Mit Fotos von Anja Prestel

Westend Verlag, Frankfurt a. Main 2022, ISBN 978-3-86489-367-4, 384 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Hardcover gebunden, Format 27,2 x 19,8 cm, € 38,00 (D) / € 39,10 (A)

Wein ist ein Kulturgut und eng mit der Entwicklung früher Kulturen verbunden (vergleiche dazu und zum Folgenden https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_des_Weinbaus). Wildreben lassen sich durch Fossilienfunde bis auf eine Zeit vor 80 Millionen Jahren zurückdatieren, Traubenkerne von angebauten Reben auf 8000 v. Chr. Nach 1. Mose 9, 20 pflanzte Noah nach der Sintflut einen Weinberg; er trank danach vielleicht auch deshalb etwas zu viel, weil er die Flut vergessen wollte. Und Jesus verwandelte bei der Hochzeit zu Kanaan Wasser in einen Wein, der so gut war, dass der Speisemeister den Bräutigam rügen musste: Jedermann schenkt zuerst den guten Wein aus und den weniger guten erst dann, wenn die Gäste betrunken sind (vergleiche dazu Johannes 2, 1–11,  https://de.wikipedia.org/wiki/Hochzeit_zu_Kana und https://www.amazon.de/Zum-Wein-Bibel-Rebstock-Leben/dp/3832533826).

Ob einer der von Janek Schumann und Wolfgang Staudt aus 101 europäischen Weingütern vorgestellten Weine noch so wie der von Noah getrunkene geschmeckt hat und ein anderer so gut wie der von Jesus auf der Hochzeit von Kanaan aus Wasser verwandelte war, können wir nicht mehr überprüfen. Aber beide Weinkenner sind davon überzeugt, dass den abseits vom Mainstream und Hyperindustrialisierung, frei von Konventionen und Dogmen und vom Grundsatz der Eigenständigkeit und geschmacklichen Diversität getragenen Weinen die Zukunft gehört. Viele der vorgestellten Winzerinnen und Winzer verbinden mit ihrem Beruf einen alternativen Lebensentwurf. „Authentizität und Nachhaltigkeit ist ihnen wichtiger als das schnelle Geld. Sie hinterfragen die Versprechungen von Technik und Chemie, erproben neue Denkansätze und Konzepte und bedienen sich dabei nicht selten verloren gegangenem Wissen und vergessenen Praktiken … Für diese Winzerinnen und Winzer ist Wein mehr als nur ein Produkt, das durch das Zusammenspiel aus Natur und Technik entsteht. Für sie ist Wein Ausdruck einer inneren Haltung.

In der Art und Weise, wie sie mit ihren Reben arbeiten und ihre Weine bereiten, manifestieren sich Werte und Grundüberzeugungen, aber auch ihre Leidenschaften und Träume. Der Wein ist ihr Leben … Abseits eines idealisierten Marktkalküls formen diese Winzerinnen und Winzer ein neues Geschmacksuniversum getragen vom Grundsatz der Eigenständigkeit. Dabei … erweitern [sie] das stilistische Spektrum und zwingen mittels ihrer Weine zu einer Auseinandersetzung mit gängigen Klischees, Definitionen und Bewertungsmechanismen. Menschlicher, natürlicher, berührender – das sind Europas neue Weine“ (Janek Schumann, Wolfgang Staudt S. 5).

Unter den Württemberger Weingütern wird das 2014 von dem Rapper, Sprayer, Geisenheim-Absolventen und Querdenker Moritz Haidle übernommene Weingut Karl Haidle in Kernen-Stetten vorgestellt, das inzwischen in einer Fläche von rund 23 ha biodynamisch nach den Demeter-Richtlinien bewirtschaftet wird. „Der Grundsatz ›Gute Weine werden im Weinberg gemacht und nicht im Keller‹ steht im Weingut an erster Stelle. Durch sorgfältiges, biologisches und qualitätsorientiertes Arbeiten im Weinberg werden die prägenden Eigenschaften der jeweiligen Lage gefördert. So tragen unter anderem aufwendige Handarbeit sowie eine extreme Ertragsregulierung der Reben dazu bei, die Philosophie des Weinguts zu erfüllen. Durch stetig wachsende Erfahrungswerte gelingt es, präzise auf die einzelnen Weinberge einzugehen, die mit ihren tiefverwurzelten und zum Teil sehr alten Reben Weine mit einzigartigem Sortencharakter hervorbringen“ (https://weingut-karl-haidle.de). 

