Künstlerbuch zur Ausstellung Birgit Brenner, Promise Me vom 24. Oktober 2020 – 18. Juli 2021 in der Städtischen Galerie Wolfsburg, herausgegeben von Susanne Pfleger mit Texten von Susanne Kleine, Susanne Pfleger, Anke Sterneborg und einem Gespräch zwischen Anke Sterneborg und Birgit Brenner
VfmK Verlag für moderne Kunst Wien / Städtische Galerie Wolfsburg, 2020, ISBN 978-3-903320-99-4,
184 Seiten, 72 Farbabbildungen und 160 Filmstills, Hardcover mit Kassettendeckel, Format 33,5 x 23 cm,
39,00 €
Führende Wissenschaftler aller Disziplinen sind sich seit Jahrzehnten einig, dass eine neue Balance zwischen den Interessen von Kapital, Arbeit und unserer Mitwelt ausgehandelt und real hergestellt werden muss, wenn wir als Menschheit überleben wollen. Aber es passiert einfach zu wenig. Die 1947 eingerichtete und damals auf sieben Minuten vor Zwölf eingestellte Weltuntergangsuhr steht seit dem 23. Januar 2020 auf 100 Sekunden vor Mitternacht. Sie symbolisiert die existentiellen Bedrohungen, denen die Menschheit ausgesetzt ist und zeigt an, wie knapp die Menschheit vor der Vernichtung durch Atomwaffen, Klima-, Umwelt- und andere Katastrophen steht. Bisher wurde die Zeit, die für eine an Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung orientierte Verhaltensänderung bleibt, in Stunden und Minuten gemessen. Jetzt sind es nur noch Sekunden (vergleiche dazu https://weltuntergangsuhr.com und https://www.sueddeutsche.de/wissen/doomsday-clock-atomkrieg-klimawandel-1.4769490).
Für die 1964 in Ulm geborene und in Stuttgart als Professorin für Fotografie, Zeichnung und Neue Medien lehrende Birgit Brenner (vergleiche dazu https://eigen-art.com/kuenstlerinnen/birgit-brenner/biografie/ und https://de.wikipedia.org/wiki/Birgit_Brenner) ist die Weltuntergangsuhr bei ihrer Beschäftigung mit Persönlichkeitsrechten und Überwachung, Diktatur und Rechtspopulismus, künstlicher Intelligenz und digitaler Revolution zu einer Metapher geworden, in der sich der ganze Themenkomplex verdichtet. Sie „ist ein starkes Bild dafür, dass wir nicht mehr viel Zeit haben, wenn wir das Ruder noch rumreißen wollen. Daraus habe ich die Idee zu dem Kurzfilm ›Hundred Seconds to Midnight‹ … entwickelt, mit all diesen Figuren, die allein und selbstvergessene in Trance vor sich Hintanzen: Wir machen einfach immer weiter und tun so, als würde um uns herum nichts passieren“ (Birgit Brenner S.1). Der Kurzfilm ist einer von drei Filmen, die Brenner als Preisträgerin des Wolfsburger Kunstpreises „Junge Stadt sieht Junge Kunst“ in der Städtischen Galerie Wolfsburg zeigt (vergleiche dazu etwa https://www.staedtische-galerie-wolfsburg.de/ausstellungen/kunstpreis-der-stadt-wolfsburg-jungfe-stadt-sieht-junge-kunst/ und https://www.monopol-magazin.de/shows/birgit-brenner-promise-me). Dazu kommt ihre erstmals in Stahl gearbeitete 900 Kilogramm schwere Installation „Promises and Other Lies“, 2020, deren mit Kabelbinder befestigte Formteile andeuten, dass sie bei Bedarf umgearbeitet werden kann (vergleiche dazu https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/videos/brenner-video-100.html und https://www.youtube.com/watch?v=YIeF46jLYJg).
Ihr in einer Auflage von 1000 Exemplaren zur Ausstellung erschienenes sehens- und lesenswertes Künstlerbuch ist mit einem von der Künstlerin mit dem Hermann Huelsenberg Studio / Niklas Sagebiel gestalteten Kassettendeckel-Umschlag und unterschiedlichen Papieren ausgestattet (vergleiche dazu https://vfmk.org/de/shop/birgit-brenner). Es ist wie ihr Werk der Einsicht geschuldet, dass weder Anklage noch Schönrederei etwas an den beklagten Zuständen ändern. Aber vielleicht wächst ja der Wunsch, neue Wege zu gehen, wenn man sieht, was der Fall ist. Deshalb bildet Brenner „ausschnitthaft, in Fragmenten das ab, was uns alle umgibt, und zieht uns in den Bann mit den fortwährend evozierten Momenten der Erinnerung, des Bewusstseins von dem ›Ja, das kenne ich gut‹-Moment. Dass damit eine gewisse Melancholie einhergeht – die sich aber nicht in Resignation verwandelt – ist unserer menschlichen Verfasstheit und Weltsituation geschuldet. Der Komplexität des Lebens setzt sie ästhetische Schichtungen entgegen, die Spiegelungen dessen sind: collagierte Momentaufnahmen als eingefrorene, aber flüchtige Standbilder oder Filmstills unseres Lebens. Vor allem die Beiläufigkeit und Fragilität, die Birgit Brenner uns anbietet, lässt ahnen, dass wir selbst die Brüchigkeit unserer Lebenskonstruktionen erst auf den zweiten Blick erkennen …“ (Susanne Kleine S. 117).
ham, 22. Februar 2021