Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Elke Link
Originaltitel: 1000 Years of Joys and Sorrows. A Memoir
Originalverlag: Crown
Pinguin Verlag, München 2021, ISBN 978-3-328-60231-6, 416 Seiten, zahlreiche schwarz-weiße und Farbabbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 23 x 16 cm, € 38,00 (D) / 39,10 (A) / CHF 49,90
Die 2019 in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf gezeigten bisher größten Werkschau Ai Weiweis in Deutschland stand unter dem Titel „Wo ist die Revolution?“ Sie hatte sich auf Werke konzentriert, die für die von Weiwei beklagte Krise der Menschlichkeit stehen. Eine Wandtapete aus Handy-Bildern zum Thema „Flucht“, ein 17 Meter langes Totenschiff aus Bambus und Sisal mit dem Titel „Kreislauf des Lebens“, 2046 an 40 Kleiderständern aufgehängte frisch gereinigte Kleidungsstücke von Flüchtlingen und blau-weiße Porzellanvasen und -Teller haben an jüngste Kriege, Flucht und Tod erinnert (vergleiche dazu und zum Folgenden die 14 Bilder aus der Ausstellung: https://www.dw.com/de/ai-weiweis-umfassende-ausstellung-in-düsseldorf-wo-ist-die-revolution/a-48772062). In 142 sargähnlichen Transportkisten war von Beton gereinigter und wieder gerade gebogener Baustahl aus Gebäuden ausgestellt, die 2008 bei der Erdbebenkatastrophe von Sichuan eingestürzt waren. Unter den 70 000 Toten waren mehr als 5000 Kinder; korrupte Lokalpolitiker hatten beim Bau der Schulen an Material gespart.
Während die Tate Modern 2011 Ai Weiweis „Sonnenblumenkerne“ in London ausgestellt hat (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Sunflower_Seeds), wurde der Künstler auf dem Weg nach Hongkong ohne Anklage verhaftetet und erst 21/2 Monate später unter Auflagen entlassen. Er sollte 1,7 Millionen Euro Steuern nachzahlen und erhielt bis 2015 Reiseverbot. Die 1,7 Millionen Euro konnte er über Spenden finanzieren, für die er Schuldscheine ausgestellt und sie wieder zurückgezahlt hat. Am 22. Juli 2015 erhielt er seinen Reisepass zurück; am 1. November trat er seine Gastprofessur in Berlin an (vergleiche zu den Details https://de.wikipedia.org/wiki/Ai_Weiwei). Seither ist er endgültig zu einem Globalkünstler geworden (vergleiche dazu Thomas E. Schmidt, Auf den Spuren der Väter. Der chinesische Globalkünstler Ai Weiwei erzählt sein Leben und die Geschichte seiner Familie. In: DIE ZEIT Nº 47 vom 18.11.2021, S. 67).
In seinem Nachwort berichtet er von seiner Reise mit seinem Sohn Ai Lao auf die Insel Lesbos. Dort sahen sie, wie ein Schlauchboot mit Flüchtlingen in orangefarbenen Schwimmwesten ankam. „Das war meine erste echte Begegnung mit einer Gruppe Migranten, die aus ihrer kriegsgebeutelten Heimat flohen. Sie machte alle vorgefassten Meinungen zunichte und konfrontierte mich mit einer Welt des Leids und der Verzweiflung. Der Anblick des Bootes ergriff mich tief, es hatte die Kraft einer heiligen Offenbarung. Als sich das Boot dem Strand näherte, war das Weinen der Babys an Bord zu hören, vermischt mit den Schreien Erwachsener. Dann kletterten nacheinander Frauen in langen Kleidern und bärtige Männer aus dem Schlauchboot und stolperten an Land. Manche waren so schwach, dass sie an den Strand getragen werden mussten …
In den folgenden Monaten drehte ich einen Dokumentarfilm über die Krise, und um ihre Ursachen und Wirkungen besser zu verstehen, unternahm ich weite Reisen: zu den Flüchtlingscamps in der Osttürkei, … zu den palästinensischen Flüchtlingssiedlungen im Libanon …, zu den … syrischen Flüchtlingslagern in Jordanien und dem Niemandsland an der nördlichen Grenze. Ich fuhr nach Jerusalem und zum blockierten Gazastreifen und später an die amerikanische Grenze zu Mexiko. Ich besuchte eine neu eingerichtete Flüchtlingsunterkunft in Tempelhof, ehemals einer der Hauptflughäfen von Berlin. Aber ich fand niemanden, der bereit war, zuzugeben, dass es jetzt schlichtweg ein Flüchtlingslager war … Ich reiste nach Idomeni an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien, wo mehr als zehntausend Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Pakistan gestrandet waren: Die Straße, die Richtung Norden nach Europa führte, war plötzlich gesperrt worden, und damit wurden die Hoffnungen und Träume zahlloser heimatloser Familien zunichtegemacht. Nachdem ich mehrere Monate gedreht und Interviews geführt hatte, wurde mir das volle Ausmaß und die Schwere dieser entsetzlichen humanitären Krise immer klarer.
