Verlag C.H. Beck, München, 2022, ISBN 978-3-406-79014-0, 638 Seiten, 37 Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 22,2 x 1,5 cm, € 38,00

Friedrich Wilhelm Grafs groß angelegte Troeltsch-Biographie beginnt mit seiner Trauerfeier am 3. Februar 1923 in der großen Haupthalle des Krematoriums von Berlin-Wilmersdorf und endet mit dem Schicksal seines Grabes und dem Epilog ›Troeltschs Gott als Individualitätsgarant‹: „Ernst Troeltsch war ein Bürger. Er schätzte gutes Essen, trank gerne elsässischen Wein und rauchte teure Zigarren. Er ging oft ins Theater und ließ sich in der Reichshauptstadt nur selten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst entgehen. Trotz anfänglicher Sehnsucht nach dem Weltdorf am Neckar hatte er ›das Leben in Berlin gern‹. Das Ehepaar lud zu Tischgesellschaften ein und gab im großen Esszimmer an einer Tafel mit Silberbesteck, Kristallgläsern und Tellern der Königlich Preußischen Porzellanmanufaktur festliche Abendessen, bei denen Kellnerinnen servierten. Troeltsch liebte geistreichen Austausch. ›Selbst gesprächig und glänzend beredt, war er weit entfernt, das Wort festzuhalten; er verstand die Kunst des Zuhörers und Fragens‹, betonte sein Freund Carl Neumann …

Bürgerlich waren auch Troeltschs Lektüren. Neben seiner weit gespannten ideenräuberischen Rezeption wissenschaftlicher Texte las er viel Klassisches: die ›Alten‹, vor allem Homer, Hölderlin, Novalis, Fontane und immer wieder Goethe … Stefan George galt ihm als ›Deutschlands charaktervollster und formstärkster Dichter‹, und begeistert erfreute er sich an Rainer Maria Rilke und Theodor Däubler … Troeltsch vertrat einen bürgerlichen Tugendkanon: ›Tüchtigkeit, Gediegenheit, Charakterfestigkeit und Arbeitsamkeit, Gerechtigkeit und Menschenliebe‹. Seine Bürgerlichkeit war jedoch eigentümlich gebrochen … Form ohne Gehalt verachtete Troeltsch als hohl, und oft verletzte er Konventionen. So wahrte er zur eigenen Klasse immer Distanz. An Albert Einstein schrieb er im Februar 1918: ›was in Deutschland vor allem fehlt, ist der moralische Mut seiner Gebildeten … In vielen Zeugnissen ist von Troeltschs knorrigem Auftreten die Rede. Harnack räumte an seinem Sarg ein: ›er war kein bequemer Mensch‹“ (Friedrich Wilhelm Graf S. 543 f.). 

Troeltsch betonte den elementaren Unterschied von Religion und Kultur. „Religion hat es für Toeltsch mit der ›Aufbietung überweltlicher und übermenschlicher Kräfte‹ zu tun, mit einer ›Richtung auf das, was jenseits der Sinne ist‹. Religion ist radikales Differenzbewusstsein. Sie ist jene Kulturpotenz, die die Immanenz jeder Kultur aufsprengt – indem sie durch den Transzendenzbezug auf unabgegoltene Sollensgehalte und … das ›Ideal‹ verweist. Religion stärkt die Sensibilität dafür, dass hier und jetzt niemand wissen kann, was dermaleinst sein wird … 

Immer wieder betonte Troeltsch ›die tiefe Individualität alles geistigen Lebens‹ und die ›Irrationalität der letzten Lebenstiefen‹. Seine eigene intellektuelle Individualität erschließt sich allein mit Blick auf seine Frömmigkeit … Harnack erklärte am Sarge: ›er glaubte an einen Sinn des Lebens und der Geschichte und an den Sinn seines eigenen Lebens: das ist die praktische Erprobung des Glaubens an Gott, und er glaubte, daß die Hoheit und Demut, die an dem Kreuze Christi aufgeleuchtet ist, Vorbild und Kraft unseres Lebens sei: das ist die praktische Erprobung des christlichen Glaubens …

