C.H.Beck Wissen, Verlag C.H.Beck, München 2021, ISBN 978-3-406-77144-6, 144 Seiten, 14 Abbildungen, Softcover, Broschur, Format 18 x 11,8 cm, 9,95 €
Die 2020 ausgebrochene COVID-19-Pandemie hat zu einem noch vor Jahren undenkbaren weltweiten Interesse am Impfen geführt, das weit über die Aufmerksamkeit hinausgeht, die die ersten Massenschutzimpfungen gegen Kinderlähmung in den 1950er Jahren ausgelöst haben (vergleiche dazu https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/60-jahre-polio-massenimpfung-100.html). Die jetzt von dem international renommierten Immunologen, medizinischen Mikrobiologen und Gründungsdirektor em. des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie, Berlin Stefan H. E. Kaufmann vorgelegte Publikation ›Impfen‹ zeichnet wesentliche Stationen der Geschichte des Impfens bis hin zur Entwicklung der Covid-19-Impfstoffe nach und gibt darüber hinaus einen Ausblick auf Impfstoffe der Zukunft gegen Krebs, Autoimmunerkrankungen, Allergien und Impfungen gegen Nikotin, Kokain und Opioide (vergleiche dazu https://www.mpiib-berlin.mpg.de/1829926/stefan-h-e-kaufmann und https://www.chbeck.de/kaufmann-h-e-impfen/product/32309246).
Kaufmann macht deutlich, wie komplex die Immunabwehr ist und verschweigt auch nicht die Risiken des Impfens. Die Hauptlinien der Darstellung können auch von Laien prinzipiell nachvollzogen werden. Wer freilich in der Tiefe verstehen will, wie die Vakzine auf der Zellebene angreifen, sollte mit den Grundlagen der Mikrobiologie vertraut sein.
In seinem Schlusskapitel erinnert Kaufmann an die 1980 durch die WHO konstatierte Ausrottung der Pocken. Sie ist aus heutiger Sicht gerade noch rechtzeitig gelungen und war zudem kostengünstig: Die Gesamtkosten der Impfkampagne werden auf 300 Millionen US-Dollar geschätzt. „Ein Schnäppchen, bedenkt man, dass sich die Pocken-assoziierten Kosten zuvor Jahr für Jahr auf rund 2 Milliarden US-Dollar summiert hatten … Zehn Jahre später wäre dies vielleicht schon nicht mehr möglich gewesen, denn in den 1980er Jahren breitete sich HIV/Aids immer schneller aus und wurde zur Pandemie. War der Pocken-Lebendimpfstoff schon für gesunde Menschen nicht ohne Risiko (im Mittel kam es unter 100 000 gesunden Geimpften zu ein bis zwei lebensbedrohlichen Komplikationen), wäre eine Pockenimpfung für HIV-Infizierte mit Immunschwäche ungleich kritischer gewesen … Aktuell erleben wir eine Katastrophe, deren ›Zutaten‹ diesem Szenario nicht unähnlich sind: Die COVID-19-Pandemie trifft auf die ohnehin schon verheerenden Seuchen HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose. Die Folgen sind fatal.
Infolge des Ausbruchs des neuen Erregers SARS-CoV-2 wurde verständlicherweise ein Großteil der weltweiten Gesundheitsressourcen auf die Pandemie ausgerichtet. Dadurch hat sich – von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeachtet – die bereits zuvor dramatische Lage in Bezug auf die drei großen Seuchen sowie die vernachlässigten Krankheiten rasant verschlechtert. In vielen Ländern sind die Gesundheitssysteme zusammengebrochen, die Versorgung der Menschen, die an HIV/Aids, Malaria, Tuberkulose leiden, stagniert … Einschränkungen im internationalen Schiffs- und Flugverkehr unterbrechen den Nachschub dringend benötigter Medikamente. Auch die Forschung und Entwicklung von Impfstoffen, Medikamenten und Diagnostika für Nicht-COVID-19-Krankheiten ist gebremst. Schon jetzt ist sicher: Die von der WHO für die 2020er Jahre gesetzten Ziele zur Beendigung der Epidemien von Aids, Tuberkulose und Malaria (sowie die Eindämmung vernachlässigter Krankheiten) werden weit verfehlt“ (Stefan H. E. Kaufmann S. 138 f.).
Möglicherweise werden allein an der Tuberkulose bis 2025 über 6 Millionen Menschen zusätzlich erkranken; 1,4 Millionen versterben, weil die Medikamente für die Diagnostik fehlen. Bei einer Unterbrechung der antiretroviralen Therapie über sechs Monate müsste mit 500 000 zusätzlichen Aids-Toten und bei der Malaria mit einer Verdoppelung der Todesfälle gerechnet werden. Natürlich könnte ein größtmöglicher Einsatz von Geld und Ressourcen auch für HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose schnelle Erfolge bei der Impfstoffforschung- und -entwicklung bewirken. Die „Pandemie hat eindrücklich gezeigt, dass es absolut möglich ist, … noch einen Gang zuzulegen. Zugleich hat sich die Notwendigkeit dafür weiter verschärft. Die Investitionen mögen hoch sein, die Einsparungen wären um ein Vielfaches höher“ (Stefan H. E. Kaufmann S.140).
ham, 4. August 2021