C. Bertelsmann Verlag, München 2020, ISBN: 978-3-570-10405-7, 288 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 22 x 14 cm, € 20,00 (D) / € 20,60 (A) / CHF 28,90
Soziologen setzen auf Befragungen, wenn sie etwas genau wissen wollen. Im Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (vergleiche dazu https://scholar.google.de/scholar?q=sozio+oekonomisches+panel+deutschland&hl=de&as_sdt=0&as_vis=1&oi=scholart) liegen seit 1984 erhobene Mikrodaten zur Messung biografischer Verläufe und damit auch Antworten auf die Frage vor, wann Menschen wirklich zufrieden sind. Seither wurden insgesamt 84 945 Menschen 639 144-mal befragt. Die Fragen wurden jedes Jahr denselben Menschen vorgelegt; die Kinder, die in den Haushalten der Befragten leben, rücken ab dem 16. Lebensjahr in die Befragung nach. Dadurch lassen sich nicht nur langfristige gesellschaftliche Trends, sondern auch individuelle Lebensläufe genügend gut analysieren.
Die Datenbasis ist nach dem an der Universität Marburg lehrenden Soziologen Martin Schröder für alle Deutschen aussagekräftig, weil die Forscher darauf achten, „dass alle gesellschaftlichen Gruppen so vorkommen, wie es der Bevölkerungsverteilung entspricht. Weil zudem dieselben Personen immer wieder befragt werden, erlauben die Daten nicht nur zu berechnen, ob manche Menschen zufriedener als andere sind, sondern auch, wie viel zufriedener dieselbe Person nach bestimmten Lebensveränderungen wird“ (Martin Schröder S. 11).
Eines der überraschendsten Ergebnisse von Schröders Auswertung der Befragungen ist, dass Kinder, Enkel und Großeltern entgegen der üblichen Annahme kaum zur Lebenszufriedenheit beitragen. „Sie sitzen an einem riesigen Esstisch. Riesig muss der Tisch sein, weil Ihre Kinder um ihn herumsitzen und Ihre Enkelkinder darunter spielen. Auch Ihre Eltern sind dabei. Und bei allen Unterschieden freuen sich alle zusammenzukommen. Doch möglicherweise sind Sie […] schon skeptisch. Denn wer Kinder hat, ist schließlich nicht zufriedener. Gilt dasselbe für Enkelkinder? Für die eigenen Eltern? Tatsächlich ist der Teil der Bevölkerung, der seine Verwandtschaft noch hat, teils etwas zufriedener. Doch dieselbe Person verliert kaum an Zufriedenheit, wenn sie ihre Verwandtschaft verliert […]. Erstaunlich ist auch, dass Enkelkinder überhaupt nicht zufriedener machen. Das scheint geradezu unglaublich […]. Man ist nicht zufriedener in den Lebensjahren, in denen man noch Verwandtschaft hat, und in den Jahren, in denen man Kinder hat, ist man unzufriedener. Woran zum Teufel kann das liegen? […] Verwandtschaft macht uns nicht zufriedener, weil wir beim Bild der großen Familie am Esstisch vergessen, dass erst eine gute Beziehung zur Verwandtschaft zu Zufriedenheit führt. Und eine gute Beziehung ist alles andere als naturgegeben […]. Erst wenn man eine außergewöhnlich gute Beziehung zu seinen Verwandten hat, machen diese Verwandten tatsächlich zufriedener, und das gilt übrigens umso mehr für Menschen mit hoher Bildung. Forscher vermuten […], dass Großeltern mit besserer Bildung eher eine schöne Zeit mit ihren Enkeln verbringen können“ (Martin Schröder S. 63 ff.).
