Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg i. Allgäu, 2023, ISBN 978-3-95976-412-4, 584 Seiten, 110 Abbildungen, Hardcover, Fadenheftung, Format 13,5 x 21,7 cm, € 19,80
Familienserien wie ›Oh Gott, Herr Pfarrer‹ (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Oh_Gott,_Herr_Pfarrer) und Pfarrerromane finden in aller Regel ein großes Publikum. Bei dem Elstaler Germanisten und Theologen Hans-Volker Sadlack stehen 300 Pfarrerromane im Schrank, darunter Conrad Ferdinand Meyers ›Der Schuss von der Kanzel‹, Wilhelm Raabes ›Der Hungerpastor‹ und Gottfried Hänischs ›Die Situation‹, in dem die Ehefrau des evangelischen Pfarrers Neumann, die selbst Katecheten ist und von einer Reise in die BRD nicht zurückkehrt, ihren Mann zur Flucht drängt. In die Sammlung von Sadlack werden Pfarrerromane nur dann aufgenommen, wenn sie fiktional bleiben, der Pfarrer die zentrale Figur ist und es ausschließlich um Gemeindepfarrer geht (vergleiche dazu https://www.maz-online.de/lokales/havelland/wustermark/rund-300-pfarrerromane-im-regal-6M43MAU2CEYOGAVPBBV3GYJSAU.html). Damit scheidet Andreas Hildmanns weit ausgreifende Biografie seines Vaters Gerhard Hildmann für diese Sammlung aus.
Hildmanns Lebensbild seines am 24. Juli 1907 in Markt Herrnsheim geborene und am 1. August 1992 in Tutzing verstorbenen Vaters Gerhard hält sich an Fakten. „Einiges entnehme ich seinen Manuskripten oder gedruckten Texten. Vieles entstammt dem familiären Erinnerungsschatz. Wesentliches brachte die Rückschau seiner Witwe Charlotte zu Tage“ (Andreas Hildmann S. 7). Sein Ziel ist es, den Publizisten, Pfarrer von Buxach und Memmingen und ersten Leiter der Evangelischen Akademie Tutzing vor dem Vergessen zu bewahren. „Menschen kommen und gehen. Manche werden gefeiert. Manche werden gefürchtet. Zuletzt werden fast alle vergessen. Gerhard Hildmann soll nicht vergessen werden. Er war eine öffentliche Person. Er konnte anderen helfen, zu leben, zu glauben und die Welt tiefer zu verstehen. Es ist kaum möglich, ihm in seiner Geistigkeit und Vielseitigkeit gerecht zu werden. Auch große Fragen seiner Zeit können hier nur tangiert werden. Dennoch versuche ich, das Leben meines Vaters zu beschreiben“ (Andreas Hildmann a. a. O.). Aus dem Versuch ist die eindrückliche Geschichte eines dem bayrischen Luthertum verpflichten Intellektuellen geworden, der um die geistliche Dimension des Daseins und der Welt weiß.
Bei einer Begegnung Gerhard Hildmanns mit Romano Guardini im Spätsommer 1944 kommt der bevorstehende Zusammenbruch des Dritten Reichs zur Sprache. Für Hildmann wird klar, dass der dann anstehende Neuanfang eine Chance und eine Aufgabe für die Kirchen und Christen sein wird. „Nicht ein frommes Belehren der Entwurzelten, nicht ein oberhirtliches Führen der Geschädigten wird dann gefragt sein. Sondern ein gegenseitiges Anteilnehmen und Anteilgeben persönlicher Einsichten … Eine tiefgreifende Neuorientierung, gibt Guardini zu bedenken, wird auf Fachleute nicht verzichten können. Neben Geisteswissenschaftlern wird man Naturwissenschaftler, Männer der Wirtschaft, der Politik, der Kunst und Kultur um Rat fragen müssen … Ja, auch auf die Weisheit der Dichter sollten wir nicht verzichten!, ergänzt Hildmann. Guardini: Ich denke an Tagungen für Berufsgruppen, an Zusammenkünfte zu aktuellen, existentiellen Themen … Es wäre schön, die Interessenten in eine anheimelnde Herberge laden zu können. Und wenigstens ein paar Tage lang eine Lebensgemeinschaft mit Ihnen zu haben“ (Andreas Hildmann S. 265). Damit ist die Idee einer zukünftigen Akademie im Tutzinger Schloss skizziert.
