Siedler Verlag, München, 2021, ISBN: 978-3-8275-0144-8, 318 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 22 x 14,5 cm, € 24,00 (D) / € 24,70 (A) / CHF 33,90
Grenzerfahrungen und Krisen sind dem 1942 in Freiburg im Breisgau geborenen Volljuristen, Präsidenten des Deutschen Bundestags und langjährigen Bundestagsabgeordneten Wolfgang Schäuble ebenso wenig fremd wie die täglichen Herausforderungen der Politik und die Freude an der mittel- und langfristigen Lösung komplexer Probleme. Schäuble wurde am 12. Oktober 1990 bei einem Attentat in Oppenau von einem psychisch kranken Mann niedergeschossen und ist seither auf einen Rollstuhl angewiesen. Am 16. Februar 2000 ist er im Zuge der CDU-Spendenaffäre von seinen Ämtern als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und als Parteivorsitzender zurückgetreten. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2021unterstreicht er, die es ihm nach wie vor Freude bereitet, als Politiker starke Bretter langsam zu bohren (Max Weber) und dabei befriedigende Lösungen zu finden. Für die Fortführung der europäischen Einigung setzt er sich ein, weil uns ein starkes Europa nach seiner Meinung eine bessere Zukunft bietet. Persönliche Zufriedenheit und die Gelassenheit, die Dinge zu nehmen wie sie sind, erhält der Protestant durch seinen Glauben an Gott. Und wenn die Ministerpräsidenten die uneinheitliche Bekämpfung der Corona-Pandemie stört, kann er schon einmal hintersinnig deutlich machen, dass der Bund ihnen durchaus „ein Stück weit helfen“ kann, wenn sie Kompetenzen an den Bund abgeben.
Auch sein jetzt vorgelegtes Sammelwerk „Grenzerfahrungen. Wie wir an Krisen wachen“ verdankt sich Corona. „Unter dem Eindruck der Pandemie, als sich binnen Kurzem vieles grundlegend veränderte und wir erlebten, dass lange Undenkbares plötzlich und schnell möglich wurde, entstand die Idee zu diesem Buch“ (Wolfgang Schäuble S. 307). Die Krisenerfahrung wird zum Ausgangspunkt, Überlegungen zu zentralen Politikfeldern, die er in Reden und Texten als Bundestagspräsident formuliert hat, nicht nur selbst zu überdenken und zu hinterfragen, sondern sie mit Gesprächspartnern aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und den Medien zu diskutieren und weiterzuentwickeln. Der Politiker ist davon überzeugt, dass einmal getroffene Entscheidungen sich überleben oder als falsch erweisen können und dann der Korrektur bedürfen. Deshalb stellt er seine Überlegungen zu Grundlagen unserer politischen Orientierung zur Diskussion. Mit dem Historiker und Journalisten Rutger Bregmann spricht er über sein Menschenbild, mit dem langjährigen Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks über seine Vorstellung von den Handlungsspielräumen der Politik in der Demokratie und mit der Polit-Ökonomin Maja Göpel über nachhaltiges Wirtschaften in Zeiten der Globalisierung. Weitere Gesprächspartner sind die Publizistin Sylvie Goulard, die Politikerin und Unternehmerin Diana Kinnert, der Vorsitzende des Center for Liberal Strategie in Sofia Ivan Krastev und der Soziologe und Gesellschaftstheoretiker Armin Nassehi. Im Zentrum stehen seine Überlegungen zur Zukunft Europas.
Seinen Essay „Überwundene Grenzen?“ leitet Schäuble mit der Frage von Cees Nooteboom „Wie wird man Europäer?“ und seiner Antwort ein, dass Geburt allein nicht reicht und dass man Europäer erst durch harte Arbeit, das Wissen um die europäische Geschichte, Literatur und Kultur und die Einsicht in die Vielgestaltigkeit Europas wird. Schäuble stimmt zu. „Die oft vermisste europäische Identität hat … mehr als eine Dimension. Sie kommt nicht über einen, man muss sie sich aneignen. Meine badische Heimat grenzt ans Elsass, ich sehe mich als Nachbarn Straßburgs. Das Leben in dieser deutsch-französischen Grenzregion hat mich geprägt, die wechselvolle Geschichte, die Sprache und das heute alltägliche grenzüberschreitende Leben der Region bestimmen mein Bild von Europa wesentlich mit. Nach der Erfahrung zweier Weltkriege und einer jahrhundertealten Gewaltgeschichte bedeutet der europäische Einigungsprozess einen historischen Einschnitt: Wir Europäer … haben uns mit der Europäischen Union Institutionen geschaffen, die auf Grundlage gemeinsamer Werte möglich machen, dass wir Konflikte friedlich und zivilisiert austragen, unterschiedliche nationale Interessen austarieren und gemeinsam Politik machen. Die EU ist die beste Idee der Europäer im 20. Jahrhundert – und sie ist die Zukunft der europäischen Nationen im 21. Jahrhundert“ (Wolfgang Schäuble S. 189 f.).
