Szenografie & Szenologie Band 17
transcript Verlag, Bielefeld 2022, ISBN: 978-3-8376-6125-5, 414 Seiten, 3 s-w Abbildungen, kartoniert, Dispersionbindung, Format 22,5 x 14 cm, € 49,00
Wer die Verlagsankündigung der jüngsten Publikation des an der Fachhochschule Dortmund Medienwissenschaften lehrenden Autors zahlreicher Monografien zur philosophischen und historischen Problematisieren von Inszenierung im medialen Kontext und Mitherausgebers der Reihe »Szenografie & Szenologie« liest, rechnet mit einem anspruchsvollen, in die Tiefe gehenden, aber allgemein verständlichen Sachbuch. Der Verlag kündigt die Publikation »Das Karussell. Schwindel, Tausch und Täuschung. Szenen einer Medienphilosophie« so an:
„Das Karussell ist eine Maschine, in der die Tauschparameter von Sinn und Sinnlichkeit im szenischen Arrangement erprobt werden. Ab dem 19. Jahrhundert wird der Auszug wissenschaftlich-medialer Schwindelmaschinen aus den Laboren der Psychophysik Teil einer psychischen Festkultur, die sich von der physisch orientierten Kirmeswelt absetzt. Ralf Bohn liest Medienszenen des Karussells in Literatur, Film, Architektur, Fotografie und Malerei als Illustrationen von physischem Schwindel, ökonomischem Tausch und medialer Täuschung. Damit zeigt er auf, wie durch Spielorte legitimierter Überschreitung die Tauschökonomie jenseits von Moral und diesseits pathologischer Abgründe ausgetestet wird.“ (https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-6125-5/das-karussell-schwindel-tausch-und-taeuschung/).
Wer sich darüber hinaus dafür interessiert, warum Ralf Bohn das Thema aufgegriffen hat, kann sich auf derselben Website seine Antworten auf folgende Fragen ansehen:
„1. Warum ein Buch zu diesem Thema?
Um ein Gegenbild zur romantischen Nostalgie der Karussellkonjunktur des 19. Jh. zu bieten. An der kindlichen Einübung im Karussellschwindel ist ablesbar, dass Rollenspiel und Rausch Zustände sind, in denen der Wechsel zwischen Körperbelastung und -entlastung mit Vergnügen antrainiert werden will. Das Buch analysiert Szenen, in denen die ökonomische Maschine mit der infantil-motorischen Maschine lustvoll kurzgeschlossen wird, Täuschung und Schwindel im Tausch somit legitimiert werden.
2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?
Unter anderem mit dem Karussell beginnt um 1800 die psycho-physische Motorik der Lust in die Ökonomie einzuziehen. Vergnügen, Schwindel, Desorientierung werden zu wissenschaftlichen Themen. Von den Wissenschaften wandern die Schwindel- und Täuschungsinstrumente schnell in die Vergnügungsparks. Dieser Austausch einer Ökonomisierung der Lüste und ihrer Instrumentalisierung ist bislang allenfalls von soziologischer, nicht aber aus medienphilosophischer Perspektive untersucht worden.
3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in den aktuellen Forschungsdebatten zu?
Der Blick auf die Zirkularität von Arbeitsdisziplin – Aufmerksamkeit – Monotonie – Rausch – Körperaufhebung – Erholung eröffnet ein anderes Forschungsarrangement: Szenen, in denen das Karussell zwischen ›Kirche‹ und ›Kaufhaus‹ (Nietzsche) eine zentrifugale Kraft entfaltet, die einen transökonomischen Raum eröffnet. Szenen, in denen das naive Karussell einen ganz dezidierten Ort in der Ökonomie der Lust und ihrer Verdrängung einnimmt, gilt es jenseits aller Moral zu analysieren.
4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten diskutieren?
Die Verwandtschaft von Karussell und Kino, aber auch die Tendenz, Urbanität mit Event und Vergnügen zu kombinieren, würde eine Diskussion mit Filmemachern wie Philosophen, aber auch mit jenen Handwerkern interessant machen, die Karusselle aktuell sowohl nostalgisch wie auch futuristisch gestalten und im ›Konsumzirkus‹ betreiben – nicht zuletzt, um die Frage zu klären, was denn Vergnügen an Taumel, Schwindel, Täuschung macht – und warum wir uns denn alle gerne täuschen lassen wollen und warum eben nicht.
5. Ihr Buch in einem Satz:
Das Karussell verursacht einen Schwindel, der zwischen Stillstand und Raserei sinnlich moderierte Vermittlungen vortäuscht.“ (Ralf Bohn a. a. O.)
Demnach verspricht die Lektüre der Monografie einen neuen Blick auf die gesellschaftlichen und kulturellen Funktion und Folgen des beim kindlichen Karussellfahren lustvoll erfahrenen und eingeübten Schwindels. Beim Lesen stellt sich dann allerdings in den 13 Kapiteln des ersten Teils »Parameter einer Ökologie des Schwindels« selbst ein Schwindel ein, weil der Autor den Leser mit seiner Vielzahl von Verweisen auf Reflexionen zum Thema von Autoren wie Alfred Sohn-Rethel, Karl Marx, Henri Bergson, Edgar Allen Poe, Pierre Klossowski, Sigmund Freud, Michel Foucault, René Descartes, Robert Pfaller, Gilles Deleuze, Bertolt Brecht, Julien Offray de La Mettrie und Hermann von Helmholtz regelrecht schwindelig schreibt. Alle Genannten haben ihren Teil zur Erfassung und Eingrenzung des Themas beigetragen und verdienen es, zitiert zu werden. Aber in der Fülle der Verweise geht die Übersicht und die Orientierung verloren. Es wird einem schwindelig und man fragt sich, ob man etwas übersehen oder nicht präzise verstanden hat. Man blättert zurück, liest die Kapitel ein zweites Mal, und merkt, dass dieser Teil der Publikation beim ersten Lesen wohl nur von einem Fachpublikum in Gänze verstanden werden kann. Die Kapitel sind dicht, anspielungsreich und bis an den oberen Rand gefüllt.