Am 16. Juni 1948 wird Hildmann von der Kirchenleitung mit der vorläufigen Leitung des Freizeitheimes Tutzing bzw. Niederpöcking beauftragt; von Oktober 1949 an steht das Schloss der Akademie uneingeschränkt zur Verfügung (vergleiche dazu https://www.schloss-tutzing.de/impressionen/architektur-baudenkmaler/). Im September 1950 skizziert die Landessynode in Bayern die Aufgaben der kirchlichen Einrichtung wie folgt: „›Die Evangelische Akademie soll die Grundfragen des öffentlichen und persönlichen Lebens im reformatorischen Verständnis der Heiligen Schrift auf Tagungen in gemeinsamer Bemühung von Geistlichen und Laien neu durchdringen und klären. Sie soll den Einzelnen und den Gemeinden, den Berufen und Ständen dazu helfen, aus christlicher Verantwortung zu leben und zu handeln‹“ (zitiert nach Andreas Hildmann S. 393). Tutzinger Tagungen sollen nach Hildmann sachlich beraten, biblisch bezeugen und geistlich befreien. Diskussionen „dringen in aller Regel in existentielle Bereiche vor. Es bleibt nicht aus, dass individuelle Ängste oder Anfechtungen, Zweifel oder Schuldgefühle zur Sprache kommen. Und Antworten verlangen. Hildmann respektiert Bekenntnisse, ohne sie zu vertiefen. Er ist diskret. Er will die Betroffenen schützen. Befreiend und glaubhaft kann er sagen: Gott kennt uns. Er weiß Bescheid“ (Andreas Hildmann S. 397 f.).
1951 sind achtunddreißig Tagungen unter anderem zu den Themen ›Astrologie‹, ›Die Magie des Bildes‹, ›Von der rechten Sterbekunst‹ und ›Ist der Existentialismus ein Humanismus?‹ angekündigt. 1951 wird ein Kuratorium eingerichtet. Gerhard Hildmann wird vermehrt zu Vorträgen eingeladen. Im Juli 1954 tritt der Politische Club ein erstes Mal zusammen. „Insgesamt achtzig Organisationen und Persönlichkeiten werden gebeten, geeignete erscheinende Teilnehmer, die das fünfundzwanzigste Lebensjahr nicht überschritten haben, zu benennen. Fünfundfünfzig der dann Erwählten nehmen die Einladung an. Es sind angehende Juristen und Volkswirte. Journalisten, Philologen und Theologen. Etwa ein Drittel davon kommt aus Mittel- und Ostdeutschland. Schwieriger ist es, aktive namhafte Politiker dafür zu gewinnen, mit jungen Menschen einige Tage am Starnberger See zu teilen – mit oder ohne Familie. Immerhin: ein Bundesminister, ein Bundesratsmitglied, vier Bundestagsmitglieder, dazu ein Staatsminister und ein Landtagsabgeordneter, ein Oberbürgermeister und weitere Personen des öffentlichen Lebens, auch Landesbischof Meiser sagen zu.
Auch wenn das Wetter zunächst nicht mitspielt, gestaltet sich das Leben im Club mit den Referaten, Aussprachen, biblischen Besinnungen und persönlichen Begegnungen als ergiebig und spannend. Es wird viel gefragt. Und ehrlich geantwortet. Zumeist geht es um das praktische Geschäft der Politik, um das Funktionieren der Demokratie, aber auch um die Ziele der deutschen Innen- und Außenpolitik. Und nicht zuletzt um die Chancen der Wiedervereinigung“ (Andreas Hildmann S. 430 f.). Der Politische Club wird zu einem in der Bundesrepublik viel beachteten Unternehmen.