Aber das von Francis Fukuyama 1989 beschworene „Ende der Geschichte“ ist nicht eingetreten. Unter anderem deshalb gibt es mehr als genug Gründe, den allzu selbstgefälligen Glauben an die Alternativlosigkeit der westlichen Konzepte und Modelle hinter sich zu lassen. „Der Westen ist Opfer seines eigenen Erfolgs geworden. Ist er also tatsächlich am Ende? Wer den Westen als ein normatives Projekt versteht, wird kaum in den Abgesang einstimmen. Die Anziehungskraft der westlichen Werte ist ungebrochen. Das zeigt etwa die … Demokratiebewegung in Hongkong oder der Aufbruch … in Belarus. Trotzdem, so führt es uns der Ökonom Dani Rodrik vor Augen, bewegen wir uns als westliche Wertegemeinschaft in einem Dreieck der Unvereinbarkeiten; die Ziele mehr Demokratie, mehr nationale Selbstbestimmung und mehr Globalisierung sind nicht deckungsgleich: ›Wenn wir die Globalisierung weiterführen wollen, müssen wir entweder den Nationalstaat oder demokratische Politik aufgeben. Wenn wir die Demokratie behalten und vertiefen wollen, müssen wir zwischen dem Nationalstaat und internationaler wirtschaftlicher Integration wählen. Und wenn wir den Nationalstaat und Selbstbestimmung bewahren wollen, müssen wir zwischen einer Vertiefung der Demokratie und einer Vertiefung der Globalisierung wählen‹. Mit diesem Trilemma der wechselseitigen Begrenzung gleichzeitig wirksamer Prozesse müssen wir umgehen, und wir können es dann am besten, wenn wir darauf verzichten, den Ansprüchen auf allen Feldern hundert Prozent gerecht zu werden. Kurz: im Verzicht auf Perfektion. Die Demokratie wollen und dürfen wir nicht aufgeben. Die Globalisierung mag sich coronabedingt abschwächen, aber wir werden sie nicht verhindern können und doch wohl auch nicht wollen. Vieles spricht also dafür, über nationale Grenzen hinaus zu denken und den Multilateralismus zu stärken, ohne allerdings die Menschen zu überfordern“ (Wolfgang Schäuble S. 229 f.).
Europa ist für viele Menschen weltweit ein Sehnsuchtsort „nicht allein wegen des Wohlstands. Millionen suchen bei uns Frieden und Freiheit. Und wir? Wir pflegen oftmals Selbstzweifel an den eigenen gesellschaftlichen Freiheiten – und wenn wir ehrlich sind, dann trauen wir der Freiheit, die wir für uns selbstverständlich beanspruchen, keine Allgemeinverbindlichkeit im globalen Maßstab zu. Wir müssen uns unserer Selbst rückversichern, unserer Rolle als Europäer in der Welt. In einigen Jahrzehnten werden wir nur noch fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Der europäische Anteil am Welthandel ist inzwischen auf 15 Prozent gesunken, auch der Anteil an der weltweiten Wertschöpfung sinkt kontinuierlich … Eurozentrischer Hybris fehlt damit jede Grundlage, aber ohne … Selbstbewusstsein werden wir im globalen Wettbewerb nicht bestehen. Die EU ist schließlich noch immer der größte Binnenmarkt der Welt, und unser politischer Beitrag sollte unserer ökonomischen Stärke nicht hinterherhinken. Wir sollten ehrlich unsere wirtschaftlichen Interessen benennen und offen darüber diskutieren, weil wir auf Rohstoffe …, sichere Handelswege, internationale Arbeitsteilung und Absatzmärkte angewiesen sind. Das beeinflusst selbstverständlich unsere Politik … Aber es geht eben um unsere Interessen und um unsere Ideale. Um Frieden, Demokratie und universelle Menschenrechte. Um eine stabile globale Ordnung mit sicherer Infrastruktur und freiem Austausch. Beides bedingt sich gegenseitig. Da sollten wir uns moralisch auch nichts vormachen: Ohne ein grundlegendes Maß an Wohlstand und sozialer Sicherheit wird es keine stabile Demokratie geben. So wie es umgekehrt, davon bin ich überzeugt, ohne freiheitliche Demokratie keine wirklich dauerhaft erfolgreiche Volkswirtschaft gibt“ (Wolfgang Schäuble S. 242 f.).
Im Gespräch mit der Politikerin, Unternehmerin und Beraterin Diana Kinnert fasst Schäuble sein Verständnis von Politik so zusammen: „Politik kann nur versuchen, immer wieder für die gesellschaftliche, wirtschaftliche und technische Entwicklung einen Rahmen zu setzen. Wenn Sie es auf einen Satz bringen wollen, würde ich sagen: Die Politik sollte in Freiheit ein friedliches Zusammenleben ermöglichen. Und dazu muss sie die Veränderungen zur Kenntnis nehmen“ (Wolfgang Schäuble S. 297).
ham, 10. April 2021