Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 7. Oktober 2021 – 9. Januar 2022 im Kunstmuseum Bonn, mit einem Vorwort von Stephan Berg und Texten von Stefanie Kreuzer, Christoph Schreier, Domenico Quaranta, Nicolas Liucci-Goutnikov und Robert Eikmeyer

Wienand-Verlag, Köln, 2021, ISBN 978-3-86832-632-1, 156 Seiten, ca. 150 farbigen Abbildungen, Klappenbroschur, Format 32.5 x 24 cm, € 28,00

Passagierscheine in die Zukunft können zwar gegebenenfalls von wem auch immer ausgestellt werden. Aber ob sie Wege in die Zukunft eröffnen, ist durchaus nicht ausgemacht. „Ein ›Passagierschein in die Zukunft‹ trägt ein Versprechen und zugleich eine Vision in sich. Hat er noch Gültigkeit und ist einlösbar für eine erst zu erreichende, kommende Zeit? Mit dieser projektiven Aussicht spielt der Titel der Ausstellung auf die visionäre Kraft von Kunst an, die … gelegentlich auch unser Handeln beeinflussen kann“ (Stefanie Kreuzer S. 15). Joseph Beuys, der 2021 100 Jahre alt geworden wäre, hat mit der verändernden Kraft der Kunst gerechnet. Er hat seine seit 1965 in hoher Auflage hergestellten Multiples in der Vorstellung erarbeitet, dass sie den Gesellschaftskörper gleichsam viral durchdringen und einen „kommunikativen Prozess zwischen Künstler und Betrachter:innen freisetzen“ können, „wobei sich Beuys selbst als ›Sender‹ begriff“ (Stephan Berg S.).

Diese Vorstellung ist in seinem Auflagenobjekt ›Telefon S ––– Ǝ‹ aus dem Jahr 1974 eindrücklich in Szene gesetzt (vergleiche dazu https://pinakothek-beuys-multiples.de/product/telephon-s-e/?lang=de). „Es besteht, wie oft bei Beuys, aus einfachen, leicht verfügbaren Materialien, hier aus zwei einseitig geöffneten Konservendosen, die durch eine etwa körperlange Kordel miteinander verbunden sind. Spricht man von der einen Seite in den Hohlraum der Dose, so werden die Worte, akustisch verstärkt, über die Kordel zur anderen Dose, zum Ohr des Empfängers transportiert. ›Schnurtelefon‹ nennt man das Ganze, ein simples Konstrukt, das, paradigmatisch für Beuys, die Priorität des Kommunikations- gegenüber dem Formprinzip zur Anschauung bringt. Sein Ziel ist nicht, der Kunstgeschichte ein weiteres … Kapitel hinzuzufügen, sondern möglichst viele Menschen für seine Ideen und Visionen zu gewinnen, und seine Editionen repräsentieren – neben den Reden und öffentlichen Diskussionen, eines seiner zentralen Handlungsinstrumente. Zumeist kleinformatig und aphoristisch verdichtet, verkörpern sie als homöopathisch wirksame Dosen die ‚dynamische Medizin‘, mit deren Hilfe Beuys eine Gesellschaft zu heilen sucht, in der nicht nur die Natur, sondern auch das Humane, oder, wie er sich ausdrückt, die ‚Seele‘ des Menschen bedroht ist“ (Christoph Schreier S. 23 f.). „Das Kunstmuseum Bonn verfügt mit 475 Multiples über die europaweit größte Sammlung dieser Auflagenarbeiten, in denen sich der ganze Anspruch des Beuys’schen Wirkens verdichtet widerspiegelt“ (Stefan Berg a. a. O.). 

Die Kuratoren der Bonner Ausstellung, Stefanie Kreuzer und Christoph Schreier argumentieren mit guten Gründen vorsichtiger. Sie wissen, dass Kunst ambig und offen für sich mit den Zeitläuften wandelnde Interpretationen bleibt. Kunst bedarf der aktiven Mitarbeit der Rezipient:innen und setzt dann manchmal, aber durchaus nicht immer „ein großes Erkenntnispotential … frei“ (Stefanie Kreuzer S. 15).