1958 wird das Auditorium, ein an den Musiksaal angeschlossener Rundbau nach Plänen des Architekten Olaf A. Gulbransson gebaut (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Olaf_Andreas_Gulbransson; https://www.schloss-tutzing.de/tagen-im-schloss/veranstaltungsraume/auditorium/ und https://www.ev-akademie-tutzing.de/tragen-schuetzen-sammeln/). 1961geben sich in Tutzing die Kontrahenten Franz Josef Strauß und Willy Brandt die Hand. 1963 besucht Konrad Adenauer den Politischen Club. Neben dem Bundeskanzler werden als Referenten erwartet Egon Bahr, Willy Brandt, Alfons Goppel, Sebastian Haffner, Hans Lenz, Erich Mende, Erich Ollenhauer und andere. „Adenauer ruft dazu auf, gegen die Sowjetunion ›materiell und geistig‹ zu rüsten. Nach ihm spricht Willy Brandt. Dann hat Egon Bahr das Wort. Er erinnert: ›Wir haben gesagt, dass die (Berliner) Mauer ein Zeichen der Schwäche ist … Ein Zeichen der Angst und des Selbsterhaltungstriebs des kommunistischen Regimes. Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, die durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell so weit abzunehmen [ham], dass auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung“ (Andreas Hildmann S. 503).
Eine beim Kilimandscharo angedachte evangelische Akademie scheitert. Hildmann „fällt es schwerer, in Tutzing weiterzumachen. Er muss den verlockenden Plan aufgeben, noch einmal eine Akademie aufzubauen. Und: Er war in einem sehr fernen, sehr andersartigen Land. Jetzt fällt ihm auf, wie geschäftsmäßig, wie routiniert in Tutzing vieles geschieht, selbst die Andachten und theologischen Diskussionen. Es fällt ihm auf, dass man sich in der Evangelischen Akademie hier zwar historisch-kritisch mit Jesus befasst – aber ein persönliches Bekenntnis zu ihm kaum zu hören ist. Eher spricht man objektivierend von ›Gott‹. In Nairobi sagte der Taxifahrer beim Abschied fröhlich: ›Jesus rescued me! Halleluja!‹ Ist hierzulande die persönliche Christusbindung abhanden gekommen, die Faszination des Heiligen erloschen? … Deutlich erkennt Hildmann: Die Mehrzahl der Mitarbeiter entstammt einer anderen Generation, hat andere Anliegen. Bin ich zu alt?, fragt er sich. Zu alt für meine Aufgaben? Plötzlich kann er nicht mehr verstehen, dass er vor Tagen noch Mitverantwortung tragen wollte für eine anspruchsvolle Initiative auf einem fernen Kontinent. Er ist siebenundfünfzig. Er beginnt, an den Ruhestand zu denken. Noch vor Jahresende erwerben sich die Eheleute ein kleines Grundstück am Ortsrand von Tutzing. Für einen Alterssitz“ (Andreas Hildmann S. 518 f.)
Am 28. Februar 1967 zieht die Familie in die eigene Wohnung. Am 1. August 1968 wird Gerhard Hildmanns Bitte um vorzeitige Versetzung in den Ruhestand entsprochen. Im Oktober entsendet ihn der Landeskirchenrat in die Zweite Kammer der Bayrischen Staatsregierung. Er ist jetzt Senator. Am 14. Juli 1992 sind seine Söhne und ihre Familien zu einem Geburtstagsessen in Feldafing geladen. „Ein großer Tisch ist festlich gedeckt. Der Jubilar sitzt still in der Runde. Schließlich stößt er an sein unberührtes Glas, lächelt, spricht einen nach dem anderen an. Hat für jeden ein anerkennendes Wort und einen von Herzen kommenden Dank. Plötzlich verstehen alle: Das ist der Abschied. Dann bittet er, nachhause gebracht zu werden. Sieben Tage lang liegt er wortlos auf seinem Lager. Ohne zu essen. Oder zu trinken. Am dritten Tag wird auf Lottes Wunsch hin das Heilige Abendmahl gefeiert. Andreas soll es halten. Er kommt aus München … Am … 1. August 1992 bricht Gerhard Hildmann auf ins Unbekannte. Während sein Sohn Baltus den 122. Psalm liest“ (Andreas Hildmann S. 563)
ham, 24. Dezember 2022