Troeltsch stimmte ein Credo der Individualität an. ›Und nicht umsonst stellt die religiöse Idee das Individuum, seine Entscheidung und sein Heil in den Mittelpunkt‹. Denn nur der oder die einzelne ›allein transzendiert die Geschichte‹ … Wir wissen nicht, was nach uns kommt. Aber wir können … darauf hoffen, dass all unser Tun nicht vergeblich gewesen ist … In einer Weihnachtsmeditation mitten im Weltkrieg erklärte 

Troeltsch: ›Aber wir dürfen die christliche Ideenwelt, wenn anders wir in ihr etwas Unverlierbares und Zart-Großes zu besitzen überzeugt sind, formen nach unserer Lage und unserem Bedürfnis. An dieser Formung hat Troeltsch seit seiner Jugend unermüdlich gearbeitet. Für ihn blieb das Jenseits auch dann die Kraft des Diesseits, als seine Seele einging in jenes ›Gottesreich, das die Geschichte transzendiert‹. Dieses Gottesreich stellte sich Troeltsch als Reich unbegrenzten Austauschs und ewigen Gesprächs vor. Spätestens hier werde die (oder der) eine das ›Fremdseelische‹ der anderen verstehen können“ (Friedrich Wilhelm Graf S. 546 – 550)

Troeltschs Frau Marta, sein neunjähriger Sohn Ernst Eberhard und sein Bruder Rudolf waren im Wagen Paul von Hindenburgs zur Trauerfeier des mit knapp 58 Jahren Verstorbenen gekommen. Sein plötzlicher Tod am frühen Morgen des 1. Februar hatte selbst nahe Freunde überrascht und auch den um 1920 weltbekannten Geisteswissenschaftler Adolf Harnack schockiert. Troeltschs Tod war mehr als ein lokales oder regionales akademisches Ereignis. „Eine ganze Reihe gut mit ihm bekannter, auch befreundeten Professorenkollegen nahmen lange Reisen auf sich, um den Verstorbenen zu ehren. Aus München kam der Romanist Karl Vossler, und aus Heidelberg reisten der brillante Neutestamentler Martin Dibelius und der … Philosoph und Theologe Hans Ehrenberg an. Aus Erlangen waren der Philosoph Paul Hensel, ein enger Freund, und der Unternehmer Rolf Hoffmann gekommen … Und natürlich war gemeinsam mit ihrem Mann Theodor auch Elly Heuss-Knapp präsent … Die in Berliner Universitätskreisen als ebenso schön wie brillant umschwärmte Theologiestudentin Margot Hahl, die Troeltsch für den besten Redner der Friedrich-Wilhelms-Universität hielt, hat … darauf insistiert, dass … selbst der Kirchenhistoriker Karl Holl, einer der härtesten theologischen Antipoden Troeltschs unter den Berliner Theologen, an der Trauerfeier teilnahm. Die Pfarrerstochter Hahl war selbst in Begleitung ihres damaligen Freundes, des Privatdozenten für Systematische Theologie und Salonsozialisten Paul Tillich erschienen … Als Tillich während Harnacks Trauerrede weinte, konnte auch Ludwig Marcuse seine Tränen nicht mehr unterdrücken“ (Friedrich Wilhelm Graf S. 21 ff.).