„Getreu seinem Motto ›Produziere nur den Wein, den du auch selbst mit Begeisterung trinken magst‹, hat [Moritz Haidle] das Rebsorten- und Produktportfolio konsequent bereinigt und ist seinem Ziel, nur noch Riesling und Lemberger zu produzieren, schon recht nahe gekommen. Mit Mitte dreißig scheint er seinen Stil gefunden zu haben – schlanke, mineralische Rieslinge und frische, elegante Lemberger. ›Letztlich geht es doch darum, dass sich in meinen Weinen die Herkunft niederschlägt, die Lage, der Boden und alles andere, das den jeweiligen Standort kennzeichnet. Weil ich im Glas die Kargheit des Pulvermächer und den Überschwang des Häder schmecken und erleben möchte, nehme ich mich als Kellermeister so weit wie möglich zurück. Ich will puristische, reine Weine ohne Lametta und schmückendes Beiwerk‹, erklärt er.“ (Janek Schumann, Wolfgang Staudt S. 84). Wer Weine von Moritz Haidle verkosten will, kann auch noch heute einen extrem frischen 2017er Chardonnay »R« trocken finden, einen ordentlichen 2018er Stettener Häder Riesling trocken, aber auch einen hochpreisigen 2019 Stettener Gernhalde Lemberger GG, der nach dem Urteil von Schumann und Staudt super „elegant und fein! Am Gaumen seidig und saftig“ daherkommt und ein intensiver, dichter, erfrischender und energetischer Lemberger mit „knackigen, aber feinen Tanninen“ ist (Janek Schumann, Wolfgang Staudt S. 82). Moritz Haidles Großvater Karl hätte bei der Gründung des Weinguts  nie einen Lemberger angepflanzt. 1949 war im Remstal Trollinger und nicht Lemberger Pflicht. Zwischenzeitlich ist das Weingut siebenmal für seinen Lemberger mit dem Deutschen Rotweinpreis ausgezeichnet worden.

Erfreulich ist, dass Schumann und Staudt die Weine des 2,2 ha großen kroatische Weinguts Vinarija Križ (vergleiche dazu http://vinarijakriz.com/en/#about) ebenso besprechen wie die der ehemaligen Tänzerin Emeline Calvez und des Winzersohnes Sébastian Bobinet im 12 ha großen Gut Calvez Bobinet in Saumur an der Loire (vergleiche dazu https://www.domaine-bobinet.com/qui-sommes-nous/) und die der 100 ha großen spanischen Bodegas y Viñedos Verum (vergleiche dazu https://bodegasverum.com). Dass Schumann und Staudt bei allen besprochenen Weinen auf die Angabe der Jahrgänge verzichten, erschließt sich freilich ebenso wenig wie das Fehlen des ab 2019 von Joscha Dippon in dritter Generation geführten Schlossguts Hohenbeilstein, das in Württemberg als Urgestein des Bioweinbaus gilt (vergleiche dazu https://www.schlossgut-hohenbeilstein.de). Aber auch Top-Weinkenner können nicht alles wissen und vielleicht war ja das einhunderteinste Weingut für den geplanten Buchumfang schon eines zu viel …

Aber wer sind die Autoren und wer ist die Fotografin? Janek Schumann ist einer von derzeit zehn deutschen Master of Wine. Er hat alle wichtigen Weinbauländer bereist, arbeitet als Fachdozent im gesamten deutschsprachigen Raum und führt neben seinem Weinhandel das Restaurant mit Weinschule „Die Weinwirtschaft“ in Lichtenwalde bei Chemnitz. Zudem vertreibt er eine persönliche Weinselektion über den Online-Shop tastethat.de (vergleiche dazu janek-schumann.de und https://www.deutscheweine.de/presse/pressemeldungen/details/news/detail/News/deutschland-hat-drei-neue-masters-of-wine/). Wolfgang Staudt wohnt und arbeitet als Buchautor und Weinjournalist in der Nähe von Frankfurt/ Main. 1994 promovierte er zum Dr. Phil. an der Technischen Universität Darmstadt und absolvierte 2005 das Diploma in Wine & Spirits (WSET). Er veröffentlichte im WESTEND Verlag zahlreiche Weinbücher und schrieb für die Weinmagazine „Alles über Wein“ und „Selection“ sowie für verschiedene Tages- und Wochenzeitungen. Aktuell informiert er regelmäßig über die deutsche Weinszene in dem Podcast „Genuss im Bus“ (vergleiche dazu https://podcasts.apple.com/de/podcast/genuss-im-bus-der-mobile-wein-podcast/id1448597402 und https://www.facebook.com/DrStaudtWeinerlebnisse/). 

Anja Prestel lebt und arbeitet als Fotografin in München. Nach Abschluss der Fachakademie für Fotodesign im Jahr 2003 hat sie sich auf Wein- und Foodfotografie spezialisiert. Sie arbeitete u. a. für Gonzales Byass, Campari, Fritz Müller und Aqua Monaco sowie für Buchprojekte. 2014 absolvierte sie das WSET Level 3 Award in Wine und ist auch in ihrer Freizeit oft in Weinbergen und Weinkellern unterwegs (vergleiche dazu http://www.anjaprestel.de/new-page-1 und http://www.anjaprestel.de/mas-que-vinos).

ham, 29. August 2022

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