Unter Mitarbeit von Sebastian Herbst
Klett-Cotta / J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart 2007 / völlig überarbeitete und aktualisierte Neuauflage 2019, ISBN 978-3-608-96456-1, 464 Seiten, Hardcover gebunden, Format 21 x 13,5 cm,
€ 25,00 (D) / € 25,80 (A)
Der 1942 geborene Philosoph, Neurobiologe, Hirnforscher, Gründungsdirektor des Hanse-Wissenschaftskollegs in Delmenhorst und langjährige Präsident der Studienstiftung des deutschen Volks Gerhard Roth gehört zu den wenigen deutschen Spitzenforschern, die komplexeste wissenschaftliche Sachverhalte so darstellen können, dass Fachpublika ebenso auf ihre Kosten kommen wie Fachfremde und letztere überzeugt sind, dass sie die Kernprobleme verstanden haben. Aber genau diese Doppelbegabung hat den Rezensenten der Erstauflage von Roths späterem Bestseller bei seiner Besprechung in der NZZ vom 15. 01. 2008 fälschlicherweise dazu verführt, von ›Ratgeberliteratur‹ zu sprechen (vergleiche dazu https://www.perlentaucher.de/buch/gerhard-roth/persoenlichkeit-entscheidung-und-verhalten.html).
Möglicherweise hat Roth dieses Stichwort bei der grundlegenden Überarbeitung seiner Publikation noch im Kopf gehabt und sich deshalb dafür entschieden, die aktuellsten wissenschaftlichen Einsichten aus der Persönlichkeitsforschung akribisch und breit in die jetzt vorliegende Neuauflage einzuarbeiten. Die neu hinzugekommenen Kapitel ›Führung und Persönlichkeit‹ und ›Change-Management und Persönlichkeit‹ mögen sich dem demographischen Wandel, der Globalisierung, der Automatisierung, der Digitalisierung der Arbeitswelt und dem Festhalten der Führungskräfte an überkommenen Vorstellungen von Leitung und Führung verdanken. Nach der 2018 erschienen Gallup-Studie ›Gallup Engagement Index‹ scheitern viele Veränderungen in Betrieben an einem mangelnden Verhältnis zwischen Führungskräften und Mitarbeitern. Man weiß zwar, dass man an der ›Persönlichkeit‹ der Mitarbeiter ansetzen muss, aber es ist kaum bekannt, was mit ›Persönlichkeit‹ gemeint ist, wie man diese erkennt und auf sie Einfluss nimmt und wie man Mitarbeiter motiviert. In der Einleitung wird zwar auch auf die mit dem Klimawandel anstehenden und dringend gebotenen Veränderungen hingewiesen; aber zu einem eigenen Kapitel ist es bedauerlicherweise nicht mehr gekommen.
Im ersten Kapitel erläutert Roth, warum die Hirnforschung die Persönlichkeit und Psyche eines Menschen im Gehirn verankert sieht und wie die subcorticalen limbischen Zentren Veränderungen und Lernen steuern. Nach der neurobiologisch-konstruktivistischen Lehr- und Lerntheorie kann Wissen nicht einfach übertragen, sondern muss im Gehirn eines jeden Lernenden neu geschaffen werden. Lernen ist ein aktiver Prozess der Bedeutungserzeugung, der durch überwiegend unbewusst wirkende und deshalb schwer beeinflussbare Faktoren gesteuert wird. „Was auch immer das Gehirn lernt, es lernt dasjenige“, was diese Faktoren „für neu und wichtig halten, und zwar zur Aufrechterhaltung und Verstärkung des biologischen, psychischen und sozialen Wohlergehens. Diese Bewertung ist allerdings immer streng subjektiv im Lichte vergangener Erfahrung und kann deshalb in den Augen von Außenstehenden mit einer anderen Erfahrung ›falsch‹ sein“ (Gerhard Roth S. 59).
