Siedler Verlag, München, 2021, ISBN: 978-3-8275-0067-0, 631 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Lesezeichen und einer ausführlichen Bibliografie, Format 15,5 x 23 cm, € 34,00 (D) / € 35,00 (A) / CHF 46,90
Seit den am 9. Oktober 2019 live ins Internet übertragenen Schüssen auf die Holztüre der Synagoge in Halle und der anschließenden Ermordung einer zufällig vorbeikommenden Frau und eines Gastes in einem nahen Döner-Imbiss ist die fortwährende Präsenz des Antisemitismus in Deutschland überdeutlich. Deshalb stiftet es Sinn, dass die Türe der Hallenser Synagoge mit den Einschusslöchern den Titel der umfassenden Studie von Peter Longerich über den modernen Antisemitismus in Deutschland grundiert (vergleiche dazu auch https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/316638/der-anschlag-von-halle). Der deutsche Zeithistoriker unternimmt nichts weniger als den Versuch, die Gegenwart und Wandlungsfähigkeit der Judenfeindschaft und des Antisemitismus in der deutschen Geschichte von 1780 bis 2010 zu kontextualisieren und zu zeigen, wie der Antisemitismus auf „eine nicht gelungene nationale Identitätsbildung“ geantwortet hat (Peter Longerich S. 557). Schon seine Forschungen zur »Politik der Vernichtung« (1998) und ihrer Resonanz in der deutschen Bevölkerung, »Davon haben wir nichts gewusst!« (2006), zu »Heinrich Himmler« (2008), »Joseph Goebbels« (2010) und schließlich auch zu »Hitler« (2015) wurden international beachtet. Auch seine deutsche Geschichte des Antisemitismus wird man nicht unberührt zur Seite legen.
Longerich fasst unter Antisemitismus alle Einstellungen und Verhaltensweisen zusammen, „die Personen, die als Juden wahrgenommen werden, aufgrund dieser Zurechnung zum jüdischen Kollektiv negative Eigenschaften unterstellen. Es geht also um das Zuordnen bekannter antijüdischer Stereotype auf eine Person oder eine Personengruppe, die als Juden eingestuft werden, sei es nun als Angehörige der jüdischen Religion, des jüdischen Volkes oder einer jüdischen ›Rasse‹, als Bürger Israels – oder auch auf Menschen, die tatsächlich gar keine Verbindung zum Judentum haben. Dabei geht es aber nicht nur um bloße Vorurteile gegenüber Juden; vielmehr konstruiert der Antisemitismus aus den negativen Eigenschaften, die er den Juden zuschreibt, eine Weltanschauung, in der sie als Verursacher aller möglichen Übel eine zentrale Rolle einnehmen. Daher sind die Übergänge vom geläufigen, unreflektierten Vorurteil zur gefestigten Ideologie durchaus fließend“ (Peter Longerich S. 8). Diese Definition von Antisemitismus als Feindschaft gegen ein vorgestelltes Kollektiv wurde gewählt, um das Phänomen möglichst breit zu definieren; „sie ist so auch auf andere Epochen der Judenfeindschaft anwendbar. Sogleich sollte auch die Vermutung zurückgewiesen werden, dass es sich bei Antisemitismus um eine Reaktion auf tatsächliches jüdisches Verhalten handelt“ (Peter Longerich S. 557).
Longerich konzentriert sich zeitlich auf die Geschichte und Vorgeschichte des modernen Antisemitismus und fragt, in welchen Formen und Begründungszusammenhängen der nach wie vor »moderne« Antisemitismus mehr als siebzig Jahre nach Auschwitz weiterleben kann. Vor der Einführung des Begriffs in den 1870-er Jahren spricht er konsequent von Judenfeindschaft. Räumlich konzentriert er sich vorwiegend auf Deutschland und damit auf das Land, das sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts der Emanzipation der Juden widersetzte und „in dem 1933 eine radikalantisemitische Bewegung an die Macht kam, um ihre judenfeindlichen Vorstellungen in der denkbar brutalsten Form nicht nur im eigenen Land, sondern in ganz Europa zu realisieren“ (Peter Longerich S. 11 f.). Die religiös begründete mittelalterliche und frühneuzeitliche Judenfeindschaft war durchaus schon mit weltlichen Interessen vermischt; sie hat auch noch nach den 1870-er Jahren weiter existiert, allerdings stark mit säkularen Elementen vermischt. Die Wahrnehmung der Juden als Rasse hat erst nach 1900 einen überwiegend deterministischen Zug erhalten, nachdem sich die biologische Erkenntnis durchgesetzt hatte, „dass das Erbgut durch die im Laufe des Lebens erworbene Eigenschaften nicht verändert wird: Wenn man nun einen Menschen einer Rasse zuordnete, dann schien auch die Teilhabe an kollektiv vererbbaren, nicht veränderbaren Eigenschaften unwiderruflich festgelegt. Vor 1900 wird der Begriff der Race hingegen überwiegend nicht in einer deterministischen, d. h. eine Veränderbarkeit der Juden ausschließenden Art und Weise gebraucht, sondern er stellt eine inhaltlich weitgehend offene Beschreibung der Juden als Abstammungsgemeinschaft dar und wird häufig synonym für jüdisches Volk oder jüdische Nation verwendet“ (Peter Longerich S. 14 f.).
Wenn man an die Kumulation der Judenfeindschaft durch die verschiedenen Epochen bis zur Verfolgung im »Dritten Reich« denkt, verdient nach Longerich nicht das Kaiserreich, sondern die Weimarer Republik besondere Beachtung, und dies nicht zuletzt wegen einer weit verbreiteten Suche nach einer neuen nationalen Identität. „Will man den Antisemitismus verstehen, so genügt es … nicht, ihn als einen irrationalen Ersatz für fehlende Einsicht in tatsächliche Zusammenhänge darzustellen, sondern man muss versuchen, die Argumentationsstrukturen und Handlungsweisen der Judenfeinde im Einzelnen zu analysieren, und zwar ausgehend von dem Selbstverständnis der Wir-Gruppe, die durch den Ausschluss der Juden gestärkt werden soll. Dies geschieht insbesondere durch sprachwissenschaftliche und diskursanalytische Studien … Im Vordergrund sollte aber die Einsicht stehen: Antisemiten greifen Juden an, weil sie Juden treffen und weil sie damit ihre eigenen Identitäts- und Selbstwertgefühl stärken wollen. Dies gilt sowohl für Würzburg, den Ausgangspunkt der Unruhen von 1819 wie für Halle, den Schauplatz des Synagogenanschlags im Jahr 2019“ (Peter Longerich S. 562 f.).
ham, 28. Juni 2021