Siedler Verlag in der Verlagsgruppe Random House, München, 2019, ISBN 978-3-8275-0106-6, 432 Seiten, zahlreiche schwarzweiße Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 22 x 14,5 cm, 

€ 28,00 (D) / € 28,80 (A) / CHF 38,90

Über und von dem am 2. Januar 1870 in Wedel bei Hamburg als Sohn des Landarztes Dr. Georg Barlach und seiner Ehefrau Luise geborenen und am 24. Oktober 1938 in Rostock verstorbenen Bildhauer, Zeichner und Schriftsteller Ernst Barlach ist viel geschrieben worden; aber eine Biographie hat bisher gefehlt. Barlachs 150. Geburtstag scheint Gunnar Decker motiviert zu haben, diese Leerstelle zu schließen.

In seinem Prolog stellt Decker Barlach in ungewohnt hohem Ton als „Mann mit dem Totengräbergesicht“ und seine Schöpfungen als „erdschwer und schwebend zugleich“ vor, die in ihrer Intensität gefangen nehmen, „als handle es sich hier um die Wächterfiguren einer magischen Welt – so wie jene Balabanows, auf die er 1906 in der russischen Steppe stieß. Diese merkwürdigen Gestalten (riesige Götzen) sind Seher, die nach innen, nicht nach außen blicken. Melancholische Klage und sachliche Kampfansage zugleich gegen das alltägliche Sich-gemein-Machen mit dem Gewöhnlichen spricht aus ihnen. Wer sich mit unvollkommenen Verhältnissen […] arrangiert, hat es gewiss […] leichter. Ernst Barlach kann das nicht. Oft trägt er schwer daran, wirkt unter den Menschen stets eine Spur fremd. Vielleicht ist es das einzigartige Zusammenspiel von Nähe und Distanz, das ihn zum formstreng-opulenten Menschenbildner macht, zum Alchimisten gar, der meint, die Schöpfung der Elemente sei noch nicht beendet, mehr noch, sie sei in seine Hände gelegt? Barlach notiert dazu am 8. August 1911 in einem Brief […]: ›Tatsächlich ist mir seelisch der russische, der asiatische Mensch, der nur mystisch zu verstehen ist, verwandter als der typisch gebildete Zeitgenosse. Das Phänomen Mensch ist auf quälende Art von jeher als unheimliches Rätselwesen vor mir aufgestiegen. Ich sah am Menschen das Verdammte, gleichsam Verhexte, aber auch Ur-Wesenhaft, wie sollte ich das mit dem landläufigen Naturalismus darstellen!‹. Die Menschen, die Barlach zeigt, sind weder erlöst noch verdammt, sie befinden sich in einem spannungsreichen Zwischenzustand. Bestenfalls sind sie auf dem Weg der Erlösung, die nicht aus ihnen selbst kommen kann, aber die sie auch nicht von einem transzendenten Gott erwarten“ (Gunnar Becker / Ernst Barlach S. 11 f.).

Man fragt sich nach dieser Einleitung, ob sich Decker an Barlachs artifizieller Sprache abarbeiten und messen oder ob er mit der Person und ihrem Werk bekanntmachen will und ist froh, dass er in den späteren Kapiteln in einen gemäßigteren Schreibfluss findet. Von Barlach liegen neben seinen zwischen 1906 und 1938 entstandenen Briefen unter anderem die Dramen ›Der tote Tag‹ (1912), ›Der arme Vetter‹ (1917), das mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Drama ›Die Sündflut‹ (1924) und die posthum 1948 erschienenen Romane ›Seespeck‹ und ›Der gestohlene Mond‹ vor. Barlach ringt in seinem mehr für sich als für sein Publikum geschriebenen literarischen Werk wie in seinen Zeichnungen und Skulpturen um Sinngebung. Für Decker steht er in der Nähe mystischer Denker, nach denen Gott allein auf dem Grund der Seele geboren wird und Geist etwas ist, das funkengleich ausstrahlt, aber auch in der Nachbarschaft von Ernst Bloch, der in seiner Suche nach einem „Transzendieren ohne Transzendenz“ das Christentum atheistisch beerben will.