Im zweiten Kapitel legt Roth unter anderem dar, dass der auf den Merkmalen ›Extraversion‹, ›Neurotizismus‹, ›Verträglichkeit‹, ›Gewissenhaftigkeit‹ und ›Offenheit/Intellekt‹ aufbauende populäre Big-Five-Persönlichkeitstest auf der fehleranfälligen Selbstauskunft der getesteten Personen aufruht und das zu den Merkmalen quer liegende Temperament und damit Grundeigenschaften der Persönlichkeit nicht erfasst, die schon bei der Geburt sichtbar sind. Er schlägt stattdessen ein von vier anatomischen und funktionalen Ge-hirnebenen und sechs psychoneuralen Grundsystemen ausgehendes Persönlichkeitsmodell vor: Die ›untere limbische Ebene‹ umfasst die Aktivität von Zentren wie Hypothalamus-Hypophyse, Septum, zentrale Amygdala, zentrales Höhlengrau, Zentren der Brücke und des verlängerten Marks. „Diese Prozesse dienen der Lebenserhaltung und der Erfüllung der primären körperlichen Bedürfnisse. Auf ihr sind aber auch diejenigen Merkmale angesiedelt, die man zum Temperament zählt […]. Die auf der unteren limbischen Ebene ablaufenden Prozesse sind unbewusst und können nicht bewusst gemacht werden […]. Überdies sind sie kaum oder gar nicht veränderbar, auch wenn sie teilweise durch vorgeburtliche Einflüsse über das Gehirn der Mutter geprägt sind“ (Gerhard Roth S. 89 f.).
Auf der ›mittleren limbischen Ebene‹ „vollziehen sich die Erfahrungen des Säuglings und Kleinkindes im Laufe der ersten drei Jahre, meist solche in der Interaktion mit der primären Bezugsperson, in der Regel der Mutter. Diese Erfahrungen prägen sich tief ein und sind nur schwer und nur durch gezielte emotionalisierende und bindungsbezogene Maßnahmen zu ändern […]. Auf der ›oberen limbischen Ebene‹ […] vollziehen sich diejenigen Prozesse, die geeignet sind, unsere primäre Persönlichkeit mit den Erfordernissen des sozialen Zusammenlebens in Einklang zu bringen, von der Familie über den Kindergarten und die Schule bis hin zum Erwachsenenalter. Hier geht es um die Ausbildung von Kooperativität, Rücksichtnahme, Geduld, Kompromissfähigkeit, Empathie, aber auch um Zielstrebigkeit, Durchsetzungswillen, Selbstwirksamkeit und Selbstverwirklichung. Hier vollzieht sich auch die bewusste Kontrolle unserer non-verbalen Kommunikation im Rahmen von Gestik, Mimik, Körperhaltung und Stimmführung. Auf der ›kognitiv-sprachlichen Ebene‹ finden das bewusste Wahrnehmen und Denken, der Erfahrungs- und Wissenserwerb, das Erinnern und Vorstellen, Handlungsplanung sowie die sprachliche Kommunikation statt. Die kognitiv-sprachliche Ebene kann zwar von den limbischen Ebenen stark beeinflusst werden, hat aber selbst nur dadurch einen Einfluss auf unsere Verhaltensentscheidungen, dass sie emotionale Inhalte der oberen limbischen Ebene anspricht“ (Gerhard Roth S. 90 ff.).
Auf den drei limbischen Ebenen und unter Beteiligung der kognitiven Ebene entwickeln sich Persönlichkeit und Psyche im Rahmen der Funktionen von sechs psychoneuralen Grundsystemen, nämlich Stressverarbeitung, emotionale Kontrolle und Selbstberuhigung, Motivation, Bindungsverhalten/Empathie, Impulskontrolle und Realitätssinn/Risikowahrnehmung. Daraus ergibt sich ein neurobiologisch fundiertes Persönlichkeitsmodell, in dessen Mitte eine in der Realität nur selten vorkommende ausgeglichene Persönlichkeit mit einer guten Risiko- und Gefahrenwahrnehmung steht, die sich angemessen an- und abregt, bei tatsächlichen oder potenziell negativen Situationen nicht zu Flucht, Abwehr, Panik oder Angriff neigt und ihre Belohnungs- und Zielorientierung längerfristig anlegt. „Sie schätzt ihre Fähigkeiten gut ein. Sie verfügt über ein gutes Bindungspotential und über Empathiefähigkeit, ohne die eigenen Interessen aus dem Auge zu verlieren, ist gesellig und offen für neue Erfahrungen“ (Gerhard Roth S. 99). Dem ausgeglichenen Typ steht auf der linken Seite ›der dynamische Typ‹ mit den Untertypen ›der Ehrgeizige‹, ›der Karrierist‹, ›der Innovative‹ und ›der Veränderungssüchtige‹ gegenüber und auf der rechten Seite ›der Stabile‹ mit den Untertypen ›der Feinfühlige‹, ›der Ängstliche‹, ›der Gewissenhafte‹ und ›der Dogmatische‹ (vergleiche dazu Gerhard Roth
S. 98 ff.). Eine günstige Entwicklung des Stressverarbeitungssystems und des Selbstberuhigungssystems ist die wichtigste Voraussetzung „für die Entwicklung einer ausgeglichenen, in sich ruhenden Persönlichkeit mit mittleren bis hohen Werten in den Merkmalen Extraversion, Verträglichkeit, Gewissen und Offenheit und geringen Werten im Merkmal Neurotizismus. Sie bildet auch eine robuste Widerstandsfähigkeit, Resilienz, gegenüber nachfolgenden negativen Entwicklungen“ (Gerhard Roth S. 104).
