Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2021, ISBN: 978-3-421-04877-6, 224 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 22 x 14 cm, € 20,00 (D) / € 20,60 (A) / CHF 28,90
Seit der Bundestag am 6. November 2015 das „Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ beschlossen hatte, war Suizidhilfe in Einzelfällen zwar noch möglich, es sollte aber verhindert werden, dass Sterbehilfevereine ihr Tätigkeitsfeld ausbauen und der assistierte Suizid für Schwerkranke und lebensmüde Ältere zum Normalfall wird. Der neu geschaffene § 217 n. F. des Strafgesetzbuches (StGB) hat die geschäftsmäßige Suizidhilfe deshalb unter Strafe gestellt: „(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht.“ (BT-Drucksache 18/5373, S. 5). Der Münchener systematische Theologe und Träger des Leibniz-Preises der DFG Friedrich Wilhelm Graf hatte sich schon im Vorfeld des Beschlusses deutlich dagegen ausgesprochen, Menschen vorzuschreiben, wie sie sterben wollen und sich dabei auf das in Artikel 2 (1) des Grundgesetzes geregelte Recht auf die „freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ berufen:
„Man kann doch sagen“, so Graf wörtlich, „dass es Phänomene der Deutung und Gestaltung meines Lebens gibt, die wirklich meine private Entscheidung sind. Und bei einem so existentiellen Vorgang wie Sterben und beim Tod ist das sicherlich der Fall. Insofern finde ich es einfach übergriffig, anderen vorschreiben zu wollen, wie sie zu sterben haben. Das steht solchen Organisationen einfach nicht zu in einer freiheitlichen Gesellschaft. Darin kommt ein erschreckend autoritärer Paternalismus zur Geltung, eine Haltung, die anderen meint Vorschriften machen zu können. Das finde ich kein gelungenes Christentum“ (Friedrich Wilhelm Graf am 16. Juni 2015 zur Sterbehilfe. In: https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/friedrich-wilhelm-graf-zu-sterbehilfe-100.html).
Es ist nicht bekannt, ob der in Berlin lebende Internist, Diplombiologe, Medizinjournalist, Mitbegründer eines Hospizes und Vorsitzende der Hans-Joachim-und-Käthe-Stein-Stiftung für Palliativmedizin Michael de Ridder (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_de_Ridder) diese Äußerung von Friedrich Wilhelm Graf gekannt hat, als er in seiner fachlich anspruchsvollen Verteidigung der Suizidhilfe die weltanschaulich-religiösen Postionen im Umgang mit dem Suizid referiert. Er greift unter anderem auf eine Äußerung Grafs aus dem Jahr 2009 zurück, nach der Graf sein Verhalten am Lebensende nicht vor Staat und Kirche, sondern allein vor seinem Schöpfer verantworten will (vergleiche dazu Friedrich Wilhelm Graf, Klerikaler Paternalismus. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 41 vom 19.2.2009 S. 11 und Michael de Ridder S. 183). Graf hat mit seinen Voten von 2009 und 2015 die mit der Aufhebung des § 217 n .F. durch das Urteil des Verfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 verbundene Auffassung vorweggenommen, dass das Persönlichkeitsrecht selbstbestimmtes Sterben zulässt. In der Urteilsbegründung vom 26. Februar 2020 stellt das Bundesverfassungsgericht im ersten Leitsatz fest, das das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/02/rs20200226_2bvr234715.html).
Grafs Nachfolger Reiner Anselm setze, so de Ridder, „einen anderen, deutlicheren Akzent, der ihn jedoch in Opposition zur EKD bringe: Wenn das Einverständnis des Patienten vorliege, sehe er ›keinen moralisch signifikanten Unterschied zwischen der Begrenzung medizinischer Maßnahmen und der Tötung auf Verlangen“ (Michael de Ridder S.183 f.). Dass Ridder Anselm nach einem idea-Artikel vom 22.3.2012 zitiert, kann man der Anmerkung entnehmen. Zeitlich – und auch sachlich näher bei de Ridders Position – hätte freilich der am 11. Januar 2021 in der FAZ Nr. 8 auf Seite 6 von Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie veröffentlichte Artikel ›Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen› gelegen, nach dem kirchliche Einrichtungen bestmögliche Palliativversorgung gewährleisten, sich aber dem Suizid nicht verweigern sollen. Einem Sterbewilligen sollen sie in Respekt vor der Selbstbestimmung Beratung, Unterstützung und Begleitung anbieten. (http://www.ev.rub.de/mam/pt-karle/texte/faz_assistierter_suizid.pdf).
Diese unter auch von dem evangelischen Landesbischof Hannovers Ralf Meister geteilte Position (vergleiche dazu https://www.kirche-und-leben.de/artikel/landesbischof-meister-mensch-hat-recht-auf-selbsttoetung) ist in der Evangelischen Kirche und unter evangelischen Theologen nach wie vor umstritten (vergleiche dazu https://www.kirche-und-leben.de/artikel/landesbischof-meister-mensch-hat-recht-auf-selbsttoetung). Die Deutsche Bischofskonferenz spricht sich dagegen nach wie vor nachdrücklich gegen alle Formen der aktiven Sterbehilfe und der Beihilfe zur Selbsttötung aus (vergleiche dazu https://www.dbk.de/themen/sterben-in-wuerde).
Wer sich in die komplexe Diskussionslage um das Für und Wider der Suizidhilfe einarbeiten will, ist bei de Ridder bestens aufgehoben.
ham, 19. November 2022