Während dieser Zeit gab es immer wieder Berichte darüber, dass Flüchtlinge bei der Überfahrt ertranken; 2015 ertranken jeden Tag zwei Kinder in der Ägäis. Irgendwann wollten die Menschen solche Geschichten nicht mehr hören. In den meisten europäischen Ländern erhielten die Migranten keine Unterstützung und die Diskriminierung gegen die Überlebenden bewaffneter Konflikte war häufig schlimmer als die Kriege, vor denen viele flohen. Am ergreifendsten war, dass die Gefahren der Reise und die Schwierigkeiten, die die Flüchtlinge am anderen Ufer erwarteten, nichts an ihrem Entschluss änderte, die Überfahrt zu wagen. Sie strömten weiterhin herein wie eine Flut, denn ihre Kinder sollten lieber inmitten von Vorurteilen überleben, statt ihr Leben in den vom Krieg zerstörten Trümmern ihres Heimatlandes zu gefährden … Kinder stellen im Exil die letzte Hoffnung dar, denn wenn man sein Kind verliert, war die Flucht vergebens. Mein Vater, mein Sohn und ich … haben das Land verlassen, in dem wir geboren wurden. Ein Gefühl der Zugehörigkeit ist von zentraler Bedeutung für die eigene Identität, denn nur dann kann man eine geistige Zuflucht finden: ›Erst wenn du dich niedergelassen hast, kannst du dein Leben weiterführen‹, heißt es in einem chinesischen Sprichwort“ (Ai Weiwei S. 401 ff.; vergleiche dazu auch Ai Weiwei stellt Bild von Aylan Kurdi nach. In: ntv Panorama vom 1. Februar 2016: https://www.n-tv.de/panorama/Ai-Weiwei-stellt-Bild-von-Aylan-Kurdi-nach-article16902596.html).
Der Titel seiner Erinnerungen „1000 Jahre Einsamkeit und Leid“ geht auf ein Gedicht seines 1929 geborenen Vaters Ai Qing zurück, dem der erste Teil der Erinnerungen gewidmet ist (vergleiche zu den biografischen Details und zum Werk von Ai Qing https://de.wikipedia.org/wiki/Ai_Qing). Der aus einem wohlhabenden Hause stammende Ai Qing war nach dem Studium der Malerei unter anderem in Paris und ersten Gedichten zu einem der bekanntesten chinesischen Lyriker aufgestiegen. 1935 wurde er von der Nationalen Volkspartei Chinas wegen angeblich radikaler Gedanken verhaftet und unter Arrest gestellt. 1941 trat er der Kommunistischen Partei Chinas bei; er war mit Mao Tse-tung eng vertraut und von ihm geschätzt. Trotzdem wurde er 1958 als „Rechtsabweichler“ zur „Umformung der Gedanken“ (Ai Weiwei S. 132) in einen Forstbetrieb namens Nanheng-Wald in der großen nördlichen Wildnis geschickt, wieder rehabilitiert und im Zuge der Kulturrevolution zehn Jahre später nach Xinjiang im Nordwesten Chinas verbannt. Dort musste der damals gerade elf Jahre alte Ai Weiwei mit seinem Vater über Monate in einem Erdloch hausen. Wenn ein Schwein über das Dach aus Lehm und Zweigen lief, rieselte die Erde herab.
Nach Maos Tod konnte Ai Qing und seine Familie nach Peking zurückkehren; er galt jetzt als Staatsdichter, veröffentlichte zwischen August 1979 und 1982 mehr als hundert Gedichte, reiste ausgiebig in China und weltweit. 1979 ließ er in München sein Gedicht über die Berliner Mauer vortragen. Die letzten Zeilen dieses Gedichts atmen den Geist der Freiheit, der Zuversicht und der Hoffnung:
„Eine Mauer wie ein Messer
schneidet die Stadt in zwei Teile,
die eine Hälfte der Osten,
die andere Hälfte der Westen.