Roth unterscheidet unbewusste, vorbewusste und bewusste Gehirnzustände. „Das Unbewusste haben wir […] in ein primäres und sekundäres Unbewusstes eingeteilt, wobei ersteres niemals bewusst war, letzteres im Kleinkindalter kurzfristig bewusst sein konnte, aber aufgrund des Fehlens eines deklarativ-episodischen Langzeitgedächtnisses nicht langfristig abgespeichert und später wieder erinnert werden kann […]. Beide Zustände des Unbewussten können im Gegensatz zur Anschauung Freuds und anderer psychoanalytisch-psychodynamischer Anschauungen nicht direkt bewusst gemacht werden, da sie in den subcorticalen limbischen Arealen nicht in einem bewusstseinsfähigen Format gespeichert sind. Sie können nur indirekt über nichtverbale Kommunikationssignale interpretativ erschlossen werden“ (Gerhard Roth S. 156 f.).
Unbewusst auftretende Emotionen weisen darauf hin, dass subcorticale limbische Zentren wie Amygdala und Nukleus accumbus in der Umwelt etwas Neues und Unerwartetes entdeckt haben, das potenziell wichtig sein könnte. „Ist es neu und wichtig, dann wird seine Valenz überprüft, d. h., ob und in welchem Ausmaß es positiv und negativ ist. Wenn das eine oder andere feststeht, kommt es zu einer schnellen und erst einmal unbewussten Reaktion […]. Anschließend kann bei genügend starker Aktivierung diese Bewertung bewusst werden, indem eine deutlich erfahrbare körperliche Reaktion wie Erschrecken, Weggucken, Verkrampfen auftritt“. Gleichzeitig werden lust- und unlusterzeugende Stoffe ausgeschüttet. „Dann empfinden wir und unser Körper etwas als angenehm, verlockend, lustvoll oder erschreckend, schmerzhaft, abstoßend usw. Das passiert in aller Regel, bevor wir auf kognitiver Ebene genau erfahren, was eigentlich los ist“ (Gerhard Roth S. 176). Damit ist angedeutet, dass Emotionen für die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Veränderbarkeit von Menschen eine zentrale Rolle spielen.
In welchen Bereichen lassen sich nun Menschen aus der Sicht der Neurobiologie verändern und in welchen nicht? Roth unterscheidet drei Bereiche, die mit jeweils drei unterschiedlichen Typen des Lernens und der Gedächtnisbildung einhergehen, nämlich erstens motorisches oder prozedurales Lernen, zweitens kognitiv-intellektuelles bzw. deklaratorisches Lernen und drittens emotionales Lernen. Beim motorisch-prozeduralen Lernen spielt der Übungseffekt eine wichtige Rolle: Man kann auch noch nach Jahrzehnten Schlittschuh laufen oder Klavier spielen, wenn man es einmal gelernt hat. Es gibt kaum ein Vergessen (vergleiche dazu Gerhard Roth S. 294 ff.).