Zwischen Grafs Epilog und seinen Bericht von der Trauerfeier sind Troeltschs Jugend und Schulzeit im elterlichen Arzthaushalt in Augsburg, sein Studium der Evangelische Theologie und Religionsphilosophie, seine Professuren für Systematische Theologie in Bonn und Heidelberg, seine Berufung auf eine Professur für Religions-‚ Sozial- und Geschichts-Philosophie und christliche Religionsgeschichte an der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin und seine Ernennung zum Unterstaatssekretär im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung eingespannt (vergleiche dazu auch https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Troeltsch). Dazu kommen eindrückliche Passagen über seine Liebe zur Kunst, seinen kaum zu überschauenden Freundes-, Bekannten- und Kollegenkreis, seine Jahrhundertschrift ›Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen‹ und seine Entwicklung vom wilhelminischen Mandarin zum Großstadtintellektuellen und Demokraten. Dass sich der 1999 mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnete ähnlich produktive und ähnlich medial präsente liberale Intellektuelle Graf ein Gelehrtenleben lang mit dem auf dem Invalidenfriedhof Begrabenen befasst hat, geht auf seinen akademischen Lehrer Trutz Rendtorff und Hans-Ulrich Wehler zurück. „Der Systematische Theologe hatte 1969 Troeltschs ›Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte‹ als Taschenbuch neu herausgegeben, und der Gesellschaftshistoriker erinnerte in seinen ›Krisenherden des Kaiserreichs‹ ein Jahr später an ›das nüchterne Eingeständnis und Autoritätsurteil von Ernst Troeltsch‹, ›die ganze marxistische Fragestellung‹ sei mit ihrer Unterscheidung zwischen materieller Basis und ideologischem Überbau für den Historiker eine ›wirkliche Entdeckung‹. Dass so unterschiedliche Gelehrte wie der Münchner liberal-konservative theologische Ethiker und der sozialdemokratische Vordenker der Bielefelder Schule auf die bleibende Relevanz Troeltschs hinwiesen, machte mich neugierig. Seitdem habe ich zahlreiche Aufsätze über Troeltsch und das ihn prägende Heidelberger Gelehrtenmilieu um 1900 veröffentlicht, fünfzehn Bände ›Troeltsch-Studien‹ mit herausgegeben und als Initiator und Geschäftsführender Herausgeber der seit 1998 erscheinenden ›Kritischen Gesamtausgabe‹ der Werke, Briefe und Vorlesungen Ernst Troeltschs nicht weniger als zwölf Bände selbst ediert – teils allein, teils unterstützt von jüngeren Gelehrten aus Geschichtswissenschaft, Germanistik, Philosophie und Filmwissenschaft“ (Friedrich Wilhelm Graf S. 553). Grafs ›Ernst Troeltsch‹ ist der überaus gelungene Versuch einer biographischen Synthese all dieser Arbeiten.

Dass Troeltschs  ursprünglich auf der Grabstelle Nr. 76 im Feld B des Invalidenfriedhofs errichteter Grabstein, ein wohl über zwei Mehr hoher Findling mit der Inschrift ›Was suchet Ihr den Lebenden bei den Toten?‹, aufgrund der Nähe zur 1961 errichteten Mauer abgebaut, auseinander gesägt und weiterverwertet wurde, gehört zu den Kuriosa der deutsch-deutschen Geschichte: „Man wollte zur Abschreckung und Fluchtverhinderung ein möglichst freies Schussfeld herstellen, sah die großen Grabsteine und Mausoleen im Feld B des Friedhofs aber als Sichtbehinderung an“ (Friedrich Wilhelm Graf S. 538). Dabei ging auch der Grabhügel verloren. Die von der Familie 1967 und erneut am 8. Januar 1973 beantragte Erhaltung des Grabes wurde abgelehnt. „Unter dem Druck der Nationalen Volksarmee beschloss man …, das Grab zum 1. Februar 1973, genau fünfzig Jahre nach Troeltschs Tod, einzuebnen. Die Familie bemühte sich nun um eine schnelle Überführung der Urne. Im Dezember 1973 wurde dies durch das Städtische Bestattungswesen Berlin mit der Begründung abgelehnt, die gesetzliche Ruhepflicht von zwanzig Jahren sei längst abgelaufen“ (Friedrich Wilhelm Graf S. 538 ff.). 

Nach der Wende und diversen Beratungen schloss man eine vollständige Rekonstruktion des Invalidenfriedhofs aus konservatorischen und Gründen der Bewahrung der Geschichtlichkeit aus. „Vor allem müsse der ›Todesstreifen, gerahmt durch Ufer- und Grenzmauer … in seiner Räumlichkeit erhalten bleiben. Grabrestitutionen seien hier, ›wie in den übrigen Feldern, als einheitlich gestaltete, liegende Grabsteine ohne zusätzliche Bepflanzung anzufertigen“ (Friedrich Wilhelm Graf S. 541 f.). Der ohne jede Absprache mit der Familie für DM 7670.– errichtete liegende Grabstein trug, peinlich genug, als Todesdatum den 31. Januar 1923. Heute liegt ein zweiter polierter „Stein mit dem zutreffenden Todesdatum 1.2.1923 an genau der Stelle, an dem ursprünglich der von den DDR-Behörden in realsozialistischer Gemeinnutztauglichkeit portionierte große Findling gestanden hatte“ (Friedrich Wilhelm Graf S. 542. Vergleiche dazu https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Berlin,_Mitte,_Invalidenfriedhof,_Feld_B,_Grab_Ernst_Troeltsch,_Restitutionsstein,_1991.jpg).

ham, 16. Dezember 2022

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