange es gedauert hat, bis die für die ständig wachsenden Anforderung notwendigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bewilligt und die für die Arbeit notwendige sündhaft teuren Apparatur angeschafft waren. Deshalb verwundert der hohe Ton der Pressemitteilung der Landesregierung vom 3. März 2021 etwas, die die Verlegung des Kriminaltechnische Institut (KTI) beim Landeskriminalamt in einen Neubau auf dem von der Polizei genutzten Areal in der Pragstraße in Suttgart ankündigt: „›Das Hauptgebäude des LKA, in dem auch das KTI untergebracht ist, wurde vor mehr als 40 Jahren als reines Verwaltungsgebäude in der Taubenheimstraße 85 in Stuttgart Bad-Cannstatt errichtet. Zur damaligen Zeit war das Gebäude weder in technischer noch in räumlicher Hinsicht als kriminaltechnisches Labor konzipiert. Da sich jedoch die wissenschaftlichen und kriminaltechnischen Möglichkeiten bei der Verbrechensbekämpfung in den letzten Jahrzehnten permanent weiterentwickelten, mussten immer wieder größere Teile der ursprünglichen Büroflächen zu Laboren umfunktioniert werden‹, so Innenminister Thomas Strobl …
Die vorliegenden Planungen sehen eine stufenweise Neuunterbringung und örtliche Verlagerung des LKA von der Taubenheimstraße auf das Areal in der Stuttgarter Pragstraße vor, das bislang noch durch Einheiten des Polizeipräsidiums Stuttgart und des Präsidiums Technik, Logistik, Service der Polizei genutzt wird. Hierbei soll zunächst ein Neubau für das KTI realisiert werden, um auch weiterhin mit den Entwicklungen in der Kriminaltechnik Schritt halten zu können und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den notwendigen Raum und die technischen Voraussetzungen für Innovationen und qualitativ hochwertige Arbeitsergebnisse zu schaffen … ›Die Arbeit der Experten und Sachverständigen des Kriminaltechnischen Instituts hat mit ihrem fachlichen Können regelmäßig dazu beigetragen, am Tatort gesicherte Spuren zum ‚Sprechen‘ zu bringen. Daher braucht es neben einer erstklassigen fachlichen Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch eine erstklassige Unterbringung für Büros und Labore. Eine Aufklärungsquote von 64 Prozent, wie die jüngste Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PDF) zeigt, kommt nicht von ungefähr. Sie ist unter anderem das Ergebnis hervorragender kriminalistischer und kriminaltechnischer Arbeit, die es auch für die Zukunft aufrecht zu erhalten gilt. Deshalb ist es für mich gar keine Frage, dass wir gerade hier ideale Voraussetzungen schaffen müssen, mit denen unsere Ermittlerinnen und Ermittler ihre erfolgreiche Arbeit weiterhin fortsetzen können. Und dazu gehört eben auch ein Kriminaltechnisches Institut, das mit der neuesten Ausstattung und Technik deutschlandweit neue Maßstäbe bei der Verbrechensbekämpfung setzen wird‹, zeigte sich Innenminister Thomas Strobl überzeugt von der geplanten Investition“ (Pressemitteilung Baden-Württemberg.de zur Neuunterbringung des Kriminaltechnischen Instituts: https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/neuunterbringung-fuer-kriminaltechnisches-institut-1/).
ham, 21. Januar 2023