Im Bereich des kognitiv-intellektuellen Lernens sieht dies nicht so günstig aus. Zwar nimmt die Fähigkeit, Wissen zu erwerben, auch im Alter kaum ab. Aber bei der geistigen Beweglichkeit, die vornehmlich an das Arbeitsgedächtnis gebunden ist, sieht es anders aus. „Dessen Leistungsfähigkeit nimmt bereits nach dem 20. Lebensjahr ab […]. Der über Vierzigjährige merkt […], dass er nicht mehr alles so schnell kapiert wie früher, und der Sechzigjährige muss sich beim Anhören eines Vortrags ganz schön anstrengen. Natürlich hat dies auch mit der abnehmenden Leistungsfähigkeit unserer Sinnesorgane zu tun […]. Nichtsdestoweniger sinkt die Verarbeitungsgeschwindigkeit der assoziativen Netzwerke unserer Großhirnrinde aufgrund natürlichen Alterns ab 50 Jahren dramatisch“ (Gerhard Roth S. 296). Bis ins hohe Alter geistig fit bleibt am ehesten der, der sich täglich intellektuell herausfordert.
Ungünstig sieht es beim emotionalen Lernen aus. Dieses Lernen setzt sehr früh ein, nämlich bereits vorgeburtlich, und erlebt seinen Höhepunkt in den ersten Lebensjahren nach der Geburt. Hierbei bilden sich Charakter und Persönlichkeit in ihrem Kern aus. Während der ersten Schulzeit stabilisiert sich diese Persönlichkeit zunehmend.Und beim Erwachsenwerden spricht man davon, dass er zu sich gefunden hat.
Veränderungen von außen und Selbstveränderungen werden umso schwieriger, je älter wir werden. Das hängt auch daran, dass unser Gehirn Gewohnheiten belohnt.„Unser Gehirn belohnt die Ausbildung von Gewohnheiten dadurch, dass es hierbei Belohnungsstoffe, d. h. hirneigene Opioide, ausschüttet. Deshalb sprechen wir von den ›lieben‹ Gewohnheiten […]. Umgekehrt beunruhigen […] Abweichungen […]. Nur selten sagen wir uns: ›Wie interessant – endlich mal was Neues!‹. Widerstände gegen Veränderungen sind sprichwörtlich […]. Das bedeutet, dass jede Einführung von Neuerungen […] sorgfältig vorbereitet werden muss“ (Gerhard Roth S. 316). Dramatische Änderungen sind, wenn sie keine hirnorganische Ursachen haben, häufig mit einer überstandenen Lebenskrise, einer schweren Krankheit oder einer Katastrophe verbunden. „Klar ist, dass niemand sich ändert, nur weil er sich, wie es in Rilkes ›Duineser Elegien‹ heißt, jetzt das Kommando gibt: ›Du musst dein Leben ändern!‹“ (Gerhard Roth S. 355). „Kluge Menschen sagen, eine Selbstveränderung ›ganz aus sich heraus‹ gebe es gar nicht und man benötige zumindest einen erheblichen Anlass oder besser die Hilfestellung von Mitmenschen, zum Beispiel eines guten Freundes, des Lebenspartners, eines Coaches oder eines Therapeuten. Dennoch gibt es in meinen Augen die Möglichkeit zur Selbstveränderung – ja sie ist der Angelpunkt, an dem jede Veränderung ansetzen muss […]. Jede Motivation von außen ist nur dann langfristig wirksam, wenn sie zur Selbstmotivation wird, und jede externe Belohnung muss schließlich zur Selbstbelohnung werden […]. Man kann sich durchaus ändern […]. Man sollte dabei in seinen Ansprüchen bescheiden und mit sich geduldig und zugleich in Hinblick auf das Erreichen der Ziele auf lange Sicht unbeugsam sein. Man kann es lernen, seine Impulse und seine Ungeduld zu zügeln, Durststrecken zu überstehen, sich selbst zurückzunehmen, selbstgenügsam zu werden, aber auch mehr Ehrgeiz, mehr Ordnung, mehr Pünktlichkeit zu entwickeln. Allerdings funktioniert all dies nur, wenn die eigene Persönlichkeit dies unterstützt. Die haben wir leider nicht in der Hand“ (Gerhard Roth S. 351 und S, 361 f.).
ham, 10. Februar 2020