Man versucht sich dann im zweiten, »Das Karussell im Kontext von Medieninszenierungen« überschriebenen Teil und ist erleichtert, dass man Bohns Ausführungen zu Walter Benjamins Denkbild »Karussellfahrendes Kind« (https://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/20Jh/Benjamin/ben_eb30.html), Roberts Musils Text »Inflation. Das Karussell als Ort der Verausgabung« (https://www.transcript-open.de/doi/10.14361/9783839461259-018), Alfred Hitchcocks Film »Vertigo« (https://de.wikipedia.org/wiki/Vertigo_–_Aus_dem_Reich_der_Toten), dem von Napoleon nach der Schlacht von Austerlitz in Auftrag gegebenen »Arc de Triomphe de l’Étoile« und weiteren Medieninszenierungen des Karussells versteht (https://de.wikipedia.org/wiki/Arc_de_Triomphe_de_l’Étoile).
„Während der erste Teil …das ökonomische Verhältnis von Tausch und Schwindel in Parametern zu sortieren versucht, szenifiiziert der zweite Teil das Karussell als Objekt, in dem die drei Ordnungen des Schwindels dramatisch wechselwirken. Das geschieht in einer Darstellung populärer Medieninszenierungen, in denen das Karussell real, symbolisch oder funktional in Erscheinung tritt. Es ist nicht immer das Karussell selbst, sondern auch dessen Effekt, der Schwindel, der sich in den Figuren mathematischer Kegelschnitte ein dramaturgisches Pendant gibt. Nicht immer läuft die Ökonomie der Verräumlichung kreisförmig oder elliptisch. So zeigt das Märchen vom Hasen und Igel nicht wirklich einen Rundlauf, sondern ein Hin- und Her, während der Western HIGH NOON die Ökonomie auf den Affekt des Duells reduziert oder VERTIGO sowohl den Höhenschwindel als auch den kriminellen Schwindel konfiguriert und so einen Übergang zwischen Moral und Ökonomie, Pathologie und (krimineller) Vernunft anzeigt. Medieninszenierungen des Karussells spielen aber auch mit komplexen Figuren, Orten und Wettkämpfen, mit Erwartungserweckung und deren Erfüllung, mit Parabeln, Hyperbeln, Schrauben und Knoten, die sich alle der Disziplinierung von Ursache-Wirkungsketten entziehen.
Der dritte Teil widmet sich einer historischen Konturierung des Karussells, die auch eine Geschichte von Askese, Opfer, Gabe und Verausgabung ist. Insbesondere in der Symbolik des Karussells als Haltepunkt, Ankerplatz, Drehachse der Erschwindelung einer anderen Wirklichkeit … werden wir die Polarisierung von asketischer und rauschhafter Komponente erkennen. Unsere Referenz ist die Nietzsches: der zerrissene Gott Dionysos.
Historisch betrachtet hat das Karussell zwei Wurzeln, die eine ist das Ringestechen, ein Trainingsgerät für angehende Ritter, die andere ist der Festzug, der Umzug mit Reiterei. Die eine dient der Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit, die andere schult einen Betrachter für Momente der Anökonomie.
Wenn im dritten Teil nach einem Halte- oder Orientierungspunkt jenseits des Schwindels gefragt wird, ist von der Überwindung des Todes die Rede. Dessen Grenzerfahrung ist Angst, Verlust einer stabilisierenden Repräsentation, Todesabwehr. Die Angst ist für Lacan das, was nicht täuscht“ (Ralf Bohn S. 45 f). „›Das, was wir letzten Endes erwarten, und was die wahre Substanz der Angst ist, ist das, was nicht täuscht, das Außer-Zweifel. […] Die Angst ist nicht der Zweifel, die Angst ist die Ursache des Zweifels … Der Zweifel … dient nur dazu, die Angst zu bekämpfen, und zwar eben durch Köder. Es geht darum, das zu umgehen, was in der Angst an schrecklicher Gewissheit besteht‹ (Jaques Lacan nach Ralf Bohn S. 406).
Der Zweifel hat nicht nur zwei Seiten. Der Zweifel verursacht das Sich-Drehen im Kreis. Der Zweifel ist eine Art, den Ausweg zu suchen, die banale Evidenz des Todes in eine Wette auf das Leben umzumünzen. Es gilt, einen Handel, einen Aufschub zu erwirken. Dem Zweifel entspricht die Zerstreuung. Das sind die Köder, die mir vom Anderen angeboten werden: Verlockungen der Kirmes, der Unterhaltung, der medialen Kaleidoskope. Hier soll der Zweifel positiv wählen dürfen und nicht ausschließen müssen. Hier wird der Tod in kleine Münze gestückelt … Das was man als Arbeit aufwendet, dient dazu, den Schwindel wieder einzuführen. Der Philosoph, so Kafka, erhascht nicht, was zu erhaschen nicht ist. Seine Faszination gilt der Motorik des anderen Schauplatzes, sich selbst zu sehen, von jenem Karussell aus“ (Ralf Bohn S. 406 f.).
ham, 5. August 2022