Die Bonner Ausstellung kann deshalb als eine Art Lackmus-Test für die Frage verstanden werden, wie weit das Veränderungspotential der Kunst 35 Jahre nach dem Tod von Beuys noch reicht. Sie stellt einer Auswahl Beuys’scher Multiples wie seine Capri-Batterie von 1985 (vergleiche dazu https://www.pinakothek.de/kunst/joseph-beuys/capri-batterie) und seinen ›Schlitten‹ von 1969 (vergleiche dazu https://www.lempertz.com/de/kataloge/lot/961-1/1036-joseph-beuys.html) Arbeiten von Katinka Bock wie ihre Arbeit ›Landumland, 2019, Jon Rafmans Arbeit ›Punctured Sky: Vol 1‹, 2021 und Christian Jankowskis Arbeit ›Social Plastic Surgery‹, 2021 gegenüber. Bock (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Katinka_Bock), Rafman (vergleiche dazu https://en.wikipedia.org/wiki/Jon_Rafman) und Jankowski (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Jankowski) greifen den Beuys’schen Impuls auf, entwickeln ihn weiter und konterkarieren ihn. (vergleiche dazu etwa https://www.kunstmuseum-bonn.de/wp-content/uploads/2021/09/KMB_Beuys_Folder_final.pdf).

Insbesondere Christian Jankowski macht die Probe aufs Exempel, indem er Besitzer von Beuys-Multiples aus Bonn und Umgebung fragt, was die Multiples mit ihnen gemacht haben. Ihre Antworten werden in seinen Beitrag zur Ausstellung integriert. Eine erste Antwort lautet: „Auch andere Menschen profitieren davon, dass ich es besitze; wenn es ebendiesen positiven Einfluss auf mich ausübt, bin ich auch ein anderer Mensch oder ein positiverer Mensch oder ein kreativerer Mensch“ (vergleiche dazu den Katalog S. 136). Eine zweite: „Mich hat überzeugt an der Idee, etwas zutiefst Zerstörtes neu zu beleben. Diese Idee dahinter, die war für mich ein wichtiger Anstoß zu sagen: ›Doch, das riskieren wir einfach‹“ (vergleiche dazu den Katalog S. 138). Und eine dritte: „Na ja, es ist ja im Rahmen des Bildungsbürgertums, wenn man ganz ehrlich zu sich selber ist, schon schick, irgendwie so etwas zu haben“ (vergleiche dazu den Katalog S. 140).

Ob Jankowski freilich seine in ›Social Plastic Surgey‹ veröffentlichen Fotografien von Schönheitsoperationen und den von den Operateuren nachgestellten Beuys-Gesten in die Ausstellung eingebracht hätte, wie etwa die aus ›Joseph Beuys, I like America and America likes me, 1974‹, wenn die Ausstellung deutlich nach dem 24. Februar 2022, also nach dem russischen Angriff auf die Ukraine eröffnet worden wäre, bleibt zumindest fraglich (vergleiche dazu https://en.wikipedia.org/wiki/I_Like_America_and_America_Likes_Me und https://www.ksta.de/kunstmuseum-bonn-koennen-kuenstler-noch-etwas-mit-joseph-beuys-anfangen–39074794?cb=1647344204866&). Möglicherweise hätte er dann auch Operationen aus Feldlazaretten in der Ukraine wie dem von Israel gelieferten gezeigt (vergleiche dazu https://www.fokus-jerusalem.tv/2022/03/04/israel-baut-ein-feldlazarett-in-der-ukraine-auf/).

Der für die Ausstellung erarbeitete und von dem Kölner Grafiker Uwe Koch glänzend gestaltete Katalog hat Format: Man möchte ihn immer noch einmal anschauen und legt ihn nur ungern wieder aus der Hand.

ham, 15. März 2022

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