Mehr Geld, so ein weiteres Ergebnis, macht nicht glücklicher, wenn man schon etwa 2000 Euro im Monat verdient. Der erste Grund, warum mehr Geld weniger zufrieden macht, ist, dass man sich unglaublich schnell daran gewöhnt und mit mehr Geld auch die Ansprüche steigen. Der zweite ist der abnehmende Grenznutzen. „Stellen Sie sich vor, Sie verdursten in der Wüste. Der erste Liter Wasser rettet Ihr Leben. Der zweite stillt noch Ihren Durst. Der dritte ist auch noch ganz nett. Doch jeder zusätzliche Liter Wasser bringt weniger als der vorherige. So ist es mit allem, was man mit Geld kaufen kann. Wer nicht genug zu essen hat, braucht unbedingt Geld. Doch wer sich mit mehr Geld nur noch superteuren Hummer statt teures Filet kauft, dem bringt es kaum noch etwas“ (Martin Schröder S. 79). „Mit den ersten 2000 Euro gewinnt man ganze 4 Lebenszufriedenheitspunkte. Doch schon mit den nächsten 2000 Euro bekommt man nur noch 2 […]. Mit noch 2000 Euro mehr ist es nur noch einer. Ab circa 7000 Euro Nettoeinkommen schwindet der Zusammenhang zwischen Geld und Zufriedenheit“ (Martin Schröder S. 80). Menschen, die 100 000 Dollar im Lotto gewinnen, sind auf einer Hunderterskala nur einen halben Punkt zufriedener. Erst wer 500 000 Euro oder mehr bekommt, ist 7 Punkte zufriedener, aber schon ein Jahr danach nur noch 4 Punkte.
Väter sind dann zufriedener, wenn sie lange arbeiten und mehr verdienen als ihre Partnerin. Anders als Männer sind Frauen genauso zufrieden, wenn sie weniger als ihr Partner verdienen. „Doch am allermerkwürdigsten ist, dass sie nicht zufriedener werden, wenn sie mehr als ihr Partner verdienen […]. Eine Frau, die annähernd das gesamte Einkommen eines Paars verdient, ist fast 3 Punkte unzufriedener als eine, die genauso viel verdient wie ihr Partner. Das bedeutet […], dass […] es Männern und Frauen besser geht, wenn der Mann mehr als die Frau verdient […]. Beginnt der Mann, weniger zu verdienen als seine Partnerin, wird er unzufrieden. Fängt dieselbe Frau an, mehr als ihr Partner zu verdienen, wird sie unzufriedener […]. Frauen leiden so sehr darunter, dass erst zusätzliche 48 000 Euro Jahreseinkommen sie dafür kompensieren würden, mehr als ihr Partner zu verdienen. Männer leiden dagegen so sehr darunter, weniger als Ihre Partnerin zu verdienen, dass erst ein zusätzliches Jahreseinkommen von 150 000 Euro sie dafür kompensieren würde“ (Martin Schröder S. 90 f.).
Was aber macht dann wirklich zufrieden? Sieben, besser acht oder neun Stunden Schlaf machen zufrieden. Menschen, die schon immer nur vier Stunden geschlafen haben, sind „unfassbare 17 Punkte unzufriedener als jene, die schon immer sieben Stunden geschlafen haben“ (Martin Schröder S. 135). Der stärkste und eindeutigste Einflussfaktor für Lebenszufriedenheit ist aber die Gesundheit. Wer seine Gesundheit schon immer für schlecht gehalten hat, ist „unfassbare 42 Punkte unzufriedener, als wem seine Gesundheit schon immer sehr gut erschien […]. Es trägt also bei Weitem […] nichts so sehr zu Ihrer Zufriedenheit bei wie Ihre Gesundheit. Kennen Sie eine Person, die sich für ungesund hält, können Sie fast sicher sein, dass sie sehr unzufrieden ist“ (Martin Schröder S. 180). Wer im Alter seine Gesundheit noch so positiv bewertet wie in seiner Jugend, „wird erst Mitte 70 unzufriedener. Es gibt also kein ehernes Gesetz, wonach mit dem Alter die Lebenszufriedenheit zurückgehen muss. Wer es schafft, sich weiter gesund zu fühlen, bleibt vom negativen Effekt des Alterns weitgehend verschont. Doch weil die meisten sich mit zunehmendem Alter doch weniger gesund fühlen, sinkt auch ihre Zufriedenheit“ (Martin Schröder S. 183). Stärkere und größere Menschen sind zufriedener, religiöse und intelligente Menschen auch; Dicke sind unzufriedener, abnehmen bringt aber trotzdem nichts. Frauen haben auf einer Hunderterskala vernachlässigbare 0,3 Lebensprozentpunkte mehr als Männer. Weder Männer noch Frauen sind also wesentlich zufriedener. Wer das Gefühl hat, das eigene Leben kontrollieren und aktiv gestalten zu können, ist deutlich zufriedener als der, der den Eindruck hat, dass er die Kontrolle über sein Leben verliert. Einsamkeit ist der „zweite große Zufriedenheitskiller. Wer sich schon immer einsam fühlte, ist viel unzufriedener. Wer hingegen gesellig und kommunikativ ist, ist viel zufriedener“ (Martin Schröder S. 222). Zufriedene Menschen sind vor allem mit ihrem Lebensstandard, ihrer Familie und ihrer Gesundheit zufrieden. Und sie verzichten auf Nullsummenspiele.
