Siedler Verlag, München, 2020, ISBN 978-3-8275-0091-5, 432 Seiten, 55 s/w Abbildungen, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 22 x 14 cm, € 25,00 (D) / € 25,70 (A) / CHF 25,90
Die meisten Deutschen wissen, dass der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Schwäbischen geboren wurde und schwäbisch spricht. Weniger bekannt ist, dass er als Kind ostpreußischer Flüchtlingen geboren worden ist. „›Zu Hause wurde bei uns Hochdeutsch gesprochen. Meine Eltern kamen aus Ostpreußen, haben allerdings nie Dialekt oder Plattdeutsch gesprochen.‹ In seiner Familie zeigt sich der langwierige Prozess des Ankommens. Drei Generationen durchleben unterschiedliche Phasen. Winfried Kretschmanns Großmutter wird im Westen nicht mehr heimisch, seine Eltern bewegen sich kulturell in einer Zwischenwelt, während der Sohn Winfried seine ostpreußischen Wurzeln zwar nicht vergessen hat, Schwaben aber als seine Heimat betrachtet“ (Winfried Kretschmann / Andreas Kossert S. 285). Flüchtlinge und Vertriebene kommen in der ersten Generation selten in der neuen Heimat an. „›Man muß Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben‹“, sagt Carl Amery. „›In der Heimat beherrschen wir souverän die Dialektik von Kennen–Erkennen, von Trauen–Vertrauen: Da wir sie kennen, erkennen wir sie und getrauen uns zu sprechen und zu handeln, weil wir in unserer Kenntnis–Erkenntnis begründetes Vertrauen haben dürfen.‹ Flüchtlinge haben dieses Grundvertrauen verloren. Wenn eine Flucht gut geplant ist, sind Flüchtlinge bestenfalls vorbereitet auf das Verlassen der Heimat, aber schwerlich auf das Leben in der Fremde“ (Andreas Kossert S. 331).
Andreas Kosserts mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis 2020 ausgezeichnetes Buch ›Flucht. Eine Menschheitsgeschichte‹ setzt mit der biblischen Einsicht ein, dass Menschen von Beginn an – Adam und Eva stehen für die erste Vertreibung, die erste Flucht – auf der Flucht sind und deshalb jeder morgen ein Flüchtling sein kann. Was die 14 Millionen Vertriebenen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben, kam wenig später auf die Sowjetzonen- und DDR-Flüchtlinge zu, dann auf die Flüchtlinge aus Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen, auf die vietnamesischen Boatpeople, die bosnischen Muslime aus dem ehemaligen Jugoslawien und auf die Jesiden. Auch die Familie des Autors war auf der Flucht: Kosserts Großeltern stammten aus Masuren und haben nach ihrer Flucht einfach keine Heimat mehr gefunden.
Der 1970 geborene promovierte Historiker konstatiert, dass Flüchtlinge ihre Heimat meistens für immer verlieren. „Sofern sie die Strapazen der Flucht überleben, retten sie sehr oft kaum mehr als das nackte Leben. Dass Überleben möglich ist, ist der entscheidende Unterschied zwischen Vertreibung und Genozid. Vertreibungen können dennoch genozidale Dimensionen annehmen, wie das Schicksal der Armenier und der orientalischen Christen 1915 gezeigt hat. Auf jeden Fall gilt: Vertriebene und Flüchtlingen fliehen vor Gewalt, Krieg und Terror, um ihr Leben zu retten, oder werden gezielt – häufig von staatlichen, aber auch gesellschaftlichen Akteuren aus dem Land getrieben. Nach der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 gilt als Flüchtling jede Person, die ›aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt‹. Es ist … längst überfällig …, diese Definition auf Menschen auszudehnen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden. Neuerdings wird auch erwogen, die Opfer von Naturkatastrophen und dauerhaften klimatischen Veränderungen zu berücksichtigen“ (Andreas Kossert S. 29 f.)
Kossert versteht sich als Grenzgänger zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft und bezieht deshalb auch die Weltliteratur, die Lyrik und die Belletristik in seine nicht enden wollenden Geschichte der Flucht mit ein. So wäre Günther Grass ohne den Verlust seiner Heimat Danzig nicht zur Literatur gekommen. „Der achtzehnjährige Günter Grass findet 1946 seine Eltern und seine Schwester im Bergischen Land wieder. ›Der Sohn erschrak‹, schreibt Grass über sich in der dritten Person, in dem Augenblick, als die Familie ihn in die Arme schließt. ›Da standen sie, ärmlich in zu weit gewordene Mäntel gekleidet. Die Mutter verhärmt. Seinen Velourshut hatte der Vater übers Kriegsende hinweggerettet. Die Schwester ohne Zöpfe, kein Kind mehr. Wir umarmten einander unter Wiederholungszwang. Keine oder nur hilflose Wörter. Zuviel …war … geschehen … Manches kam erst sehr viel später, weil zu schrecklich, oder gar nicht zu Wort. Mehrmals erlittene Gewalt hatte die Mutter verstummen lassen. Sie war gealtert, kränkelte bereits. Wenig war von ihrer Heiterkeit und Spottlust geblieben. Und dieses klapprige Männlein sollte mein Vater sein? Er, der sich stets selbstsicher und stattlich um Haltung bemüht gegeben hatte?‹ Was sie erlebt haben, kann der Sohn an ihren Gesichtern ablesen“ (Günter Grass / Andreas Kossert S. 213).