Wie hoch ist die Mauer?
Wie dick?
Wie lang?
Sie mag hoch sein und dick und lang,
doch mit der Chinesischen Mauer kann sie es nicht aufnehmen.
Ganz gleich wie hoch und dick und lang,
sie ist eine Spur der Geschichte,
eine Wunde der Nation.
Niemand mag eine solche Mauer.
Drei Meter hoch,
fünfzig Zentimeter dick,
fünfundvierzig Kilometer lang, was bedeutet das schon?
Selbst wenn sie tausend Mal höher
und tausend Mal länger wäre,
wie könnte sie Wolken, Wind, Regen und Sonne
aufhalten?
Wie könnte sie Vogelflug und Nachtigallengesang
aufhalten?
Wie könnte sie das fließende Wasser und die Luft
aufhalten?
Wie könnte sie
die Gedanken von Hunderttausenden aufhalten,
freier als der Wind,
ihr Wille fester als die Erde,
ihr Hoffen beständiger als die Zeit?“
(Ai Qing, Die »Mauer«, 1979).
1983 zieht Ai Qing folgende Lebensbilanz: „›Um ehrlich zu sein, empfinde ich, nachdem ich so viele Jahre der Unruhe und Angst durchgemacht habe, eine absolute Gelassenheit. Viele jüngere Menschen als ich sind verstorben, während ich noch lebe. Wenn ich vor sieben oder acht Jahre gestorben wäre, dann hätte das kaum mehr bedeutet, als wenn ein Hund gestorben wäre. Seit der Veröffentlichung von ›Zusammenkunft‹ im Jahr 1932 ist … ein halbes Jahrhundert vergangen. Meine Schriftstellerkarriere hat einen langen, dunklen, schwarzen Tunnel durchlaufen, und ich war mir oft nicht sicher, ob ich das lebend überstehen würde, aber jetzt bin ich am anderen Ende angelangt‹“ (Ai Qing nach Ai Weiwei S. 174). 1969 wird Ai Qing mit staatlichen Ehren bestattet.
Der zweite Teil der Erinnerungen beginnt mit Ai Weiweis Aufnahme an der Kunstabteilung der Filmakademie in Peking im Jahr 1978 und seinem Antrag für einen selbstfinanzierten Studienaufenthalt im Ausland im Jahr 1981, der ihn schließlich nach New York, dort an die Parsons School und zu dem irischen Künstler Sean Scully führte. „Parsons glich einem teuren Kindergarten, in dem man einen Haufen eigensinniger Kinder feinsinnig überreden wollte, sich doch anständig zu benehmen. Aber die Zeit dort war wichtig. Ich kam mir vor, als stünde ich am Ufer der Kunst, mit einem weiten Sichtfeld vor mir und einem Wirrwarr an Ideen im Kopf. Ich fing an, nach Konzepten und Ausdrucksformen zu suchen, die mir gefielen“ (Ai Weiwei S. 191).
Nach einer verhagelten Abschlussprüfung im Fach Kunstgeschichte musst er Parsons verlassen, zog umher und landete schließlich bei Richard Pousette-Dart. Pousette-Dart war ein noch aktives Mitglied der New York School; er hat ihn stets dazu ermuntert, das weiterzumachen, was er machen wollte (Ai Weiwei S. 193 f.; vergleiche dazu und zum Folgenden auch https://www.instagram.com/aiww/?hl=de und https://de.wikipedia.org/wiki/Ai_Weiwei). Ai setzte sich mit Andy Warhol und Marcel Duchamp auseinander, wurde mit dem Dichter Allen Ginsberg (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Wong), dem Maler Martin Wong (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Wong) und dem Graffiti-Künstler Keith Haring (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Keith_Haring) bekannt, organisierte seine erste Solo-Ausstellung ›Old Shoes, Safe Sex‹ in der Galerie Wave / Ethan Cohen in Soho (vergleiche dazu https://www.china1980s.org/files/interview/ecftfinalised_201102241659587680.pdf), verdiente sein Geld als Straßenmaler, kam mit seinem Foto des Anarchisten Clay Patterson (vergleiche dazu https://en.wikipedia.org/wiki/Clayton_Patterson) in die New York Times und lernte die Galerie von Mary Boone kennen. Die Ermordung des chinesischen Künstlers Lin Lin im Sommer 1991 machte ihn „empfänglicher für die Absurdität dieser Gesellschaft. Die Gewalt, die im amerikanischen Leben so tief verwurzelt war, dass man ihr nie entrinnen konnte, spiegelte die tiefgreifenden Mängel wider, die in das gesellschaftliche Gerüst dieses Landes eingewoben sind“ (Ai Weiwei S. 216). Unter anderem deshalb kehrte Ai Weiwei 1993 in das nach dem Tiananmen-Massaker von 1989 autoritäre postmaoistische China zurück.