Die aus dem Sozio-oekonomischen Panel errechneten Effekte sind eines, ihre Interpretation ein anderes und ihre persönliche Bewertung ein drittes. Deshalb gehört es zu den Stärken der Publikation, dass Schröder nach der Darlegung seiner Ergebnisse ausdrücklich dazu auffordert, sich nicht von seinen ermittelten Durchschnittswerten abhängig zu machen. „Fragen Sie sich erst einmal bei allen Ergebnissen, ob sie meinen, zum Durchschnitt zu passen. Sie kennen sich am besten. Ich konnte Ihnen nur durchschnittliche Effekte präsentieren und zugleich zeigen, wie sehr Menschen davon abweichen. Doch nur Sie können einschätzen, ob Sie bei dieser Streuung unter oder über dem Durchschnitt liegen. Ich konnte ihnen beispielsweise zeigen, ob Menschen zufriedener sind, wenn sie mehr verdienen, und dabei kam heraus, dass fast jeder ab circa 2000 Euro mit Geld nicht mehr viel zufriedener wird. Insofern würde es mich nicht wundern, wenn es bei Ihnen anders ist. Doch ob Sie wirklich finden, dass das auch auf Sie zutrifft, können sie nur selbst einschätzen“ (Martin Schröder S. 245).
Zum anderen bleibt offen, wie man das Problem der Kausalität, also die Frage nach Ursache und Wirkung methodisch besser lösen kann. So konnte Schröder zwar zeigen, dass Menschen mit Balkonen zufriedener sind. „Das heißt allerdings nicht, dass der Balkon die Zufriedenheit direkt bedingt. Es könnte auch sein, dass Menschen mit Balkonen beispielsweise öfter in der Nähe von Parks wohnen und deswegen zufriedener sind, nicht aber aufgrund des Balkons. Idealerweise müsste man darum zufällig Ausgewählten einen Balkon an die Wohnung bauen und deren Zufriedenheit mit anderen vergleichen, die keinen Balkon bekommen haben. Sozialforscher nennen das ein ›treatment‹, also eine Behandlung, die es erlaubt, einen kausalen Einfluss festzustellen. Denn weil der Balkon zufällig an die Gruppe vergeben wurde, kann man ziemlich sicher sein, dass diese Balkon-Gruppe keine Veränderung erlebt hat, die ansonsten typischerweise damit einhergeht, dass Menschen sich einen Balkon zulegen, und die vom eigentlichen Effekt des Balkons ablenken könnte. Doch solche Experimente sind nicht praktikabel“ (Martin Döner S. 246). Und schließlich muss man damit rechnen, dass neue Datenlagen und neue Deutungen aus der Forschung auf uns zukommen können.
Deshalb kann es interessant sein, die die aus der SOEP-Umfrage errechneten Durchschnittseffekte mitsamt den Abweichungen zur Kenntnis zu nehmen; aber sie können das eigene Urteil nicht ersetzen: Was einen wirklich zufrieden macht, kann man nur selber sagen.
ham, 24. März 2020