Auf mehreren hundert Seiten werden berührende und in ihrer Dichte und Massierung schwer verdauliche Einzelschicksale wie das der Familie Grass lebendig, aber auch das Ergehen der Juden nach dem Attentat auf Zar Alexander II. im Jahr 1881: „In der Stadt Balta in Podolien zerstört eine aufgehetzte Menge 1882 mehr als 1000 Häuser und 300 Geschäfte, 42 Juden werden ermordet und 121 schwer verletzt. Zwar bleiben die antisemitischen Gewaltakte auf einzelne Ort beschränkt, doch die landesweite Berichterstattung befördert Massenpanik und Fluchtbewegungen. Hunderte von Pogromen werden am Ende zum Auslöser einer beispiellosen Flucht- und Auswanderungsbewegung … Zwischen 1880 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kehrten insgesamt 2,5 Millionen Juden dem Zarenreich, Osterreich-Ungarn und Rumänien den Rücken … Israel J. Singers Bruder Isaac Bashevis, der 1978 als amerikanischer Staatsbürger den Nobelpreis für Literatur erhält, erinnert sich an eine Zugfahrt nach Warschau, die er Anfang der 1920er Jahre unternahm. Er hatte dabei die Gelegenheit, ›die tiefe menschlicher Entwürdigung zu beobachten, die Qualen der Juden. Eine Gruppe von Rowdys hatte den Wagen dritter Klasse bestiegen, der mit jüdischen Reisenden überfüllt war – arme Leute, die mit Säcken, Bündeln und Körben reisten. Die Rowdys wendeten sich sofort gegen diese Juden. Erst beschimpften sie sie mit den übelsten Ausdrücken. Jeder Jude, behaupteten sie, sei ein Bolschewik, ein Trotzkist, ein Sowjetspion, ein Mörder Christi, ein Ausbeuter. Im Lichte der winzigen Birne, die von der Decke hing, konnte ich die ⟩Ausbeuter⟨ sehen – zerlumpte, gebrochene Gestalten, die meisten standen oder hockten auf ihren Bündeln. Die Rowdys hatten die jüdischen Reisenden von den Sitzen weggestoßen und räkelten sich auf den Bänken … Bald wurden aus den Worten Taten. Sie packten die Bärte der Juden und zogen daran. Sie rissen einer älteren Frau die Perücke vom Kopf. Sie trampelten auf den Sachen der Juden herum. Die Juden hätten die Rowdys leicht abwehren können …, aber sie wußten“, dass es dann leicht zu Blutvergießen hätte kommen können. „Aufgrund solcher Demütigungen und Ausgrenzung kehren nach dem Ersten Weltkrieg viele Juden – auch Singer – ihren nun unabhängig gewordenen Heimatländern den Rücken. In Berlin, Antwerpen, Leeds, New York, Buenos Aires und vielen anderen Städten mehr entstehen jüdische Gemeinden, deren Kern Exilgemeinschaften bilden. Häufig gelten die Neuankömmlinge als Immigranten, streng genommen sind sie aber Flüchtlinge“ (Andreas Kossert S. 63 ff.).
In jedem Menschen steckt ein Flüchtling, sagt Rupert Neudeck, der Ende Januar 1945 mit seiner Mutter, seinen drei Brüdern und seiner Schwester aus Danzig-Langfuhr fliehen musste und mit dem Frachter Cap Anamur tausende vietnamesischer Bootsflüchtlinge gerettet hat. Auch die in London lebende Bildhauerin Kalif Lemos greift das Thema auf. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer installiert sie am Brandenburger Tor Wracks von Flüchtlingsbooten (vergleiche dazu http://kalliopilemos.com/project/at-crossroads-crossings/407/ und http://kalliopilemos.com). 2013 wählt sie für ihren Beitrag für die 13. Biennale von Istanbul ›I Am Between Worlds and Between Shadows‹ die griechische Ioakimion-Mädchenschule aus, ein altes Gebäude, das unweit des goldenen Horns im alten Griechenviertel Fener hinter hohen Mauern und Stacheldraht liegt (vergleiche dazu http://kalliopilemos.com/project/i-am-between-worlds-and-between-shadows/). „Die Klassenzimmer wirken, als sei der Unterricht nur kurz unterbrochen worden, doch alles ist mit einer seltsamen Patina überzogen. Es gibt hier keine griechischen Mädchen mehr. Die letzten drei Schülerinnen haben die Schule 1988 verlassen. Seitdem ist der 1879 errichtete Prachtbau verwaist“ (Andreas Kossert S. 354).
Flüchtlinge sind selten willkommen. Das erleben derzeit auch die Rohingya-Flüchtlinge in Bangladesch (vergleiche dazu auch https://www.tagesschau.de/ausland/myanmar-internationaler-gerichtshof-101.html): Nach dem Bericht der Tagesschau vom 04.12. 2020 (vergleiche dazu Bangladesch siedelt Rohingya-Flüchtlinge um ) hat in Bangladesch eine gigantische Umsiedlungsaktion begonnen: Die Regierung will bis zu 100.000 aus Myanmar geflüchtete Rohingya auf die knapp 60 Kilometer vor der Küste liegenden Insel Bhashan Char umsiedeln. Zahlreiche Experten bezweifeln, dass Bhashan Char für eine Besiedlung geeignet ist. Die 40 Quadratkilometer große Insel, die durch den Schlick des in den Golf von Bengalen mündenden Flusses Meghna entstanden ist, wird regelmäßig während des alljährlichen Monsuns zwischen Juni und September überflutet.
ham, 4. Dezember 2020