Unterstützung für Eltern, deren Kinder früh nach Autonomie streben
Herausgegeben von Mathias Voelchert unter Mitarbeit von Knut Krüger
Kösel-Verlag in der Verlagsgruppe Random House, München 2020, ISBN: 978-3-466-31089-0, 190 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 22 x 14,2 cm, € 20,00 (D) / € 20,60 (A) / CHF 28,90
Der 1948 geborene und 2019 verstorbene dänische Familientherapeut, Gründer des Kepler Institute of Scandinavia im dänischen Odder und Autor zahlreicher Bücher zu Fragen der Erziehung und der Beziehungen in Familien Jesper Juul hat bei seinen Vorträgen und Workshops hunderte verunsicherte Eltern und Erzieher angezogen, auf jede noch so schwierige Frage überraschende und dann doch letztlich überzeugende Antworten gefunden und ist für alle Teilnehmer zum Ereignis geworden. Das Manuskript seines letzten Buchs über Kinder, die einen ausgeprägten Willen haben, selbst Stellung zu beziehen und eigene Entscheidungen zu treffen, hat er seiner tödlich verlaufenden Autoimmunerkrankung Transverse Myelitis abgetrotzt; sein Erscheinen hat er nicht mehr erlebt.
Juul geht wie in seiner 1996 erschienen Publikation ›Das kompetente Kind‹ davon aus, dass in Kindern schon bei ihrer Geburt alle wesentlichen sozialen und menschlichen Eigenschaften angelegt sind und Eltern ihre Kinder deshalb nicht formen wollen, sondern dafür sorgen sollten, dass sie ihre Talente frei entfalten können. Kinder brauchen nichts als die empathische Gegenwart von Erwachsenen und ihre dialogische, menschliche und soziale Begleitung. Das gilt auch für selbstbestimmte oder autonome Kinder. Selbstbestimmte oder autonome Kinder sind für ihn Kinder, die von Geburt an auf ihr Selbstbestimmungsrecht bestehen und dadurch ihre Eltern an ihrer Liebe und dem Wert ihrer Fürsorge zweifeln lassen. „Selbstbestimmte Kinder fordern […] das Recht ein, über ihre eigenen Belange Entscheidungen zu reffen. Sie scheinen nur selten daran zu zweifeln, was gut und was schlecht für sie ist, besitzen aber weder das Urteilsvermögen noch die Erfahrung eines Erwachsenen. Selbstbestimmte Kinder brauchen keine Wahlfreiheit, sondern das Recht, zu den Angeboten und Forderungen ihrer Eltern Nein sagen zu dürfen. Selbstbestimmte Kinder […] kämpfen um ihr Recht, eigene Entscheidungen zu treffen. Durch Belohnungen und Bestrafungen lassen sie sich nicht manipulieren“ (Jesper Juul S. 13).
Nach Juul merken Mütter oft schon in den letzten zwei, drei Monaten ihrer Schwangerschaft, dass sich diese von anderen Kindern unterscheiden, werden sich dieser Tatsache aber erst dann vollauf bewusst, wenn ihre Kinder als autonom bezeichnet werden. „Autonome Kinder werden fast immer mit einem ›fertigen‹ Körper und einem ›reifen‹ Gesichtsausdruck geboren. Eltern beschreiben oft, wie ihr Neugeborenes ihnen mit klarem Blick direkt in die Augen gesehen hat. Der Körper dieser Babys ist straff, zeigte bereits wohldefinierte Muskeln und keinen Babyspeck. Ihre Motorik ist der von Gleichaltrigen in den ersten 18 – 20 Monaten oft voraus. Ihr Verhalten ist von Beginn an äußerst spezifisch. Manche von Ihnen wollen nicht allzu viel Körperkontakt, machen sich nichts aus Kuscheln und Knuddeln […]. Fremden Erwachsenen gegenüber sind sie meist reserviert und weisen deren Kontaktversuche konsequent ab […]. Zu autonomen Kindern muss man zunächst einen Meter Abstand lassen und warten, bis man Blickkontakt zu ihnen bekommt. Dann kann man seine Hände vorstrecken und fragen: ›Ich würde dich so gerne auf den Arm nehmen, darf ich das?‹ Sollte die Antwort darin bestehen, dass das Kind den Blick abwendet, muss man das natürlich akzeptieren“ (Jesper Juul S. 14 f.).
Im Umgang mit autonomen Kindern sollten sich Eltern nach Juul fragen, was sie von ihren Kindern gelernt haben, ihnen empathisch gegenübertreten, so weit wie möglich die eigenen Grenzen und Bedürfnisse wahren, eine gleichwertige Beziehung aufzubauen und ihnen auf Augenhöhe begegnen. Sie sollten eine persönliche Sprache benutzen, auf sie hören, um sie zu verstehen und sie sollten daran denken, dass es nicht immer gelingt, sich verständlich zu machen.
Im Hauptteil antwortet Juul prägnant und klar auf Fragen, die ihm Eltern mutmaßlich autonomer Kinder brieflich gestellt haben, so auf die Fragen, ob man seinem Kind die Frustrationen ersparen soll, woher die Aggressionen des Kindes kommen und wie man Kindern erklärt, dass gewisse Dinge unumgänglich sind. In seinem Nachwort erinnert Mathias Voelchert unter anderem daran, dass das Thema Aggression für Jesper Juul stets von großer Bedeutung war. „Jesper Juul war der Ansicht, dass Aggression in vielen Lebenslagen notwendig und konstruktiv ist. Jedes Mal, wenn wir uns Ziele setzen und sagen ›ich will‹, brauchen wir Aggression als treibende Kraft. Gleiches gilt für die Fähigkeit, persönliche Grenzen zu setzen. In der Summe können wir nicht überleben, ohne Zugang zu den aggressiven Emotionen in uns zu haben und ohne in der Lage zu sein, sie so zu meistern, dass wir andere nicht beleidigen. Jesper Juul fügte hinzu, es dauere die ganze Kindheit, um den angebrachten Umgang mit eigener und fremder Aggression zu lernen. Was daran liegt, dass wir die aggressiven Emotionen erst physisch und dann verbal ausdrücken müssen, um uns selbst kennenzulernen. Nur so erhalten wir ein persönliches Feedback aus unserem Umfeld und können sie in unser Leben einfügen“ (Mathias Voelchert S. 182 f.).
ham, 27. Januar 2020