In Peking traf er seinen Vater krank und im Rollstuhl an. Er brauchte etwas Zeit, um sich neu zu orientieren. Er wusste, was er nicht wollte; aber ihm war nicht ganz klar, was er wollte. „Ich war im Zeichen des Hahns geboren, und in einem Jahr, das im selben Zeichen stand, war ich nach Amerika gegangen; jetzt, zwölf Jahre später, war wieder ein Jahr des Hahns und in meinem Leben begann ein neuer Zyklus“ (Ai Weiwei S. 218). Er kauft Antiquitäten, für die sich nach der Kulturrevolution niemand mehr interessierte, zu günstigsten Preisen auf und begann, mit ihnen zu experimentierten. Im Sommer 1994 war ihm dann klar, dass er als Künstler und Kritiker arbeiten, sein Kunstverständnis darlegen, eine neue Art der Wirklichkeit in seiner eigenen Sprache konstruieren, für die Kunst „einen Lebensraum im Untergrund schaffen und zukünftigen Lesern Spuren des Denkens … weitergeben“ wollte (Ai Weiwei S. 227). Im Sommer 1995 lernte er den Kunstsammler Uli Sigg kennen und konnte ihm eine mit dem Coca-Cola-Logo bemalte Graburne aus der Han-Dynastie verkaufen (vergleiche dazu https://kultur-online.net/inhalt/mahjong-chinesische-gegenwartskunst-aus-der-sammlung-sigg). Er entwarf und baute sein Atelier in Coachangdi, war plötzlich als Architekt gefragt und dann auch an der Entwicklung des „Vogelnest“-Stadions für die Olympischen Spiele beteiligt (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalstadion_Peking). Seither schwimmt er „wie ein Fisch im internationalen Kunstbetrieb … Der Antikapitalist wird vom Markt verwöhnt und dieser Markt umgreift auch das Mittelreich“ (Thomas E. Schmidt a. a. O.). Sein Fairytale-Projekt, in dem er 1001 Chinesen auf die Documenta 12 in Kassel brachte, sorgt ödort und international für Aufsehen (vergleiche dazu https://slought.org/resources/fairytale_project).
Er versteht seine Kunst als eine Form der gesellschaftlichen Intervention, die die Werte Gerechtigkeit und Gleichheit fördert, und ist „vom Künstler zu Aktivisten geworden“ (Ai Weiwei S. 281). In China sah er sich in seinem Engagement behindert und um seine Freiheit betrogen. „In der Kunstwelt störte es … viele, dass ich andere gebeten hatte, ebenfalls Stellung zu beziehen. Einer Aussage zufolge verweigerte ich den anderen Künstlern, die ›negative Freiheit‹ – mit anderen Worten, die Freiheit, gar nichts zu tun. In einem Staat, der seinen Bürgern keine politischen Rechte, keine Redefreiheit oder Versammlungsfreiheit zugesteht, … ist ›negative Freiheit‹ nur ein anderer Begriff für Zynismus und Feigheit. Schließlich wurde mir klar, dass ich es nicht nur mit einem gewaltigen, willkürlichen politischen System zu tun hatte, sondern einer weiten Ödnis, in der die Freiheit verhöhnt, der Verrat gefördert und die Täuschung gepriesen wurde“ (Ai Weiwei S. 385). „Mein Verständnis von Freiheit bringt mich als politischer Exilant in Konflikt mit dem autoritären Regierungssystem, das in meinem Heimatland praktiziert wird. Durch den Entschluss, China zu verlassen, habe ich das Gefühl der Zugehörigkeit und eine sichere Basis verloren, ich treibe wie Wasserlinsen auf dem Strom“ (Ai Weiwei S. 404 f.). Bis 2019 lebte er in Berlin, danach bis Frühjahr 2021 in Cambridge und heute in der portugiesischen Kleinstadt Montemor-o-Novo.
ham, 16. Dezember 2021