Barlach verbringt seine Kindheit in Schönberg (Mecklenburg) und Ratzeburg, studiert an der Dresdener Kunstakademie und erlebt die Geburt seines über alles geliebten Sohnes Klaus in Berlin. Er gewinnt den Rechtsstreit um das alleinige Sorgerecht und findet auf seiner Russlandreise im Jahr 1906 zu der von ihm lange gesuchte stringenten einfachen Form. Die ›Russische Bettlerin mit Schale‹ (vergleiche dazu http://www.ernst-barlach.com/barlach-pl-103-bettlerin-mit-schale.html) und der ›Blinde Bettler‹ (vergleiche dazu http://www.ernst-barlach.com/barlach-pl-100-blinder-bettler.html) entstehen unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Russland und werden 1907 auf der Frühjahrsausstellung der Berliner Sezession gezeigt. „Barlachs Figuren, die er jetzt schafft, sind auf erdnahe Weise einfach – und weisen dennoch auf eine metaphysische Dimension hin, die sie in sich tragen. Sie transzendieren! Barlach weiß, dieser doppelte Blick, den er hier in Material zu formen beginnt, birgt etwas Entscheidendes, das seine Arbeit bislang entbehrte: die Wucht des Menschlichen, die über sich hinaustreibt und allein durch die Form des Werks wieder eingebunden wird. So bildet sich die innere Spannung jener Figuren, an denen er nun arbeitet. Barlach dazu: ›Ich habe nichts verändert von dem, was ich sah, ich sah es eben so, weil ich das Widrige, das Komische und (ich sage es dreist) das Göttliche zugleich sah‹“ (Gunnar Decker / Ernst Barlach S. 83).

Ab 1907 zahlt ihm der Kunsthändler Paul Cassirer ein festes Jahresgehalt. In der Villa Romana in Florenz entstehen seine ›Sterndeuter I und II‹ (1909, vergleiche dazu http://www.ernst-barlach.com/barlach-pl-145-sterndeuter-1.html und http://www.ernst-barlach.com/barlach-pl-146-sterndeuter-2.html) und in Güstrow, das nun zu seinem Lebensmittelpunkt wird, unter anderem der ›Berserker‹ (1910, vergleiche dazu http://www.ernst-barlach.com/barlach-pl-153-der-berserker.html), das Güstrower Tagebuch, die Skulptur ›Das Wiedersehen‹ (1926; vergleiche dazu http://www.ernst-barlach.com/barlach-pl-390-das-wiedersehen.html) und der 1927 eingeweihte ›schwebende Engel‹, der an einer schwarzen Eisenkette unter dem Schlussstein einer Seitenkapelle des Güstrower Doms hängt (vergleiche dazu https://www.google.de/search?tbm=isch&sa=1&ei=ob8lXpriI9r6gAaR1484&q=barlach+schwebender+engel+g%C3%BCstrow&oq=barlach+schwebender+engel&gs_l

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1926 geht Paul Cassirer in den Tod. 1927 zieht Barlach zu seiner Lebensgefährtin Marga Böhmer. 1931 wird sein neues Atelier und Wohnhaus am Heidberg in Güstrow fertig, in dem der vormalige Ehemann von Marga  Böhmer Bernhard A. Böhmer, sein neuer Kunsthändler, mit seiner zweiten Frau leben wird. Mit dem Aufkommen der nationalsozialistischen Kunst- und Kulturpolitik beginnt der Streit um die Einordnung von Barlachs Kunst; seine Mahn- und Ehrenmale unter anderem in Magdeburg (vergleiche dazu http://www.ernst-barlach.com/barlach-pl-438-magdeburger-ehrenmal.html) und Güstrow Gerten in die Kritik und es kommt die Frage auf, warum Barlach sich mit seiner Unterschrift unter den ›Aufruf der Kulturschaffenden‹ von 1934 zu Hitler bekennt und dann doch 1936 mit seiner Skulptur ›Das Wiedersehen‹ und seinen 1935 im Piper-Verlag erschienen ›Zeichnungen‹ in der Münchener Ausstellung ›Entartete Kunst‹ vertreten ist. Diese Kapitel und die Kapitel über die Entfernung und Wiederaufstellung des Güstrower Engels und des Magdeburger Ehrenmals gehören zu den lesenswertesten des Bandes. 

Als Barlach 1938 stirbt, wird er in seinem Atelier in Güstrow aufgebahrt und einen Tag später in Ratzeburg, seiner alten Heimat beerdigt. Pfarrer Johannes Schwartzkopff, der den Auftrag für den ›Schwebenden Engel‹ maßgeblich initiiert hatte, erinnert bei der Beerdigung an Barlachs Figur des Bettlers (vergleiche dazu http://www.ernst-barlach.com/barlach-pl-442-der-bettler.html), „›den seine Krücken emportragen und der mit Augen, Mund und allen Sinnen geöffnet ist für die obere Welt‹. Ein Satz, der in allen Beteiligten nachklingt, lautet: ›Es gibt eine Verbundenheit ohne Worte – und es gibt sie durch sein Werk über das Grab hinaus‹“ (Gunnar Decker / Johannes Schwartzkopff S. 375).

ham, 20. Januar 2020

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